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1984

Zweiter Teil: Kapitel 4–6

Zusammenfassung

Es ist Juni und Winston hat das Zimmer über Mr. Charringtons Laden gemietet. Er setzt Kaffeewasser auf und wartet auf Julia. Im Hof unter dem Fenster hängt eine Frau Wäsche auf und singt ein Lied, das ebenfalls von einer Maschine in der Musikabteilung generiert wurde. Mit ihrer Stimme gesungen klingt es für Winston jedoch fast schön.

Winston denkt daran, wie Julia das Treffen auf der Waldlichtung wieder absagen musste und wie enttäuscht er deswegen gewesen ist. Das Verlangen nach ihr hat sich verändert und ist nun nicht mehr nur politische Rebellion, sondern hat sich in echtes Begehren und aufrichtige Liebe verwandelt.

Julia kommt ins Zimmer und bringt eine Tasche voll seltener Lebensmittel mit: Sie zeigt Winston Kaffee, Tee, Zucker und Milch, die eigentlich nur den Mitgliedern der Inneren Partei vorbehalten sind. Außerdem legt sie Make-up und Parfum auf, was für Winston erregend und faszinierend ist, weil Frauen aus der Partei diese Dinge nie benutzen. Die beiden lieben sich und schlafen ein.

Als sie wieder aufwachen, entdeckt Julia eine Ratte und wirft einen Schuh nach ihr, um sie zu verjagen. Winston gerät in Panik, denn Ratten sind seine größte Angst. Sie erinnern ihn an einen Albtraum, der ihn oft heimsucht: Darin steht er vor einer Wand aus Dunkelheit, hinter der er etwas Schreckliches vermutet. Er kann allerdings nie ausmachen, was es genau ist. Julia kocht Kaffee und Winston vergisst seine Angst. Als sie das Bild der Kirche an der Wand entdeckt, stellt sich heraus, dass auch sie einige Zeilen des Kinderreims kennt, den Charrington zuvor aufgesagt hat.

In Kapitel 5 verschwindet der Sprachwissenschaftler Syme, wie Winston erwartet hat. Die Stadt bereitet sich auf die »Hasswoche« vor: Es werden unter anderem ein Titellied mit einem marschierenden Rhythmus geschrieben und riesige Plakate mit der Gestalt eines eurasischen Soldaten aufgehängt. Fahnen werden genäht, Flyer gedruckt und auch in den Reihen der Proles wird zu Patriotismus angestachelt.

Währenddessen treffen sich Winston und Julia häufig im Zimmer über dem Altwarengeschäft. Dort fühlen sie sich sicher und glücklich. Winston geht es gesundheitlich besser: Sogar sein Krampfadergeschwür scheint zu heilen. Er erzählt Julia von O’Brien und sie teilt seine Ansicht, dass O’Brien vielleicht auf ihrer Seite sein könnte. Allerdings glaubt sie im Gegensatz zu Winston nicht an die Bruderschaft.

Winston interessiert sich für die Wirklichkeit der Welt, die die Partei so geschickt zu vertuschen versucht. Julias Interesse gilt jedoch nur ihrem eigenen Glück und den Freiheiten, die sie sich verschaffen kann. Der Beweis, den Winston 1973 entdeckte, beeindruckt sie nicht und auch der Wechsel des Kriegsgegners scheint ihr unwichtig. Winston schließt, dass es genau dieses Desinteresse ist, aufgrund dessen die Partei so mächtig sein kann.

In Kapitel 6 spricht O’Brien Winston auf dem Flur des Wahrheitsministeriums an und lädt ihn zu sich nach Hause ein. Dort soll sich Winston angeblich für seine Arbeit den Vorabdruck der zehnten Auflage des Neusprechwörterbuchs abholen. Winston meint, eine geheime Botschaft in dieser Aufforderung zu erkennen: Denn O’Brien erwähnt indirekt Syme, was eigentlich unzulässig ist, da Syme jetzt eine Unperson ist.

Winston deutet dies als Beweis für die Existenz der Bruderschaft. Er glaubt, durch O’Brien mit ihr Kontakt aufgenommen zu haben. Er weiß, dass er einen Prozess in Gang getreten hat, an dessen Ende das Ministerium für Liebe auf ihn wartet. Er fühlt sich wie ein Toter und sieht sein Schicksal als besiegelt an.

Analyse

In Kapitel 4 werden zum ersten Mal Winstons verborgene Ängste zum Thema gemacht. Wie so häufig bedient sich Orwell des Prinzips des Foreshadowings: Winston gerät in Panik wegen einer Ratte, die direkt unter dem Bild der Kirche hervorkriecht, hinter dem später der Telemonitor zum Vorschein kommen wird. Sein Traum von der Wand aus Dunkelheit wird eingeführt, wobei der Leser jedoch noch nicht genau weiß, was das bedeutet. Alles deutet auf die Ratten hin, doch Winston ist noch nicht bereit, diesen Schluss zuzulassen. Fürs Erste bleibt man im Dunkeln, was eine bedrohliche Atmosphäre und Spannung erzeugt. Die Ratte legt nahe, dass das neue Zuhause nicht sicher ist.

Durch das Mieten des Zimmers verändert sich etwas in Winstons und Julias Beziehung. Sie treffen sich häufiger und Winston gewöhnt sich an sie, entwickelt tatsächliche Zuneigung. Er gibt sich fast der Vorstellung hin, sie seien ganz normale Menschen, die als Mann und Frau frei zusammenleben (vgl. 193). Das Zimmer ist »eine Welt für sich, ein Schonraum der Vergangenheit, in dem längst ausgestorbene Tiere wandeln konnten« (202).

In diesem Sinne taucht auch wieder das Symbol des Briefbeschwerers auf. Orwell erklärt die symbolische Bedeutung selbst: Winston sieht in dem Glas die »Glasoberfläche der Himmelswölbung […], die eine winzige Welt mitsamt ihrer Atmosphäre umschloss« (198). Wie Plank es formuliert: »Die Welt und das Schicksal des Individuums können in der und durch die Glaskugel gesehen werden« (Plank 1983: 54f.). Man kann sie also mit allem füllen, was man möchte. Sie ist eine Reflexion des Selbst.

Winston hat den Eindruck, diese Welt betreten zu können und schon dort zu sein: »Der Briefbeschwerer war das Zimmer, in dem er sich befand, und die Koralle war Julias Leben und sein eigenes Leben, festgehalten für die Ewigkeit im Herzen des Kristalls« (ebd.). In diesem Glas bewegt sich nichts und genauso wünscht sich Winston, die Zeit mit Julia anhalten zu können. Es symbolisiert seine Zuflucht, genau wie der Raum über Charringtons Laden, genau zu der Zeit, als sich sämtliche Anstrengungen der Parteimitglieder auf die Hasswoche fokussieren. Die Partei bringt ihren Hass auf den Höhepunkt, während Winston seiner Menschlichkeit immer näher kommt.

Die Treffen mit Julia im Prole-Viertel sind wie eine Reise in die Vergangenheit, die ihn vom unterdrückten London entfernen: Nicht nur kennt sie einen weiteren Vers des Kinderreims über die Londoner Kirchen, auch schminkt sie sich und bringt ihm Schokolade, Tee und Kaffee.

Diese Lebendigkeit der beiden wird durch O’Briens Botschaft unterbrochen. Winston lässt sich in der Zeit mit Julia oft von ihr von dem Gedanken des bevorstehenden Todes ablenken. Nun interpretiert er O’Briens Botschaft jedoch als das, was sie ist: ein »Vorgeschmack auf den Tod« (215) und er fühlt sich, als würde er »in ein klammes Grab […] steigen« (ebd.).

Es ist auffällig, dass Winston trotz dieser Vorahnungen O’Brien nicht misstraut. Für ihn ist O’Briens Kontaktaufnahme ein direkter Beweis für die Existenz der Bruderschaft. Obwohl O’Brien noch keine aktive Rolle im Geschehen innehat, wird die besondere Beziehung zwischen Winston und ihm schon hier deutlich gemacht.

Veröffentlicht am 31. Juli 2023. Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2023.