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Im Westen nichts Neues

Interpretation

Aufgrund der realistischen Schreibweise und des weitgehenden Verzichts auf mehrdeutige poetische Äußerungen ist die Bandbreite an Deutungen relativ gering. Ein wesentlicher Streitpunkt war seit dem Erscheinen des Romans die Frage, inwiefern der Text politisch zu deuten ist. Insofern hängen die Interpretationsansätze eng mit der Rezeptionsgeschichte zusammen.

Ein unpolitischer politischer Roman

Es ist ein häufiges Phänomen, dass Literatur, die sich mit Zeitgeschichte und politischen Themen beschäftigt, stärker inhaltlich beachtet wird als unter literarischen Aspekten. So erging es auch dem Roman »Im Westen nichts Neues«, der nach seinem Erscheinen zunächst als authentischer Erlebnisbericht wahrgenommen wurde. Ein Kriterium zur Beurteilung von Literatur war zu dieser Zeit, dass sie »wahr« sein sollte, wobei die unterschiedlichen politischen Lager »Wahrheit« jeweils anders definierten.

An den vielen Rezensionen, die zu Remarques Roman erschienen sind, zeigte sich, dass viele vor allem die realistische Darstellung des Krieges begrüßten. Als populärer Text, mit dem viele sich aus eigener Erfahrung identifizieren konnten, kann er als »Teil des nationalen kulturellen Gedächtnisses« (Schneider c, S. 89) und als der »Zugangstext zum Ersten Weltkrieg« (ebd.) verstanden werden. Nicht nur für deutsche Leser, unter anderem auch englische, französische oder russische Leser, also die ehemaligen Kriegsgegner, fühlten sich von Remarques Darstellung angesprochen und hatten das Gefühl, dass in »Im Westen nichts Neues« etwas zum Ausdruck gebracht wurde, was sie selbst nicht in Worte fassen konnten.

Die Aussage von Remarque, der Roman sei unpolitisch, ist zwar in der Hinsicht zutreffend, dass keine parteipolitischen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht werden und nicht auf die Kriegsstrategie o. Ä. eingegangen wird, zugleich ist er aber auch hochpolitisch, denn er wurde von Beginn an als bedeutender Antikriegsroman wahrgenommen, als der er auch heute gilt. In der damaligen Zeit führte das zu Problemen, denn die Darstellung des Krieges als grausam und sinnlos wurde als liberal-demokratische politische Positionierung aufgefasst. Da dies nicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprach, die zu dieser Zeit in Deutschland immer einflussreicher wurde, wurde Remarque stark angefeindet, sodass er Anfang der 1930er-Jahre ins Exil ging.

Ein Akt der Befreiung

Ein weiterer Ansatz, den Roman zu interpretieren, ist der, ihn als »Akt der Befreiung, als selbsttherapeutische[n] Versuch« (Schneider d, S. 218) Remarques zu verstehen. In einem Interview hatte Remarque davon gesprochen, dass er unter Depressionen leide und festgestellt habe, dass die eigenen Kriegserlebnisse dazu geführt hatten. Das Schreiben über diese Erlebnisse kann also als Verarbeitung des Erlebten interpretiert werden. In der Forschung wird jedoch angezweifelt, dass Remarques öffentliche Aussagen zur Entstehung des Romans korrekt sind, da es Dokumente gibt, die belegen, dass der Autor den ursprünglich deutlich politischeren Text nach Vorgabe des Verlags umgestaltet hat. Ursprünglich habe demnach nicht die menschliche Seite im Vordergrund gestanden, sondern die politische. Allerdings ist hier zu beachten, dass sich beide Lesarten nicht ausschließen. 

Auch wenn ursprünglich nicht die allgemein-menschliche Kritik am Krieg im Vordergrund stand, kann eine Verarbeitung der eigenen Biografie eine Motivation zum Schreiben des Romans gewesen sein. Dies heißt nicht, dass der Protagonist Bäumer mit Remarque gleichzusetzen sei, sondern vielmehr, dass Remarque sich in literarischer Form mit Themen auseinandersetzte, die ihn aufgrund seiner persönlichen Erlebnisse beschäftigten. Ein Hinweis darauf, dass diese Lesart legitim ist, ist auch der Vorname Paul, den Remarque seinem Protagonisten gibt und der seinem zweiten Vornamen in seinem bürgerlichen Namen Erich Paul Remark entspricht.

Ein literarischer Text

Gerade weil das Thema politisch so bedeutend war und die Zeit der Weimarer Republik eine Zeit heftiger politischer Spannungen und Differenzen war, wurde zu Beginn die literarische Seite des Textes kaum beachtet. Während Remarque in der Zeit der Weimarer Republik und im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten geächtet war, wurde seine Literatur in der Nachkriegszeit aus anderen politischen Gründen, nämlich dem Vorbehalt gegenüber Exilliteraten, als »Trivialliteratur« (Schneider b, S. 553) abgetan. 

Aus diesem Grund und weil der Text einem Tatsachenbericht in vielen Aspekten ähnelt, fanden eine stilistische Untersuchung und literarische Würdigung erst spät statt. So wurde beispielsweise die Verbindung von realistischem und impressionistischem Stil so gedeutet, dass Remarque dadurch den unmittelbaren Eindruck, den der Protagonist durch ein Ereignis hat, an den Leser vermitteln wollte (vgl. Firda, S. 41–42).

Veröffentlicht am 2. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 2. April 2023.