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Der große Gatsby

Interpretation

Die 1920er-Jahre, der amerikanische Traum und sein Verfall

Obwohl die Handlung des Romans nur wenige Monate im Jahr 1922 umfasst, stehen die tieferen Themen sinnbildlich für eine gesamte Ära, nämlich die 1920er-Jahre in Amerika, besonders aber in New York. Gatsbys Streben nach einem Leben voller Luxus und Reichtum steht symbolisch für den American Dream, der jedem ermöglichen soll, es vom sprichwörtlichen Tellerwäscher zum Millionär zu bringen. Gleichzeitig zeigt das Ende des Buches aber auch den Zerfall des amerikanischen Traums inmitten einer Zeit voller Überfluss und eines nie zuvor dagewesenen Wohlstands.

Dieses Thema kann einerseits in Gatsbys viel zu frühem Ableben wiedergefunden werden, aber gleichzeitig auch darin, dass er, obwohl er unermesslichen Wohlstand erlangt hat, sein eigentliches großes Ziel, seine erste große Liebe wieder für sich zu gewinnen, trotzdem nicht erreicht hat. »Für eine Weile dienten […] Träumereien seiner Vorstellungskraft als Ventil« (S. 123), und Gatsby baute in seinem Kopf ein Wolkenschloss auf, das er mit seinen Wünschen und Zielen füllte. Dann, als er Daisy kennenlernt, die für ihn die wahrgewordene Verheißung von Reichtum und Eleganz darstellt, nimmt sie den Platz in seinem Kopf ein. Fünf Jahre lang arbeitet er mit legalen und auch kriminellen Mitteln darauf hin, eines Tages gut genug für sie zu sein, und gerade, als sich sein Traum zu erfüllen scheint, lässt Daisy ihn wieder fallen und entscheidet sich, bei ihrem Ehemann Tom zu bleiben.

Tom lässt sich in seiner überheblichen und arroganten Art kaum von Gatsby aus der Ruhe bringen, und obwohl Daisy zugibt, ihn zu lieben, sieht er Gatsby nicht als Konkurrenz. »[D]er Teufel soll mich holen, wenn Sie’s damals auch nur bis auf eine Meile in ihre Nähe geschafft haben, es sei denn, Sie hatten an der Hintertür Einkäufe abzuliefern« (S. 160), wirft er Gatsby an den Kopf, als der Streit um Daisy eskaliert. Tom, der aus einer Familie des alten Geldadels stammt und auf der besser betuchten Seite des Ufers, in East Egg wohnt, wo diejenigen leben, die schon seit Generationen reich sind, hält nichts von Gatsby und ist von Anfang an misstrauisch gegenüber seinem Reichtum. »Viele von diesen Neureichen sind bloß große Nummern im Alkoholschmuggel« (S. 133), ist sich Tom sicher. Obwohl man nicht erfährt, wie seine eigene Familie ihr Geld verdient, rümpft Tom bei dem Gedanken an die »Neureichen« aus dem West Egg die Nase.

Trotzdem sammelt sich gerade dort, auf Gatsbys verheißungsvollen, glitzernden Partys, die gesamte New Yorker Oberschicht, um sich zu vergnügen. Die hemmungslose Gier nach Geld, das ungezügelte Feiern und die morallose Lebensart ohne Rücksicht auf Verluste zeigt sich besonders stark nach Gatsbys Tod, als Nick verzweifelt versucht, wenigstens ein paar der unzähligen Menschen zusammenzutrommeln, die auf Gatsbys Partys ein und ausgingen, aber er entweder niemanden erreicht oder niemand sich für den Tod des großen Gastgebers interessiert. Wie die Motten sind die vielen Menschen nun weggeflogen, als wäre die Anziehungskraft verloren gegangen, jetzt, da das helle Licht – sinnbildlich in Gatsbys stets hell erleuchtetem Anwesen dargestellt – mit seinem Tod erloschen ist.

»Fitzgeralds Roman bleibt daher in einem Zustand der Schwebe: Er ist Komplize des Traums wie auch der Traumzerstörung. Er demythisiert und remythisiert ein Begehren, dem sich der amerikanische Traum verdankt und in dem sein Scheitern immer schon enthalten ist« (Zapf 268). Der amerikanische Traum, wie Gatsby ihn träumte, baut sich innerhalb der Erzählung also immer wieder auf und zerstört sich selbst wieder.

Funktion von Raumstruktur und Geografie

Die Geografie der in der Erzählung vorkommenden Schauplätze nimmt eine wichtige Rolle ein, denn Fitzgerald schafft diese symbolbehafteten Orte, indem er einen Raum schafft, »dessen Figuren typisch und dessen Objekte und Landschaften symbolisch verdichtet sind« (Zapf 265). Zunächst einmal erfahren wir, dass Nick aus dem Mittleren Westen stammt, wo seine Familie, »wohlhabende Leute« (S. 11) seit drei Generationen leben. Auch am Ende der Geschichte, kurz bevor Nick wieder gegen Westen aufbricht, hat er wohlwollende, heimatverbundene Gedanken an den Westen. Auch, wenn er sein Zuhause mit einer scharfen, heftigen Frische in der Luft (S. 214), »schmutzig gelben« (S. 214) Zügen und Schnee verbindet, so scheint er im Osten nie so richtig angekommen zu sein.

Im letzten Kapitel fällt Nick etwas Entscheidendes auf: »Ich verstehe jetzt, dass dies letzten Endes eine Geschichte des Westens ist – Tom und Gatsby, Daisy und Jordan und ich, wir alle stammten aus dem Westen, und vielleicht herrschte in uns allen derselbe Mangel, der uns auf hintergründige Weise für das Leben im Osten untauglich machte« (S. 214-15). Obwohl der Osten mit seiner glitzernden Scheinwelt aus Glitzer und Glamour ein Leben voller Verheißungen und ohne Sorgen verspricht, so ist diese Welt letztlich doch nur das: ein schöner Schein.

An der Ostküste nahe New York selbst gibt es wiederum auch eine geographische Unterteilung des Ortes, nämlich in die beiden Distrikte East Egg und West Egg. East Egg steht für die alte Aristokratie, die wohlhabenden Familien des alten Geldadels, die sorgenfrei mit dem Bewusstsein aufgewachsen sind, dass ihre Zukunft gesichert ist. West Egg dagegen steht für die Neureichen, die Aufstrebenden, die gerade erst zu Geld gekommen sind, auch wenn es nicht von Dauer ist. Bevor Nick abreist, bemerkt er, dass die »meisten großen Villen am Ufer […] inzwischen verlassen« (S. 219) waren – der Wohlstand hielt also nicht lange.

Der moralische Verfall, die Schnelllebigkeit am Puls der Zeit, all das wird besonders in New York City deutlich, der Stadt, die von sorglosen Menschen der Oberschicht bevölkert ist. Der Mittlere Westen dagegen wird mit traditionelleren Idealen, mit moralischen Werten und Tugenden in Verbindung gebracht. 

Zwischen den beiden Gebieten East und West Egg und New York liegt das Tal der Asche, das von den einzig ärmeren Menschen in der Geschichte bewohnt wird. Der Ort wird als »fantastische Farm« (S. 33) beschrieben, »wo Asche wie Weizen gedeiht und sich zu Graten und Hügeln und grotesken Gärten auswächst« (S. 33). George Wilson, der dort Besitzer einer Tankstelle und Autowerkstatt ist, wird von seiner Frau betrogen, die ihren unterdrückten Ehemann verabscheut und sich durch ihre Affäre mit Tom Buchanan einen sozialen Aufstieg erhofft. Selbst die Autowerkstatt spiegelt den tristen Charakter des Tals der Asche wider: »Der Innenraum wirkte dürftig und kahl; nur ein einziges Auto war zu sehen« (S. 35). Auch George Wilson selbst scheint einer anderen Welt zu entspringen als der, die Nick gewohnt ist: Er wird als »kraftloser« und »blutarm[er]« (S. 35) Mann beschrieben, dessen Geschäfte nicht gut laufen.

»Gesten, Kleider, Interieurs, die Dinge, mit denen sich die dargestellten Personen umgeben und in denen sie sich ausdrücken, entfalten ihre detaillierte Bedeutung nicht […] durch breite und detaillierte Beschreibung, sie sind vielmehr Elemente einer Chiffrensprache, die ein Mehr an Wirklichkeit konnotiert, ohne es wirklich darzustellen« (Zapf 265). Fitzgerald schafft es mit diesen Symbolen, Orten und Gegenständen, eine Gesellschaft zu erschaffen, die »geographisch, gesellschaftlich und moralisch in Bewegung ist« (Zapf 265).

Liebe, Ehe und Loyalität

Die Liebe ist ein zentrales Thema in »Der große Gatsby«. Gatsby wird von seiner unerschütterlichen Liebe zu Daisy seit fünf Jahren getragen und kann durch sie seine anderen Ziele erreichen, nämlich Ruhm und Reichtum zu erlangen. »Sie hat Sie niemals geliebt, hören Sie? […] Sie hat Sie nur geheiratet, weil ich arm war und sie nicht länger auf mich warten wollte« (S. 159), erklärt Gatsby Tom. Gatsby entschuldigt Daisys Verhalten und erklärt, es sei lediglich ein »schrecklicher Fehler« (S. 159) gewesen, und sie liebe nur ihn. Es gibt keinen Hinweis darauf, ob Gatsby in den fünf Jahren, die er darauf hinarbeitete, endlich gut genug für Daisy zu sein, mit anderen Frauen zusammen war. Sein blinder Entschluss und das Festhalten an seinem Wunschtraum scheinen sich aber komplett auf Daisy fokussiert zu haben, und so scheint er, trotz all seiner Lügengeschichten um seine Herkunft und Biografie, einer der wenigen treuen Charaktere im Buch zu sein. 

Nick erfährt von Toms außerehelicher Affäre bei seinem ersten Besuch bei den Buchanans, als Jordan ihm das aufgeregte Geflüster Toms und Daisys hinter geschlossenen Türen erklärt. »Ich dachte, alle Welt wüsste es« (S. 25), erklärt ihm Jordan, und Tom nimmt diese Neuigkeit mehr oder weniger schockiert einfach hin. Tom selbst sieht in seiner eigenen Affäre nichts Falsches, regt sich aber umso mehr auf, als er von Daisy und Gatsbys Liebe erfährt. »Heutzutage spötteln die Leute übers Familienleben und die Familienbräuche, und als Nächstes werfen sie alles über Bord« (S. 158), erklärt er klagend, ohne sich jedoch Rechenschaft darüber abzulegen, dass sein eigenes Tun ebenfalls zum Verfall der Moral und den Problemen in seiner Ehe beiträgt.

Laut Gatsby hat Daisy Tom geheiratet, weil sie nicht länger auf ihn, Gatsby, warten wollte. Gleichzeitig zeugt ihre Ehe auch davon, dass die Oberschicht selten außerhalb ihres eigenen Standes heiratet. Am Tag vor ihrer Hochzeit ließ Daisy diese zwar beinahe platzen, als sie einen Brief von Gatsby erhielt und einen Zusammenbruch erlitt. »Sie fing an zu weinen – sie weinte und weinte« und wollte von Jordan, dass sie allen Gästen erklärte, sie habe es sich »umüberlegt« (S. 95). Doch trotz ihrer scheinbar großen Liebe zu Gatsby entscheidet sie sich für Tom: »Am nächsten Tag um fünf Uhr heiratete sie Tom Buchanan, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und ging mit ihm auf eine dreimonatige Reise in die Südsee« (S. 95). Sie entscheidet sich also gegen ihre eigenen Gefühle und für den Status und das Geld.

Obwohl sich Nick von Anfang an seiner hohen Moral rühmt, ist er auch nicht viel besser als die anderen. Er greift weder ein, als er Toms Affäre Myrtle kennenlernt und die beiden sogar in der Gesellschaft anderer offen zu ihrer Affäre stehen, noch drückt er irgendwie aus, dass er etwas Verwerfliches daran findet. Dass er Gatsby hilft, Daisy wiederzusehen, könnte man immerhin mit dem Umstand erklären, dass er die wahrhaftige Liebe zwischen den beiden sieht, die zwischen Daisy und Tom zu fehlen scheint. Obwohl Nick zu Beginn noch beteuert, er könne nichts mit Jordan anfangen, weil er noch in »Verwicklungen« steckte, die ihn »an zu Hause banden« (S. 74) und er noch regelmäßig Briefe an seine dortige Freundin schickt, so vergisst er diesen Umstand schnell und trifft sich trotzdem mit ihr. All diese Figuren, die sich nicht an ihre Treueversprechen halten, spiegeln mit ihrem Handeln den moralischen Verfall der Roaring Twenties wider. 

Veröffentlicht am 10. August 2023. Zuletzt aktualisiert am 10. August 2023.