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Effi Briest

Interpretation

Die Rolle des Chinesenspuks in »Effi Briest«

Ein zentrales Motiv in Fontanes Roman »Effi Briest« ist der Chinesenspuk, der sich von Effis Reise nach Kessin durch den gesamten Roman zieht. Der Chinese wird zum ersten Mal auf Effis Weg nach Kessin erwähnt, als Innstetten Effi von den exotischen Einwohnern Kessins berichtet. Er initiiert den Gedanken an einen Spuk, indem er sagt, es sei möglich, dass sie noch einen Chinesen haben, denn es habe einst einer in Kessin gelebt, der nun neben dem Kirchhof begraben liege. (Vgl. S. 42) Die Andeutung, dass der verstorbene Chinese womöglich noch in Kessin ist, ängstigt Effi.

Die ersten Auswirkungen dieser Geschichte werden bereits in Effis erster Nacht in Kessin deutlich, da sie schlecht schläft und Geräusche hört, als würde jemand im Obergeschoss tanzen. (Vgl. S. 49) Später erfährt Effi die Geschichte um den Chinesen. Das Haus der Innstettens hat zuvor dem Kapitän Thomsen gehört, der mit dem Chinesen befreundet war. Als Thomsens Nichte oder Enkelin – die genauen Umstände sind unklar – Nina heiratet, tanzt sie ihren letzten Tanz mit dem Chinesen und verschwindet daraufhin spurlos. Der Chinese stirbt rund zwei Wochen später und wird von Thomsen begraben. (Vgl. S. 77ff.) Die Geschichte lädt zu vielfachen Interpretationsmöglichkeiten ein. So kann Effis fehlende Nachfrage bei Gieshübler, was am Hochzeitstag wirklich vorgefallen sei – denn Gieshübler war dort zu Gast – so interpretiert werden, Effi »selbst sei die wieder ›aufgetauchte‹ Nina, die ›eigentlich‹ eine Nixe sei und nun, als Effi, den einst geliebten Chinesen suche«. (Müller-Salget 155) Gegen die Theorie spricht, dass Effi den Chinesen offensichtlich als gruselig empfindet. (Ebd. 154)

Der vermeintliche Spuk verfolgt Effi – zumal ihr Ehemann sich weigert, entsprechende Änderungen im Obergeschoss vorzunehmen, um die nächtlichen Geräusche zu unterbinden. Sein Desinteresse begründet sich in den Vorteilen, die Innstetten aus der Spukgeschichte zieht. So bemühte sich Innstetten bereits zu seiner Militärzeit, seine Kameraden mit Spukgeschichten zu ängstigen, um sich selbst interessant zu machen. (Vgl. Ebd.) Innstettens Intention besteht somit zum Teil darin, durch die Gerüchte über das Spukhaus, die in ganz Kessin kursieren, seine eigene Karriere weiter voranzutreiben. (Vgl. Grawe 114)

Weiterhin nutzt er den Spuk als Erziehungsmaßnahme gegenüber Effi. Innstetten benutzt die »Existenz des Spuks, die er mal leugnet, mal als möglich zugibt, als Drohung ihr gegenüber, als ›Erziehungsmittel‹, als ›Angstapparat aus Kalkül‹«. (Ebd. 113) Hierfür spricht ebenfalls seine Weigerung, das Haus so umzugestalten, dass seine Frau sich weniger fürchtet, da ihm somit sein Druckmittel entgleiten würde. Dies suggeriert Crampas und sicher ist, dass Innstetten kein großes Interesse zeigt, Effi in ihrer Angst zu beruhigen. Während Innstetten seine Frau dahingehend lenkt, dass sie sich nur moralisch einwandfrei verhalten müsse, um den Spuk zu vermeiden, »muss Crampas den Mythos vom spukenden Chinesen zerstören, um Effi zum Ehebruch zu befreien.« (Ebd.)
»Dass sie sich dann auf den Verführer Crampas einlässt, kann auch als eine Art Racheakt gegen den ›Erzieher‹ Innstetten verstanden werden.« (Müller-Salget 154)

Weiterhin kann der Spuk auch als Symbol für Effis unerfüllte Sehnsüchte interpretiert werden. Innstettens Mahnung, dass es reiche, sich moralisch einwandfrei zu verhalten, bewirkt genau das Gegenteil seiner Intention, »denn der Spuk trat ja gerade an [Effis] Bett, weil darin zu wenig Aufregendes geschah.« (Grawe 114) In Effi vereint sich der Wunsch nach Liebe und Zärtlichkeit mit dem Interesse an dem Aparten – der Chinese wird zum Symbol ihrer Sehnsüchte und sie fürchtet sich vor ihm, da ihr die Verwerflichkeit ihres Wunsches bewusst ist. Durch Innstettens Entfremdung und Crampas’ Annäherung sowie die Gespräche, die Effi mit beiden Männern über den Chinesen führt, »wandelt sich der Spuk zum Symbol ihres ehebrecherischen Vergehens.« (Ebd.)

Familienkonzepte in Effi Briest

Besonders interessant sind die von Fontane entworfenen Familienkonzepte. »Effi Briest« spielt im späten 19. Jahrhundert, welches große Veränderungen hinsichtlich des Familienkonstruktes hervorbrachte. »Die schichtspezifischen, feudal geprägten Familienkonzepte verschwimmen zunehmend, wobei sich das Bürgertum als größter Einflussgeber erweist.« (Schuchter 156)

Die Adelsfamilie des 19. Jahrhunderts bestand nicht nur aus der Kernfamilie im heutigen Sinne, sondern aus einer Hausgemeinschaft aus Eheleuten, Verwandten und Gesinde. So gehört im Haus der Briests beispielsweise auch Wilke mit zur Familie und wird als »Haus- und Familienfaktotum« bezeichnet. (Vgl. ebd. 156f.) Auch die Wertvorstellungen des Familienmodells ändern sich zunehmend.

    Das Prinzip der arrangierten Vernunftehe, das die Zukunft des Hauses und die Repräsentation nach außen hin sichern sollte, kollidiert mit dem romantischen Liebesideal des Bürgertums. Doch während der Adel mit seiner auf Öffentlichkeit ausgerichteten Repräsentationspolitik eine freiere Sexualmoral meist stillschweigend duldete und zelebrierte, solange die Eheleute ihrer reproduktiven und repräsentativen Verpflichtung für die Familie nachkamen, ist das romantische Liebesideal der bürgerlichen Kernfamilie nach innen gerichtet und der sexuellen Exklusivität verpflichtet. (Ebd.)

Hier stehen zunächst Herr von Briest und Geert von Innstetten im Kontrast zueinander. Briest vertritt hier den Standpunkt des Adels. Dies wird vornehmlich daran deutlich, dass er keinerlei Eifersucht auf Innstetten zeigt, der in ihrer Jugend um Luise von Briest warb und gegen den er nur aufgrund seines besseren Status gewann. Als Effi nach der Reaktion ihres Vaters auf den Besuch des ehemaligen Liebhabers seiner Frau angesprochen wird, wirkt diese vollkommen unbekümmert: »Der ist nicht so. Und dann kennt er ja doch die Mama. Er neckt sie bloß.« (S. 13) Herr von Briest ist es auch schließlich, der seine Tochter trotz der geltenden gesellschaftlichen Konventionen zurück nach Hohen-Cremmen holt, kurz bevor diese stirbt. (Vgl. Ebd. 157)
Obgleich auch Innstetten dem Adel angehört, verkörpert er den »preußischen Beamten par excellence«. (Schuchter 156) Damit bilden Effi und ihr Vater eine

    Opposition zu Frau von Briest und Innstetten, die beide für die Exekution strenger Regelsysteme eintreten. Das zeigt sich paradigmatisch an der Unterhaltung Briests mit seiner Frau, als dieser beschließt, Effi nach Hause zu holen. Während Frau von Briest auf der Bedeutung der Gesellschaft beharrt und ihren Anschluss nicht verlieren möchte, weist Briest indirekt auf die Heuchelei eben jener Gesellschaft hin: ›Und dann glaube mir, Luise, die Gesellschaft, wenn sie nur will, kann auch ein Auge zudrücken.‹ (Ebd. 157)

Dieses Spannungsfeld zwischen zwei Familienkonzepten mit unterschiedlichen Werten und Vorstellungen ist schließlich ein Grund für das Scheitern von Effis Ehe, die ihre Rolle als Baronin, Ehefrau und Mutter nicht mit ihren persönlichen Bedürfnissen nach Liebe, Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit vereinen kann. Somit gelingt es Effi nicht, sich in ihre neue Familie zu integrieren, wie es nach einer Hochzeit üblich wäre. Stattdessen hält sie auch in ihrer Zeit als Baronin und Mutter weiterhin an ihrer Herkunftsfamilie fest und identifiziert sich selbst als eine »von Briest« – nicht als »Effi von Innstetten«. (Vgl. Ebd.) »Wenn Effi auf ihre Familie referiert, meint sie damit ausnahmslos ihre Herkunftsfamilie. Innstetten, Effi und Annie wachsen nie als familiäre Einheit zusammen.« (Ebd.)

Besonders deutlich wird dies schlussendlich an Effis Tod. Da sie für ihre letzten Tage zu den Eltern heimkehren konnte, wird sie auch auf Hohen-Cremmen begraben – und somit an dem Ort, den sie als ihr Zuhause identifiziert. »Effis erster Auftritt erfolgt als eine von Briest und mit der Verewigung ihres Mädchennamens auf ihrer Grabplatte wird ihre Zugehörigkeit zu dieser Herkunftsfamilie für immer festgeschrieben.« (Ebd.)

Veröffentlicht am 4. Dezember 2023. Zuletzt aktualisiert am 4. Dezember 2023.