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Unter der Drachenwand

Interpretationsansätze

Drache und Drachenwand

»Unter der Drachenwand«: Der Titel des Romans ist mehr als nur eine geografische Einordnung. Schließlich ist, wie Geiger im Interview mit Sascha Feuchert sagt, in der Literatur »eine Gegend nicht geographischer Raum, sondern emotionaler Raum. Ich schreibe ja keine Reiseführer« (Feuchert, S. 96/97). Da die Drachenwand nicht nur im Text immer wieder genannt wird, sondern sogar titelgebend ist, kann man ihr also eine entscheidende Bedeutung als emotionaler Raum zusprechen. 

Betrachtet man die sprachlichen Bilder, mit denen sie verbunden ist, so lässt sich schließen, dass sie als Symbol für die ständige Bedrohung steht, unter der die Bewohner von Mondsee, insbesondere aber Veit, Margot und der Brasilianer, leben: »Die Drachenwand schaute schroff herüber« (S. 213), »ein über die klirrenden Wälder gereckter Schädel, der mit leeren Augen auf die Landschaft herabstierte« (S. 475). Bedrohungen gehen vom NS-Regime und seiner Geheimpolizei aus, für den Brasilianer ganz konkret von den Denunzianten im Ort. Bedrohungen für Veit sind einerseits die Wiedereinberufung, andererseits aber auch die Möglichkeit dauerhafter Beschädigung durch nicht verheilende Verletzungen und Angstattacken, außerdem das mögliche Ende der Beziehung mit Margot. Genau wie alle anderen Dorfbewohner sind alle drei außerdem durch Fliegeralarm und Luftangriffe bedroht.

Das Bild des Drachens kann darüber hinaus auch mit dem Drachen der Nibelungensage in Verbindung gebracht werden, die in der NS-Ideologie eine wichtige Rolle spielte. In der Sage hütet der Drache den Nibelungenschatz. Er gilt als unüberwindbar, bis er von Siegfried getötet wird. Auch die Drachenwand des Romans scheint unbezwingbar. Die Schülerin Nanni, die sich auf den Weg zum Gipfel macht, verunglückt darin tödlich. So steht das Gebirgsmassiv auch als Symbol für ein Gewaltregime, in dem jeder, der es damit aufnehmen will, umkommt. Ein neues Leben für Veit kann folgerichtig nur weit weg von Mondsee und dem Drachenwand-Panorama beginnen, und so heißt es ganz am Schluss seiner Aufzeichnungen: »Dann verschwand die Wand aus meinem Blick« (S. 476) – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass Veit die Wand zwar künftig nicht mehr sehen muss, sie aber genau wie Gewalt und Krieg weiterhin in der Welt existiert.

Schreiben als Bewältigung

Für Veit Kolbe ist das Aufschreiben seiner Erlebnisse, Gedanken und Gefühle – vor allem zu Anfang, als er noch nicht mit Margot zusammen ist – die einzige Möglichkeit, seine schlimmen Erlebnisse an der Front in irgendeiner Form zu verarbeiten. Auch seine Gedanken über die Bewohner von Mondsee, seine Einschätzungen der Kriegssituation und seine spätere Kritik am Regime vertraut er dem Tagebuch an. Vor allem aber geht es immer wieder um seine verlorene Lebenszeit, um die vielen Jahre, die er als Gefreiter der Wehrmacht vergeudet, während er in Friedenszeiten schon längst im Studium wäre, es vielleicht schon abgeschlossen hätte und in einen zivilen Beruf eingetreten wäre. Mit dem Niederschreiben seiner Wut und Verzweiflung ändert er zwar nichts an seiner äußeren Situation, findet aber ein Ventil für seine Emotionen und vergewissert sich ihrer zugleich auf diese Weise.

Auch bei seinen Hilfsdiensten für den Onkel muss Veit auf der Polizeistation als »Schreiber« tätig werden. Hier ist er jedoch nur Befehlsempfänger und bloßer Handlanger Johann Kolbes. Die Bedeutung des Tagebuchschreibens wird gewissermaßen in ihr Gegenteil verkehrt, wenn er nach dem Diktat des Onkels tippt. Die Inhalte des Diktierten spiegeln die Kälte und Eindimensionalität von Johann Kolbes Gedankenwelt; sie konterkarieren damit Veits persönlich gefärbte und sprachlich differenzierte Aufzeichnungen. Nicht von ungefähr geht meist irgendetwas schief, wenn Veit im Auftrag des Onkels tippen soll: »Jedenfalls spannte ich in die fünf Bögen das Durchschlagpapier teilweise verkehrt ein. Das passierte mir noch ein zweites Mal, und da entließ mich der Onkel mit einigen nicht sehr freundlichen Bemerkungen« (S. 73); »Dann musste ich mich beeilen, um beim Mitschreiben nicht den Anschluss zu verlieren« (S. 160).

»Absolute« Gewissheiten vs. persönliche Erkenntnisse

In Kapitel 26 geht Veits tödlichem Schuss auf den Onkel und seiner Rettung des Brasilianers eine wichtige Erkenntnis voraus. Schon im vorangegangenen Kapitel sagt Veit: »Der totale Krieg war ein totaler Betrug« (S. 345). Nun beobachtet er »die vom Unterlauf der Donau geflohenen Frauen und Männer« (S. 358), die inzwischen im Gewächshaus arbeiten, und gelangt zu der Erkenntnis, »dass es nichts Absolutes gibt, nichts Totales, Herkunft, Rasse, gesellschaftliche Stellung. Es lag nur an mir, hinüberzugehen« (S. 358). Darum kann er, der zu Beginn des Romans noch ehrlich sagt: »Die Partei war die Sinngebung meiner Jugend gewesen« (S. 135), aufgrund seiner Lebenserfahrung und seiner eigenen Beobachtungen auch zu eigenen Schlüssen kommen. Diese decken sich nicht mehr mit der Parteiideologie. Veit entwickelt sich vom naiven Anhänger Hitlers als Jugendlicher zu einem gereiften jungen Mann, der sich Rechenschaft über sein Handeln ablegt. Beide Aspekte gehören zu ihm, es gibt kein eindeutiges Schwarz-Weiß, und er gehört nicht zu jenen, die alles immer schon gewusst haben. 

Dies entspricht Arno Geigers Intention, moralische Grauzonen zu thematisieren, einen Gesellschaftsroman über das Dritte Reich zu schreiben: »[…] aber so ein komplexes gesellschaftliches Bild jetzt hier im Hinterland, ganz durchschnittliche Menschen, wo jetzt nicht Schafe und Böcke streng geschieden sind, ist keine Täter-Opfer-Konstellation. Das hat mich interessiert« (Gerk). Dabei richtet er den Blick mit der Figur Oskar Meyers dennoch sehr klar auf die Opfer. Seine Darstellung »durchschnittliche[r] Menschen« wie Lore Neff in Darmstadt, sein Verständnis für ihr Mitläufertum, für die menschlich vollkommen nachvollziehbare Konzentration auf das eigene Überleben, führt an keiner Stelle zu einer Täter-Opfer-Umkehr oder einer Beschönigung des Dritten Reichs.

Veröffentlicht am 28. Juli 2022. Zuletzt aktualisiert am 13. Oktober 2022.