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Unter der Drachenwand

Abschnitt 7 (Kapitel 29-34)

Zusammenfassung

Kapitel 29: Deutsche Einheiten auf dem Rückzug
»Deutsche Einheiten auf dem Rückzug drängten nach Budapest herein, die Stadt wurde zum Heerlager.« [Oskar Meyer]

Im Herbst 1944 weiß Oskar Meyer noch immer nicht, wo seine Frau und sein Sohn sind. Seine Lage ist ausweglos. Juden sind nun auch in Budapest entsetzlichen Schikanen ausgesetzt. Er beobachtet, wie ein jüdischer Mann auf der Straße totgeprügelt wird, ohne dass Passanten eingreifen. Freiwillig meldet er sich zum Arbeitsdienst, in der Hoffnung, so dem Tod zu entgehen.

Oskar wird mit anderen Arbeitern zuerst auf Viehwaggons, dann zu Fuß nach Österreich geschickt. Der Weg wird für viele zum Todesmarsch; wer nicht mehr weitergehen kann, wird erschossen. Bei der Übernachtung in einer eiskalten Baracke träumt Oskar von Wally und Georg. Er bittet sie um Vergebung, weil er sie nicht beschützen konnte.

Kapitel 30: So tauche ich wieder in den Winter ein
»So tauche ich wieder in den Winter ein, und mir fällt auf, dass ein kleiner Kreis Anstalten macht, sich zu schließen.« [Veit Kolbe]

Veit konstatiert, dass seine Aufzeichnungen vor fast einem Jahr im Lazarett im Saarland ihren Anfang genommen haben. Zusammen mit Margot feiert er Lilos ersten Geburtstag. Er ist erleichtert, weil man den Brasilianer für den Mörder seines Onkels hält, hat aber auch starke Schuldgefühle. Erneut muss er nach Wien, um seinen Gesundheitszustand prüfen zu lassen. Beim Abschied von Margot wird klar, wie eng die beiden einander inzwischen verbunden sind. Sie planen eine gemeinsame Zukunft und wollen auch nach dem Krieg zusammenbleiben.

Kapitel 31: Der Westbahnhof war dick verqualmt
»Der Westbahnhof war dick verqualmt von den Dampflokomotiven.« [Veit Kolbe]

In Wien übernachtet Veit bei seinen Eltern. Auch diesmal stehen ihm Erinnerungen an seine verstorbene Schwester vor Augen. Das Verhältnis zu seinem Vater ist unverändert angespannt. Es gibt nicht nur Auseinandersetzungen über Hitler und den Krieg. Vielmehr erinnert sich Veit auch voller Groll seiner Kindheit, in der er nie vom Vater gelobt und ermutigt wurde. Stattdessen wurde er stets zu noch besseren Leistungen angetrieben. Er verlässt das Elternhaus im Streit.

Bei der Musterung wird er für fronttauglich erklärt. Als seine Überredungsversuche gegenüber dem Arzt erfolglos sind, legt er Bestechungsgeld auf den Tisch. Der Arzt steckt es ein. Dennoch erhält Veit wenige Tage später seine Einberufung. Er ist außer sich vor Zorn darüber, dass er betrogen wurde und an die ostpreußische Front muss.

Kapitel 32: Seit es mit Margot
»Seit es mit Margot einen Menschen gab, mit dem ich mich aussprechen konnte und der mich ermunterte, zu meinen Ansichten zu stehen, hatte ich nicht mehr das Gefühl, Papa unterlegen zu sein.« [Veit Kolbe]

Veit fährt in die Kaserne Hainburg und übergibt Kurt Ritler Nannis Briefe. Sie unterhalten sich über Nanni. Veit schildert Kurt, wie sie ihn mit ihrem Mut beeindruckt habe. Dann sprechen sie über ihren bevorstehenden Fronteinsatz. Veit ist kritisch und hält Überleben im so gut wie verlorenen Krieg für das Wichtigste. Kurt gibt sich patriotisch, ist in Wahrheit aber von selbstmörderischem Fatalismus geleitet: Er würde für das Vaterland sterben. Auf der Rückfahrt trifft Veit auf eine Gruppe Zwangsarbeiter, die Gräben ausheben müssen. Einer von ihnen ist Oskar Meyer, was nicht explizit gesagt wird, der Leser aber aus Hinweisen schließen muss.

Kapitel 33: Ich saß auf dem Fensterbrett
»Ich saß auf dem Fensterbrett und hörte mir an, was Margot an Neuigkeiten zu berichten hatte.« [Veit Kolbe]

Vor seiner Abreise verbringt Veit die letzte Zeit mit Margot. Beide sind überzeugt davon, dass der Krieg bald zu Ende sein werde. Sie treffen Verabredungen darüber, wie und wo sie sich dann wiedertreffen wollen. Nach einem heftigen Streit mit der Quartierfrau suchen sie eine neue Unterkunft für Margot. Sie finden sie im Haus eines Metzgers, in dessen Betrieb Margot als Aushilfe arbeiten kann. Noch am selben Abend bezieht sie das neue, bessere Zimmer.

Kapitel 34: Wir warteten auf das Milchauto
»Wir warteten auf das Milchauto, es war sehr kalt geworden, anziehen musste man sich wie ein Nordpolfahrer.« [Veit Kolbe]

Am anderen Tag verabschieden sich Veit und Margot. Veit fährt mit dem Milchauto davon. Auf der Fahrt blickt er auf die Drachenwand hinter ihm und resümiert seine Zeit in Mondsee. Schon jetzt weiß er, dass sie ihn für sein ganzes Leben geprägt haben wird.

Analyse

Die letzten Kapitel berichten vom Ende des Krieges. Während dieses Ende für die Mehrzahl der Deutschen Hoffnung bedeutet, was in Veits letzten Briefen deutlich zum Ausdruck kommt, ist es für Oskar Meyer lediglich die letzte Station seines Martyriums. Deutsche Truppen auf dem Rückzug aus Russland besetzen Ungarn und bedrohen jüdische Menschen nun auch hier. Oskar überlebt den Weg zu einem Arbeitsdienst, auf dem viele andere »Arbeitswillige« erschossen werden; erst aus der Nachbemerkung erfährt man, dass er bei einem Transport ins KZ Mauthausen ums Leben kommt. Wie die genauen Stationen zwischen dem Arbeitsdienst und diesem Transport aussehen, wird nicht geschildert.

Veits Aufzeichnungen in Kapitel 30 ermöglichen eine konkrete zeitliche Einordnung des aktuellen wie des vorangegangenen Geschehens. Er stellt fest: »Meine ersten Tagebucheintragungen habe ich an einem Wintertag gemacht, im Lazarett im Saarland, fast genau vor einem Jahr« (S. 419).

Veit wird von schweren Selbstvorwürfen gequält, weil er seinen Onkel getötet hat, und begrüßt darum sogar seine erneute Beorderung nach Wien für eine weitere Nachuntersuchung: »In gewisser Weise war ich froh […], ich hatte das Gefühl, das Blut des Onkels zu riechen, wann immer ich mich umdrehte« (S. 420). Als er die Polizeistation aufsucht, um sich abzumelden, trifft er auf den Amtshelfer, dem er anmerkt, »dass er beim Onkel in die Lehre gegangen war« (S. 422): dieselbe Passivität, dieselbe Indifferenz, dieselbe Kälte. Der Amtshelfer kommentiert das Verschwinden des Onkels mit den lapidaren Worten: »Traurige Geschichte« (ebd.), verhält sich also Kolbe gegenüber genauso, wie dieser es noch vor Kurzem gegenüber der verschwundenen Nanni getan hatte. Veit hadert dennoch erneut mit seiner Tat: »[…] dass das Bild, das ich von mir hatte, nicht schöner geworden war dadurch, dass ich den Onkel erschossen hatte« (S. 423).

Er fährt aber fort mit den entscheidenden Worten: »Ich war mir aber sicher, dass bei dem Vorfall das Gute das Schlechte überwog. Und dieses Gefühl gewann allmählich an Stärke im leise fallenden Schnee, während ich nach Hause ging« (S. 423). Im Anschluss zitiert er noch einmal die Worte auf einem Plakat, das im Büro des Onkels hängt und die wichtigsten Fragen polizeilicher Ermittlungsarbeit auflistet: »Wen hat / wer / wann / wo / womit / wie / warum / umgebracht?« (ebd.)
Dieses Plakat mit dem Titel »Die Sieben Goldenen W« wird bereits im dritten Kapitel erwähnt (S. 37), als Veit den Onkel zum ersten Mal auf der Wache besucht und nicht ahnen kann, welche existenzielle Bedeutung die Frage nach dem Warum angesichts seiner eigenen Tat später noch für ihn haben wird.

Auf dem Weg nach Hainburg, wo Veit Kurt dessen Briefe an Nanni übergibt, fährt sein Zug an Carnuntum vorbei, einem römischen Heerlager, in dem Kaiser Marc Aurel Teile seiner »Selbstbetrachtungen« schrieb. Veit denkt darüber nach, nennt diese Aufzeichnungen »Selbstbeschwichtigungen […] inmitten des Irrsinns der von ihm geführten Kriege« (S. 444). Die Ankunft in Hainburg gibt ihm mit einer »an das Gemetzel von 1683 erinnernde[n] Gedenktafel«, also einer Erinnerung an den Türkenkrieg, weiteren Anlass zu seinen resignierten, hoffnungslosen Betrachtungen über die Menschheit und ihr nie endendes Morden: »Städte versanken, wurden wieder aufgebaut, Menschen wurden ermordet, einmal hier, einmal dort, einmal auf dieser Seite, dann auf der anderen, caramba« (S. 444). Dieselbe Resignation äußert sich auch in der Haltung des mittlerweile abgestumpft wirkenden Soldaten Kurt Ritler bei ihrem Treffen.

Auf dem Rückweg nach Mondsee trifft Veit auf eine Gruppe Zwangsarbeiter und sieht dabei Oskar Meyer in die Augen – freilich, ohne dass die eine Romanfigur weiß, wer die andere ist; allein als Leser kann man diese übergeordnete Perspektive einnehmen und Oskar an Wallys Halstuch erkennen, das er als letzte Erinnerung an sie umgebunden hat: »Der Grund, warum mein Blick an ihm hängenblieb, war ein buntes Halstuch, orange und hellblau mit ein wenig Grün, leuchtende Farben in all dem schmutzigen Grau. Als der Mann meinen Blick bemerkte, schaute er einige Sekunden zurück mit bohrenden Augen und voller Vorwurf« (S. 452).

Grausamkeiten aller Art kommen Veit nun, in den letzten Kriegsmonaten, immer häufiger zu Ohren, und die Deutschen wüten umso brutaler, je sicherer ihre Niederlage wird: »Der Vorgesetzte von Fritz Zimmermann erschoss an Ort und Stelle einen jüdischen Friseur, nachdem dieser ihn beim Rasieren geschnitten hatte« (S. 453). Veit denkt darüber nach, wie er reagieren würde, wenn er selbst zu einem Erschießungskommando eingeteilt würde und stellt fest, wie der Krieg alle Einordnungen und Bewertungen des zivilen Lebens verschoben hat: »[…] über so etwas nachdenken heißt, sich damit vertraut machen, das heißt, den Begriff von Normalität verändern, langsam in eine andere Normalität hinüberwechseln« (S. 454), und an späterer Stelle kommentiert er folgerichtig: »Aber selbst wenn es für mich nicht gut ausging, war mir das baldige Ende lieber als dieser […] alles Zivile aushöhlende Spuk, in dem das Schlechte in den Menschen immer deutlicher zutage trat, auch bei mir« (S. 462/63).

Veröffentlicht am 13. Oktober 2022. Zuletzt aktualisiert am 13. Oktober 2022.