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Narziß und Goldmund

Kapitel 1-2

Zusammenfassung

Der Roman beginnt mit der ausführlichen Beschreibung einer Edelkastanie, die nicht so ganz in ihr Umfeld passt. Sie stammt aus Südeuropa und wirkt daher fremdartig, von den Einheimischen wird sie dementsprechend misstrauisch beäugt. Der Baum befindet sich am Eingang eines Klosters in Mariabronn, in dem seit vielen Generationen junge Menschen ausgebildet werden. Manche von ihnen werden Mönche und bleiben dort, andere verlassen das Kloster nach Abschluss ihrer Ausbildung und beginnen ein Leben anderswo, in Handwerkshäusern oder auf Ritterburgen.

In jeder Generation von Mönchen und Schülern gibt es einen gewissen »Einzelnen und Besonderen« (S. 7), der sich von allen anderen abhebt und an den man sich selbst Generationen später noch erinnern wird. Auch jetzt gibt es zwei solcher Einzelner und Besonderer, einen älteren und einen jüngeren. Bei diesen handelt es sich um Abt Daniel und seinen Zögling Narziß, der aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung bereits selbst unterrichten darf. Diese beiden bilden das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Der gutmütige Abt Daniel wird von allen geliebt, aber von manchen Gelehrten für seine mangelnde Bildung belächelt. Der schöne und exzellent gebildete Narziß mit seinen hervorragenden Kenntnissen des Griechischen hingegen wird gerade von den Gelehrten sehr bewundert, von anderen aber auch beneidet; viele sind in ihn verliebt. Aufgrund ihrer besonderen Stellung stehen Abt und Zögling einander näher als dem Rest des Klosters.

Eines Tages gesteht der Abt seinem Zögling, dass er sich um ihn sorgt, weil er sich so sehr von seinen Altersgenossen unterscheidet und unter ihnen, vielleicht aufgrund seines Hochmuts, keine Freunde hat. Narziß empfindet seine Einsamkeit als nicht weiter problematisch; er glaubt, zum Klosterleben und den damit einhergehenden Ämtern bestimmt zu sein. Als Grund dafür sieht er seine Gabe, nicht nur seine eigene Bestimmung, sondern auch die anderer Menschen zu erkennen. Diese Gabe macht ihn zu einem geeigneten Mönch, Priester oder Abt. Narziß gibt dem Abt eine Kostprobe seiner Gabe, indem er jenen selbst analysiert. Der Abt reagiert freundlich darauf, weist Narziß aber auch wieder in seine Schranken.

Als ein neuer Schüler namens Goldmund ins Kloster aufgenommen wird, erweckt dieser mit seinen zarten und freundlichen Manieren sofort die Sympathie aller, auch die des Pförtners, des Paters und des Abtes. Goldmund nimmt nun auch am Unterricht von Narziß teil, der nur wenige Jahre älter ist als er selbst, und ist sofort eingenommen von dessen Schönheit und Liebenswürdigkeit. Trotzdem schläft er im Unterricht ein und wird daraufhin von seinen Klassenkameraden verspottet. Mit einem von ihnen gerät Goldmund in eine Rauferei, schlägt sich jedoch erstaunlich gut und gewinnt damit Ansehen unter den anderen Jungen. Narziß ermahnt Goldmund danach, nicht noch einmal handgreiflich zu werden.

Goldmund versteht sich zwar mit allen seinen Klassenkameraden sehr gut, freundet sich aber mit keinem von ihnen eng an. Die einzigen beiden, zu denen er sich wirklich hingezogen fühlt, sind Narziß und Abt Daniel, die er sehr bewundert. Denn auch Goldmund selbst hat vor, sein Leben dem Kloster zu widmen; zumindest ist das der Wunsch seines Vaters. Diese Bestimmung lastet wie eine Bürde auf Goldmund, ohne dass es irgendjemand bemerkt. Der Einzige, der etwas vom Leid des Jungen zu ahnen scheint, ist Narziß. Er hat in Goldmund einen Geistesverwandten entdeckt, dem ein ebenso besonderes Schicksal bestimmt ist, wie ihm selbst.

Während Narziß Goldmunds Charakter studiert, empfindet dieser eine tiefe Bewunderung für seinen Lehrer und bemüht sich, ein besonders aufmerksamer und gelehriger Schüler zu sein. Er will Narziß’ Aufmerksamkeit gewinnen, auch wenn ihn ein vages Gefühl nicht loslässt, dass eine gewisse Bedrohung von jenem ausgeht. Goldmund ist hin- und hergerissen, ob er sich mehr an der Gutmütigkeit und Demut des Abtes Daniel oder an der Scharfgeistigkeit von Narziß orientieren soll. Er kann sich nicht entscheiden, strebt beiden Idealen nach und leidet.

Goldmund glaubt fest daran, dass die Aufnahme ins Kloster sein ehrlicher, eigener Wunsch ist, und strengt sich an, sein Ziel zu erreichen. Nur macht er keine Fortschritte; er ist zerstreut und schläfrig, reizbar und zornig. Er passt einfach nicht hinein in seine Umgebung, erkennt es jedoch selbst nicht. Auch Narziß leidet. Er fühlt sich zu Goldmund hingezogen, will sein Freund werden. Aber er hält sich zurück, denn umgekehrt empfindet auch er Goldmund als eine Gefahr, die er aus seinem Leben fernhalten muss. Narziß hat sein Leben dem Dienst am Geist gewidmet und Goldmund stellt für ihn eine Verlockung dar, die ihn von diesem Dienst ablenken könnte.

Es vergeht ein ganzes Jahr und Goldmunds gesundheitlicher Zustand verbessert sich nicht; er ist noch immer schläfrig und unkonzentriert. Da spricht ihn plötzlich sein Mitschüler Adolf an und lädt ihn ein, mit ihm und ein paar anderen in der Nacht ins Dorf zu gehen. Goldmund weiß zwar, dass eine derartige Aktion den Regeln des Klosters widerspricht, sagt aber zu. Sie schleichen sich zu viert ins Dorf, klopfen an ein Haus und lassen sich von einer Bauernmagd Apfelmost reichen. Während sie mit ihr und einem jüngeren Mädchen beisammensitzen, Most trinken und dabei einige Zärtlichkeiten mit den Mädchen austauschen, beschließt Goldmund, nie mehr herzukommen – zwar genießt er den Ausflug, aber er fühlt sich auch an wie eine Sünde. Zum Abschied küsst ihn das junge Mädchen und der verwirrte Goldmund läuft eilig davon. So gern er auch bald wiederkommen will, er verbietet es sich.

Am darauffolgenden Vormittag erkrankt Goldmund. Narziß bemerkt es und bringt ihn ins Krankenzimmer. Goldmund weiß, woran er erkrankt ist: an seinen Versuchen, die Erinnerungen an den gestrigen Abend aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Was ihn nun zusätzlich krank macht, ist die Überzeugung, sich vor dem vornehmen Narziß blamiert zu haben. Narziß ist derweil zu einer gegenteiligen Überzeugung gekommen: Er und Goldmund haben Freundschaft geschlossen und werden füreinander da sein.

Analyse

Statt mit der Einführung der Protagonisten oder einem Element der Handlung eröffnet der Roman mit einer detaillierten Beschreibung des Klosters in Mariabronn. Diese Beschreibung wird sich als grundlegend für die Geschichte erweisen, da sie auf subtile Weise bereits früh einige Themen einführt, die auch später im Roman noch eine Rolle spielen werden.

Eines dieser Themen ist die Intellektualität: Das Kloster in Mariabronn wird als Ort der Wissenschaft präsentiert. Es hat sich dabei allerdings nicht einer bestimmten Fachrichtung oder Lehre verschrieben, sondern schätzt verschiedene Disziplinen und Traditionen gleichermaßen:

    Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, Einfalt und Verschlagenheit, Weisheit der Evangelien und Weisheit der Griechen, weiße und schwarze Magie, von allem gedieh hier etwas, für alles war Raum; es war Raum für Einsiedelei und Bußübung ebenso wie für Geselligkeit und Wohlleben; an der Person des jeweiligen Abtes und an der jeweils herrschenden Strömung der Zeit lag es, ob das eine oder das andere überwog und vorherrschte. (S. 7)

Im Kloster herrscht demnach angeregte Debatte und reger akademischer Austausch unter Gelehrten. Es ist ein Locus der Intellektualität und des Geistes, aber auch der Disziplin und Strenge.

Ein anderes der auf den ersten Seiten eingeführten Themen ist Fremdartigkeit: Die vor dem Eingang des Klosters stehende Edelkastanie wird als fremdartiger, »ausländischer Baum« (S. 6) bezeichnet. Sie ist »ein vereinzelter Sohn des Südens, von einem Rompilger vor Zeiten mitgebracht« (S. 6) und hebt sich damit sehr von ihrer Umgebung ab. Als Fremdling wird sie von den Einheimischen skeptisch beäugt. Im Laufe der Beschreibung nimmt der Baum fast schon menschliche Züge an: »ein zartgesinnter und leicht fröstelnder Gast aus einer anderen Zone«. Wir sehen einen Einzelgänger vor uns, der sowohl menschlicher als auch pflanzlicher Natur sein könnte.

Ein solcher menschlicher Einzelgänger trifft auch schon bald in Mariabronn ein. Bei seiner Ankunft im Kloster wird schnell deutlich, dass sich Goldmund von seinen Altersgenossen unterscheidet. Er scheint freundlicher und sensibler als die meisten von ihnen, seine Bildung ist nicht auf dem gleichen Stand wie die ihre, und er wird schnell erschöpft und müde. Es scheint, als sei Goldmund ebenso »zartgesinnt« und »fremd« wie die Edelkastanie – da passt es ganz hervorragend, dass er sich auch gleich nach seiner Ankunft mit dieser anfreundet (S. 13). Unter den Menschen jedoch findet er nicht wirklich Gleichgesinnte.

Narziß ist ebenso einzigartig und einzelgängerisch wie Goldmund; immerhin gehört er zu den »Einzelnen und Besonderen« (S. 7) seiner Generation. Er ist besser gebildet, schöner und vollkommener als alle anderen Gleichaltrigen, Freunde oder Vertraute hat er nicht. Dass sich Goldmund zu ihm hingezogen fühlt, scheint daher unvermeidlich: »und nun war da dieser erstaunlich junge Lehrer, ernst wie ein Gelehrter und fein wie ein Prinz, und mit dieser beherrschten, kühlen, sachlichen, zwingenden Stimme!« (S. 14)

Zwar sind die beiden jungen Männer von Grund auf verschieden, in ihrer Einzigartigkeit und ihrem Fremdsein gleichen sie sich jedoch sehr. »Aber die Gegensätze überspannte ein Gemeinsames: beide waren sie vornehme Menschen, beide waren sie durch sichtbare Gaben und Zeichen vor den andern ausgezeichnet, und beide hatten sie vom Schicksal eine besondere Mahnung mitbekommen.« (S. 17) So kommt es auch, dass Narziß und Goldmund sich zueinander hingezogen fühlen. Ihre Beziehung wird mit einem Vokabular beschrieben, das auch für eine Liebesbeziehung verwendet werden könnte. Goldmund »wirbt« um Narziß und dieser nimmt »brennend« an der Seele des Jüngeren teil (S. 18). Narziß will Goldmund durchs Haar streichen und ihm näher kommen.

Narziß und Goldmund bilden damit ein Gegensatzpaar, wie man sie nicht selten in Hesses Romanen findet. In »Unterm Rad« sind es Hans Giebenrath und sein Freund Hermann, im »Steppenwolf« sind es die zwei verschiedenen Persönlichkeiten von Harry Haller. Hans und Hermann sowie auch Hallers zwei verschiedene Persönlichkeiten scheinen unvereinbar, gehören jedoch eigentlich zusammen. Das Gleiche gilt für Narziß und Goldmund. So verschieden sie auch sein mögen, sie kreisen dennoch umeinander. Je mehr sie sich gegen die Anziehungskraft wehren, desto mehr treiben sie aufeinander zu. Als Außenseiter der Gesellschaft und notorische Einzelgänger sind sie vom jeweils anderen fasziniert und können nicht voneinander lassen. Dass sie Freundschaft schließen ist daher nur eine Frage der Zeit. Narziß’ Prophezeiung, dass er und Goldmund als Freunde füreinander da sein werden (S. 26), passt hervorragend in dieses Schema der Gegensätze. Als Gegensätze werden die beiden Freunde einander helfen und sich gegenseitig vervollständigen können.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.