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Narziß und Goldmund

Interpretation

Geist und Natur

Der Roman »Narziß und Goldmund« besteht aus einer Reihe an Gegensätzen: zwischen Narziß und Goldmund, zwischen den Mauern des Klosters und den umliegenden Dörfern, zwischen Intellekt und Sinnen, Wissenschaft und Träumerei. Alle diese Gegensätze laufen auf einen hauptsächlichen, alles überspannenden Gegensatz hinaus, jenen zwischen Geist und Natur. Dieser Konflikt zwischen Geist und Natur wird durch all die bereits genannten Gegensätze ausgedrückt und bildet damit das Hauptthema des Romans (Freedman, 109). Auch die Protagonisten selbst sind sich jenes Konflikts bewusst. Narziß ist derjenige, der ihn zuerst erkennt, und dementsprechend weist er Goldmund schon früh darauf hin: »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. (…)  Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker.« (S. 40) 

Narziß erklärt Goldmund, dass er selbst zur Welt des Geistes, Intellekts und der Wissenschaft gehört, Goldmund aber zur Welt der Sinne und Leidenschaften. Damit er wirklich zu sich selbst finden und zufrieden werden kann, muss Goldmund diesen Umstand akzeptieren. Er gehört laut Narziß nicht ins Kloster, sondern in die umliegenden Dörfer und in die Weiten der Natur. Von diesem Zeitpunkt an beginnt Goldmund, sein Leben zu hinterfragen, und tritt seine große Reise durch die Welt an, im Laufe derer er seine Existenz immer wieder überdenken und immer mehr zu sich selbst finden wird. Auch auf Goldmunds Reise spielt der Konflikt zwischen Geist und Natur eine große Rolle. Einerseits genießt er es gerade zu Anfang sehr, sich der neugefundenen Freiheit hinzugeben und erotische Erfahrungen zu machen; andererseits holt ihn allmählich auch eine gewisse Sehnsucht nach einem stetigeren und sesshafteren Leben ein. Er ist gefangen zwischen Triebhaftigkeit und Disziplin, Sinnen und Denken, Natur und Geist, und weiß lange keinen Ausweg. 

Kunst als Mediator

Goldmund sucht fast den ganzen Roman über nach einem Ausweg aus seiner Sinnkrise (der Zwiespalt zwischen Geist und Welt), und er findet ihn schließlich in der Kunst. Die Kunst wird zu einer Art Vermittlerin zwischen den beiden gegensätzlichen Sphären von Geist und Natur (Freedman, 109). Manche nehmen sogar an, dass die Kunst zu einer dritten, zwischen den beiden anderen vermittelnden Sphäre gehört, die der Seele (ebd.). Kunst dient Goldmund dazu, der Vergänglichkeit des Lebens entgegenzuwirken, indem er Vergängliches wie Personen und Sinneseindrücke in etwas Permanentes wie eine Skulptur verwandelt. Er will einen Kompromiss schaffen zwischen der Leichtigkeit der Sinnenwelt und der Schwermut der Ideenwelt und damit zwischen dem »Unsinn« und dem »Sinn«, also dem gedankenlosen Dahinleben der Träumer und Weltlichen und dem schwermütigen Grübeln derjenigen, die ihr Leben der Wissenschaft und dem Geist gewidmet haben.  

Goldmunds künstlerische Projekte zielen alle auf dieses eine Ziel ab. Wenn eine heilige Figur wie die des Johannes die Züge von Goldmunds Narziß annimmt, dann vereint dieses Bildnis eine Gestalt von höherer Bedeutung mit einer aus dem realen Leben. Goldmund will mit seinen Werken dem Menschenleben auf den Grund gehen und dessen tiefste Wahrheiten abbilden. Von seinen Figuren erhofft er sich: »Aber sie würden einmal stehen und dauern, er würde sie hinstellen, und ihre Gestalten, die ihm heute Liebe und Qual, Angst und Leidenschaft bedeuteten, würden vor den später Lebenden stehen, ohne Namen und Geschichte, stille, schweigende Sinnbilder des Menschenlebens.« (S. 194) Dasselbe versucht Narziss mit seiner Logik und Wissenschaft. Beide Freunde sind auf der Suche nach der Wahrheit des Lebens und dem Göttlichen. 

Der Ruf der Mutter

Als Goldmund seine lange Wanderschaft beginnt, folgt er dem »Ruf der Mutter.« Auf Anweisung von Narziß hin, lässt er zu, dass ihn seine verlorene Kindheit wieder einholt. Dementsprechend behandeln all seine frühen Frauenbekanntschaften ihn nicht so sehr als ihren Liebhaber, sondern vielmehr als ihr Kind; sie nennen ihn »Goldmündchen« (S. 65), »mein armer kleiner Junge« (S. 101) oder »Goldmündlein, mein Kind« (S. 66) (Lubich, 190). Von ihnen allen lernt Goldmund etwas über die Liebe oder das Leben in der Welt der Natur und in den Dörfern. Er lernt gewissermaßen eine neue Sprache von ihnen, wie er mehrfach betont, die sich weniger der Worte und vielmehr der Gesten bedient. »Man durfte nicht viel denken, man mußte alles kommen lassen, wie es mochte.« (S. 77) Die Sprache der Vernunft, in der Goldmund bisher im Kloster und mit Narziß kommuniziert hat, wird durch neue Formen der Kommunikation ersetzt. Diese sind sehr leicht zu erlernen: »Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt!« (S. 83) Anders als Fremdsprachen muss Goldmund diese neue Kommunikationsform nicht mühsam studieren, sondern eignet sie sich schnell und intuitiv an – wie ein Kind, das die Sprache seiner Eltern erlernt. 

Gewissermaßen holt Goldmund also mit dem Erlernen dieser neuen Sprache seine verlorene Kindheit nach. Zusätzlich dazu begibt er sich auf die Suche nach seiner verlorenen Mutter, sieht immer wieder ihr Gesicht vor sich und hört ihre Stimme. Schließlich findet er sie auch in dem Gesicht von Agnes, der er ganz am Ende begegnet, seiner letzten Liebhaberin: »Ihm schien, noch niemals habe die Liebe ihm so gestrahlt wie aus dieser Frau, deren hohe Gestalt und blonde lachende Lebensfülle ihn an das Bild seiner Mutter erinnerte, wie er es damals, als Knabe in Mariabronn, im Herzen getragen hatte.« (S. 205) Kurz scheint es, als habe sich Goldmund eigentlich nicht in Agnes, sondern in seine Mutter verliebt. Eine derartige Szene lädt geradezu zu Vergleichen seiner Geschichte mit der von Ödipus ein, dem griechischen Tragödienhelden, der seinen Vater umbrachte und seine Mutter heiratete. Denn auch Goldmund bringt schließlich im übertragenen Sinne seinen Vater um, indem er sich gegen seine Anweisungen und das Leben im Kloster entscheidet, und er verliebt sich in seine Mutter, indem er sie in Agnes wiederfindet. 

Diese Freudschen Assoziationen ergeben bei genauerer Betrachtung von Hesses Biografie und dem historischen Kontext des Romans sehr viel Sinn. Sigmund Freuds Psychoanalytik gewann um die vorletzte Jahrhundertwende herum immer mehr an Beliebtheit und wurde immer verbreiteter (Lubich, 190). Hesse selbst befand sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in psychologischer Behandlung bei einem Schüler von Carl Gustav Jung, der ebenfalls nach den Methoden der Psychoanalyse arbeitete (ebd.). In »Narziß und Goldmund« scheint es nun zeitweise, als übernehme Narziß die Funktion eines Psychotherapeuten, der Goldmund im Freudschen Sinne dazu auffordert, die Beziehung zu seiner Mutter wiederherzustellen und sich von der Unterdrückung durch seinen Vater zu befreien. 

 

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.