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Narziß und Goldmund

Kapitel 7-8

Zusammenfassung

Als Goldmund wieder aufwacht, sieht er, dass Lise sich zum Gehen bereitmacht. Sie erklärt ihm, sie müsse zu ihrem Mann zurückgehen, der sie schlagen werde, weil sie die Nacht nicht zu Hause verbracht habe. Goldmund empfindet Mitleid mit ihr und versucht, sie zum Bleiben zu überreden, jedoch ohne Erfolg. Lise läuft weinend davon, und Goldmund, der auch ein wenig Mitleid mit sich selbst in seiner eigenen Situation empfindet, schläft wieder ein.

Danach setzt er seine Wanderung fort und genießt die neugewonnene Freiheit: Er ist kein Schüler mehr, muss nicht ins Kloster zurück, die Welt gehört ihm. Goldmund beobachtet die Natur um ihn herum sehr aufmerksam und fühlt sich ihr so nahe, dass er sich sogar vorstellt, wie es wäre, ebenfalls zu einem Tier zu werden – es kommt ihm wie ein gar nicht so schlechtes Schicksal vor. Aus dem Wald will Goldmund allerdings trotzdem bald wieder herausfinden; er empfindet Einsamkeit und möchte wieder unter Menschen sein. Mitten in der Nacht fällt ihm schlagartig auf, dass er nun bereits zweimal seine Nachtgebete vergessen hat, und er holt sie hastig nach.

Allmählich fühlt Goldmund sich dem Wald und seinen tierischen Bewohnern immer tiefer verbunden, seine Zeit im Kloster hingegen kommt ihm unendlich lange her vor. Als er nach zwei Tagen aus dem Wald heraus auf eine Ackerlandschaft kommt, empfindet er dennoch eine gewisse Erleichterung. Bei einer Bauernfamilie findet er für eine kurze Zeit Unterschlupf; er hilft ihnen bei der Arbeit und sie belohnen ihn mit Nahrung. Am Abend verlässt Goldmund die Familie, verabredet sich jedoch mit der jungen Bäuerin, die sogleich Gefallen an ihm gefunden hat, noch einmal für die gleiche Nacht. Goldmund genießt sein neues, freies Leben sehr, ist allerdings nicht ganz und gar glücklich. Gelegentlich plagen ihn Schuldgefühle.

Es vergeht eine geraume Zeit, während der Goldmund immer weiter wandert. Auf seiner Wanderung verbringt er fast keine Nacht bei der gleichen Frau. Zwar gefällt ihm dieses Leben sehr, doch manchmal fragt er sich, warum keine von ihnen länger als eine Nacht bei ihm bleiben will und warum sie alle immer zu ihren Ehemännern zurückkehren, obwohl sie doch immerhin seinetwegen schon bereit waren, die Ehe zu brechen, und sie bei der Rückkehr zu ihrem Mann vor allem Gewalt erwartet.

Von jeder Frau, mit der er zusammen ist, lernt er etwas, entweder über die Kunst der Liebe oder über die Natur von Frauen und den Umgang mit ihnen. Er lernt, dass jede Frau anders ist und worin sich ihre Einzigartigkeit zeigt. Allmählich beginnt er zu glauben, dass dies vielleicht seine wahre Begabung sei. Goldmund fühlt sich wesentlich talentierter im »Spiel mit Frauen« als in »Latein und Logik« (S. 88). Nach ein paar Jahren begegnet er einem Ritter, der ihn einlädt, bei ihm am Hof zu verweilen, wenn Goldmund ihm im Gegenzug seine auf Latein verfassten Aufzeichnungen einer einstigen Pilgerreise korrigiert. Goldmund sagt zu.

Während seiner Zeit am Hof lernt er nicht nur Schießen und Jagen, sondern erobert auch mit kompliziertem und geschicktem Vorgehen das Herz von Lydia, der älteren der beiden Töchter des Ritters. Zuerst weicht sie dem um sie werbenden Goldmund mit klugen Antworten aus und erschwert ihm damit sein Unterfangen, aber da er mittlerweile gelernt hat, sehr schlagfertig und strategisch vorzugehen, gewinnt er sie letztendlich für sich. Von da an sehen sie sich täglich und Lydia ist die erste Frau, von der Goldmund sich nicht nur begehrt, sondern auch geliebt fühlt. Lydia sorgt sich darum, was aus ihm werden wird, wenn er den Hof des Ritters verlässt und wieder im Wald umherwandert. Ihr wäre es lieber, Goldmund kehrte in die sichere Umgebung des Klosters zurück. Ebenfalls ist sie besorgt, dass ihre Beziehung nicht mehr lange halten werde, wenn ihre Schwester und ihr Vater davon erfahren, und es graust ihr vor dem Gedanken, Goldmund würde weiterziehen und sie allein zurücklassen. Da schlägt er vor, gemeinsam mit ihr die Flucht zu ergreifen. Lydia aber weigert sich. Sie kann ihr Leben am Hof nicht zurücklassen.

Goldmund ist derweil überrascht, welche Macht Lydia über ihn ausübt, wie bereitwillig er alles für sie tut. Für sie gibt er sogar einige Zeit sein Bestreben nach Freiheit auf und stellt sich den komplexen Emotionen, die normalerweise nur sesshafte und bürgerliche Leute empfinden können. Gleichzeitig genießt er dieses emotionale Leid insgeheim auch ein wenig. In den Wochen, in denen er bei Lydia verweilt, wird Goldmund daher um vieles reifer als vorher.

Eines Nachts jedoch zerreißt etwas ihre Idylle: Lydias jüngere Schwester Julie, die ebenfalls in Goldmund verliebt ist, schleicht sich unangekündigt zu ihrer Schwester und Goldmund und verlangt, bei ihnen im Bett liegen zu dürfen. Ansonsten werde sie dem Vater von der Beziehung der beiden erzählen. Als sie alle drei nebeneinander im Bett liegen, wird Goldmund schlagartig die »Lächerlichkeit« (S. 106) seiner Liebe zu Lydia bewusst. Schon längst, findet er, hätte er sich wieder auf Wanderschaft begeben sollen. Nach dieser Nacht ist nicht nur Goldmunds und Lydias Beziehung, sondern auch die der beiden Schwestern zerstört. Lydia beschließt, ihrem Vater von allem zu erzählen (außer der Beteiligung Julies an der Geschichte). Der Ritter fordert Goldmund daraufhin auf, ihm in den Wald zu folgen, und befiehlt ihm zu verschwinden.

Analyse

Goldmund hat nicht nur das Kloster, sondern auch die ganze Welt, die mit dieser Institution verbunden ist, verlassen. Das, was Narziß als das Reich der Idee bezeichnet hatte, liegt nun hinter ihm. Stattdessen taucht Goldmund ein in die Welt der Träume und Sehnsüchte: »Zum erstenmal lag die Welt offen vor ihm, offen und wartend, bereit, ihn aufzunehmen, ihm wohlzutun.« (S. 75) Geist, Spiritualismus und Disziplin werden ersetzt von Natur, Sensualismus und Freiheit.

Die Nacht mit Lise hat ihn gewissermaßen in diese Welt initiiert. Auch wenn Goldmund nur wenige Stunden mit ihr verbracht hat, kommt Lise die Rolle eines Katalysators zu, der in dem gerade aus dem Kloster geflohenen jungen Mann Sehnsüchte und Verlangen freisetzt: »Wieviel Träume hatte ihm das fremde braune Weib erfüllt, wieviel Knospen zum Blühen gebracht, wieviel Neugierde und Sehnsucht gestillt und wieviel neue erweckt!« (S. 75) Durch Lise erfährt Goldmund, was ihn alles in der Welt jenseits des Klosters erwartet.

Dadurch ist er auch in der Lage, seine Erinnerungen an die im Kloster verbrachte Zeit erstaunlich schnell hinter sich zu lassen. Symbolisch dafür steht das Nachtgebet, das Goldmund bereits am ersten Abend in Freiheit vergisst, und ebenso auch am zweiten Abend. Zwar holt er die Gebete noch hastig nach, verschwendet aber nicht allzu viele Gedanken an sie.

Ein Motiv, an dem sich dieser Vorgang des Loslassens der einen und Eintauchens in die andere Sphäre sehr gut beobachten lässt, ist die Sprache. Gedanken, Worte und Kommunikation stehen für all das, was Goldmund hinter sich gelassen hat. Im Kloster wurde viel debattiert und gesprochen, auch Goldmunds Beziehung zu Narziß bestand hauptsächlich aus intellektuellen Schlagabtauschen. Bei seinem Eintritt in die Natur stellt Goldmund allerdings schnell fest, dass ihm vernünftige Gedanken und Gesprochenes hier nicht viel weiterhelfen werden: »Man durfte nicht viel denken, man mußte alles kommen lassen, wie es mochte.« (S. 77) Weiterhin wird die Sprache der Vernunft, in der Goldmund bisher kommuniziert hat, durch neue Formen der Kommunikation ersetzt.

Eine davon ist die tierische Art der Kommunikation, also vor allem Gesten und Aktionen, die in Goldmunds Augen nun immer mehr an Attraktivität gewinnt (S. 79). Eine andere ist die von Menschen gebrauchte körperliche Sprache. In dieser kommuniziert Goldmund beispielsweise mit der Bäuerin, bevor sie miteinander schlafen, und stellt fest: »Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt!« (S. 83) Diese Sprache muss nicht gelernt werden, sie ist tief in Goldmund verankert und Teil seiner Natur. Anders als Fremdsprachen muss man sie nicht mühsam studieren, sondern beherrscht sie instinktiv und kann sie sofort gebrauchen. So kommt Goldmund auch immer mehr zu der Überzeugung, dass vieles, was er in der Natur vorfindet, von menschlicher Sprache gar nicht erfasst werden kann. Als er beispielsweise eine Blume betrachtet, überlegt er, dass selbst die Verse eines begnadeten Dichters wie Vergil die Schönheit dieser einfachen Naturerscheinung nicht übertreffen, ja nicht einmal ansatzweise imitieren könnten (S. 85).

Auf seiner Wanderschaft lernt er immer mehr über diese neue wortlose Form der Kommunikation. Über die Frauen, die Goldmunds Weg kreuzen, heißt es: »Jede ließ ihm etwas zurück, eine Gebärde, eine Art von Kuß, ein besonderes Spiel, eine besondere Art von Sichgeben oder Sichwehren.« (S. 87) Goldmund lernt also die Sprache der Liebeskunst, in der Worte keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch verschiedene Arten von Gebärden und Küssen. So setzt sich das Motiv der Sprache immer weiter fort. Auch Lydia gegenüber betont Goldmund die Nutzlosigkeit herkömmlicher verbaler Sprache: »Du zwingst mich, es dir mit Worten zu sagen; ich könnte es dir tausendmal besser sagen als mit Worten. Mit Worten kann ich dir nichts geben! Mit Worten kann ich auch nichts von dir lernen und du nichts von mir.« (S. 99)

Lydia allerdings, die aus einem gebildeten Haushalt stammt, lässt sich davon nicht wirklich nachhaltig überzeugen. Für sie ist Sprache einer der wichtigsten Wege, sich Goldmunds Hingabe und Liebe zu vergewissern – was sie auch immer wieder aufs Neue tut. Lydia ist deutlich fester in der Welt der Vernunft und des Geistes verankert als Goldmund, und daher wünscht sie auch, dass er ebenfalls in diese Welt zurückkehre. Ihr wäre es lieber, er fände zurück ins Kloster, als dass er heimatlos in der Natur umher wanderte.

Dieser Interessenkonflikt ist es auch, der letztendlich das Beziehungsende der beiden Liebenden herbeiführt. Goldmund, der für kurze Zeit sein Verlangen nach Freiheit zugunsten von Lydia und einer Heimat aufgegeben hatte, ist nicht mehr bereit, das noch länger zu tun. Lydia hingegen kann sich nicht vorstellen, ihre Heimat zurückzulassen. Goldmund entscheidet sich erneut für die Welt der Sinne und der Leidenschaften und gegen all die komplexen Überlegungen, die ein sesshaftes und bürgerliches Leben mit sich bringt. Lydia verweilt in der Welt der Disziplin und des Geistes.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.