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Narziß und Goldmund

Kapitel 11-12

Zusammenfassung

Es beginnt nun die fröhlichste und unbeschwerteste Zeit in Goldmunds Leben, wenngleich der wahre Grund für seine Niedergeschlagenheit lediglich verdrängt, nicht gelöst wird. Er lernt bei Meister Niklaus sowie bei einem Vergolder, bei dem er eine temporäre Unterkunft gefunden hat, das künstlerische Handwerk, und sein erwachendes Künstlertum ermöglicht ihm neue Empfindungen und Erlebnisse. Seine Arbeit fällt ihm leicht und macht ihm Spaß. Dennoch kritisiert Niklaus ihn gelegentlich aufgrund seiner Faulheit und Goldmund weiß sehr wohl, dass der Meister recht hat; er ist kein fleißiger oder zuverlässiger Mensch.

Einer der Gründe, weshalb Goldmund nicht so eifrig lernt, wie er es damals im Kloster getan hat, ist, dass er Niklaus nicht so sehr bewundert wie Narziß. Damals strengte er sich für Narziß an, lernte für ihn die Grammatik des Griechischen und alles andere, weil er ihn so sehr liebte. Dasselbe würde er für Niklaus nicht tun. An seiner Tochter Lisbeth hingegen findet Goldmund großen Gefallen. Niklaus scheint Goldmund allerdings die Kontaktaufnahme zu ihr zu erschweren. Lisbeths Schönheit und Hochmut haben ihn in ihren Bann gerissen, und der Wunsch, ein Bildnis von ihr anzufertigen, lässt ihn nicht los.

Goldmund hat nun bereits seit einem Jahr bei Niklaus gelernt und dabei große Fortschritte gemacht. In diesem Zeitraum hat er auch eine Skulptur von Julie sowie eine von Narziß (die er Jünger Johannes nennt) gebaut. An Letzterer arbeitet er mit besonderer Hingabe und Demut, das Bild formt sich beinahe von selbst. Auf diese Weise, findet Goldmund, entstehen die echten Kunstwerke, die frei von Eitelkeit und wahre »Seelenbilder« (S. 142) sind. Goldmund will nur noch solche Kunstwerke schaffen und beginnt, die kleinen Auftragsarbeiten, die er täglich erhält, und die Profession seines Meisters selbst zu verabscheuen.

Dennoch verbringt er drei Jahre bei Niklaus, in denen ihm sein Leben größtenteils wie Sklaverei erscheint. Die Kunst erfordert ein sesshaftes Leben und Goldmund muss einen großen Teil seiner Freiheit für sie aufopfern; er wird zu einem gereizten und berüchtigten Raufbold. In manchen Momenten sieht er noch immer den Sinn seiner Lehre, und zwar immer dann, wenn er an seinem Johannes- bzw. Narziß-Bildnis arbeitet.

Als diese Figur fertig ist, soll Goldmund den Meisterbrief erhalten, der ihm Eintritt in die Zunft der Künstler gewährt. Goldmund aber beschließt, zur Überraschung und zum Missfallen seines Meisters, sich wieder auf Wanderschaft zu begeben. Als er am gleichen Tag noch einmal die Madonna aufsucht, gerät er allerdings doch wieder ins Grübeln: Ob es sich vielleicht doch lohnt, sein Leben aufzugeben und es völlig in den Dienst der Kunst zu stellen, nur um irgendwann einmal ein derartiges Meisterwerk zu erschaffen?

Am nächsten Tag geht Goldmund nicht in die Werkstatt. Stattdessen treibt er sich auf dem Marktplatz herum, wo er entsetzt ist darüber, wie wenig die Menschen eigentlich über ihre eigene Welt nachdenken und wie wenig sie von ihr wahrnehmen. Manchmal, gibt er zu, geht es ihm wie ihnen, und er genießt das Leben in vollen Zügen. Aber dafür gibt es auch Phasen und Momente, in denen er aus dieser »faulen Seelenruhe« (S. 152) herausgerissen wird und stattdessen über die Abgründe des Lebens, das Leid und den Tod nachdenkt. Goldmund entscheidet sich, dass er dieses »Glück und die Sattheit der anderen« (S. 154) nicht für sein eigenes Leben will. Er sucht Niklaus auf und erklärt ihm, dass er zwar irgendwann ein solches Meisterwerk, etwas so Heiliges schaffen wolle wie dessen Madonna, aber er wolle nicht so leben wie sein Meister. Meister Niklaus zeigt Verständnis und deutet an, dass er andere Pläne für Goldmund hat.

Am Fluss philosophiert Goldmund über die gemeinsame Eigenschaft von Wasser und Kunst und kommt zu dem Schluss, dass beide die Fähigkeit besitzen, ein Geheimnis auszudrücken. Und das ist es auch, was Goldmund mit seiner Kunst erreichen will: Er will das Geheimnis der Urmutter, deren Gesicht immer wieder vor ihm aufblitzt und das ursprünglich einmal das Gesicht seiner eigenen Mutter war, in der Kunst verewigen. Die Urmutter fasziniert ihn, weil sie alle Gegensätze in sich vereinbart, Leben und Vernichtung. Irgendwann will er ein Bild von ihr anfertigen, und bis er dazu in der Lage ist, muss Goldmund sein Leben ihr widmen.

Plötzlich erscheint Goldmund sein bisheriges Leben sinnlos und leer. Er beschließt, wieder aufzubrechen und schlägt sogar Niklaus’ Angebot aus, von nun an, nach Goldmunds erfolgreich abgeschlossener Lehre, gemeinsam mit ihm in seiner Werkstatt zu arbeiten. Lieber will er sich auf Wanderschaft begeben. Niklaus reagiert wütend und gekränkt; er fordert Goldmund auf, so schnell wie möglich aufzubrechen – was Goldmund auch gleich am nächsten Morgen tut.

Analyse

Seit seiner Flucht aus der Burg des Ritters ist Goldmund zunehmend in einen seelischen Zwiespalt geraten. Einerseits genießt er das Leben in vollen Zügen und lebt seine Freiheit aus, so gut er kann. Andererseits fällt ihm jedoch immer mehr auch die Vergänglichkeit des Lebens auf, und wie sehr die meisten Menschen ihr Leben verschwenden. Diese beiden gegensätzlichen Empfindungen zeigen sich ganz besonders in Goldmunds Beobachtungen der Menschen auf dem Marktplatz.

Ihm ist bewusst, dass er große Teile seiner letzten Jahre genauso verbracht hat wie sie, in gedankenlosem Glück und Sattheit:

    Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. (S. 152)

Nun aber widert Goldmund diese Gedankenlosigkeit an, diese Ignoranz und das Verschließen der Augen vor den Tiefen und Abgründen des Lebens.

Wenn die »Selbstzufriedenheit« und die »faule Seelenruhe« für das Leben in der Welt der Natur und der Sinnlichkeit stehen, dann entspricht Goldmunds Grübeln über das Leid, den Tod und die »Zweifelhaftigkeit alles Treibens« der Welt des Geistes und des Intellekts. Seit er den Ritterhof verlassen und Viktor ermordet hat, oszilliert Goldmund zwischen beiden Sphären. Während er früher noch ausschließlich in dem Bereich leben wollte, den Narziß die »Sinnenwelt« nannte, zieht es ihn nun auch doch wieder ins tiefgründigere Reich der Idee und des Geistes. Während er zeitweise die Sprache und das Denken komplett aufgegeben und sogar für überflüssig befunden hatte, kehrt nun beides wieder zu ihm zurück.

Goldmunds bisheriges Leben erscheint ihm leer und sinnlos. Seine Interaktionen mit Frauen und all die erotischen Abenteuer haben ihren Reiz verloren. Goldmund empfindet keine Freude mehr daran, Frauen zu verführen oder bereits bestehende Affären aufrechtzuerhalten. Sogar die Tochter von Niklaus, Lisbeth, kann ihn am Ende mit ihrer Schönheit und ihrem verführerischen kalten Hochmut nicht dazu bewegen, zu bleiben – was vor einigen Jahren bei Goldmunds Ankunft noch sehr anders ausgesehen hätte.

Das Einzige, womit er gegen die Vergänglichkeit des Lebens anzukommen glaubt, ist die Kunst. So denkt Goldmund über das Bild, das er von Narziß anfertigt: »Nicht er war es, der da stand und aus eigenem Willen ein Bildnis schuf; vielmehr war es der andere, es war Narziß, der sich seiner Künstlerhände bediente, um aus der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit des Lebens herauszutreten und das reine Bild seines Wesens darzustellen.« (S. 141) Mit echter und wahrer Kunst (und damit sind nicht die Auftragsarbeiten gemeint, die Goldmund oft aufführen muss) lassen sich die Geheimnisse des Lebens zum Ausdruck bringen. Kunst hat, findet Goldmund, einen ähnlichen Effekt wie Wasser; sie kann, wenn ohne Eitelkeit ausgeführt, die tiefsten Wahrheiten des Lebens zum Ausdruck bringen und echte »Seelenbilder« erzeugen.

Das eine Seelenbild, welches Goldmund in seinem Leben noch kreieren will, ist das Gesicht der Urmutter. Denn die Urmutter vereint alle Gegensätze in sich, sie symbolisiert das Leben ebenso wie die Vernichtung. Mit einer Annäherung an sie könnte Goldmund seinen inneren Zwiespalt auflösen, der ihn zu zerreißen und in den Wahnsinn zu treiben droht. Die Kunst wird ihm dabei helfen: »In der Kunst und im Künstlersein lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur.« (S. 146) Bis er bereit ist, die Urmutter wahrheitsgetreu abzubilden, will Goldmund sein Leben ihr widmen und ihrem Ruf folgen. Es gibt ihm in seiner Desillusionierung und mit seinem neu gewonnenen, ihn plagenden Vergänglichkeitsbewusstsein ein Ziel, das die Leere in seinem Leben füllen könnte.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.