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Narziß und Goldmund

Kapitel 19-20

Zusammenfassung

Goldmund arbeitet zwei Jahre lang an seinem Kunstwerk. Ab dem zweiten Jahr wird ihm Erich als Schüler zugewiesen. Er geht ganz in seiner Arbeit auf, nimmt sich nur selten frei, und Narziß beobachtet ihn mit Freude und Erstaunen. Goldmund gesteht er, dass er früher die Kunst nicht so hoch geschätzt und gedacht habe, sie sei dem Denken und der Logik unterlegen, durch Goldmund aber seine Meinung revidiert habe.

Endlich wird Goldmunds vollendetes Kunstwerk ausgestellt. Er erhält Lob, man rühmt und ehrt ihn, er selbst aber kommt sich derweil sehr leer vor. Auch seine Werkstatt erscheint ihm leer und er beginnt bald seine nächste Arbeit, einen Altar für die Marienkapelle in Neuzell, die auch dem Kloster Mariabronn gehört. Dieses Mal verewigt er Lydia in dem Werk; sie wird zu Maria. Währenddessen hat Goldmund mit der Erkenntnis zu kämpfen, dass er allmählich älter wird. Nicht nur hat er inzwischen graue Haare und ein paar Falten, auch scheint er sich weniger wie ein Jugendlicher zu verhalten und wird dem Meister Niklaus immer ähnlicher. Er tröstet sich damit, dass er sich nach Abschluss der Lydia-Maria-Figur noch einmal auf Wanderschaft begeben wird.

Als die Lydia-Maria fertiggestellt ist, lobt ihn Narziß und erklärt, sie sei Goldmunds schönstes Werk. Nichts im Kloster komme ihr gleich. Goldmund bittet Narziß um ein wenig Geld und tritt dann tatsächlich voller Vorfreude (und ein wenig Abschiedsschmerz) seine angekündigte Reise an. Er verspricht aber, wiederzukommen. Narziß beschäftigt Goldmunds Abreise sehr und er beginnt, über sein eigenes Leben nachzudenken. Seit er Zeuge von Goldmunds Kunst geworden ist, erscheint ihm dessen Tätigkeit zeitweise sogar sinnvoller als seine eigene. Goldmunds Werke erreichen ein Maß an Lebendigkeit und Wahrheit, das ein Denker niemals erreichen kann. Sie zeigen das echte Leben, und dagegen kommt sich Narziß mit seiner Logik und dem Klosterleben arm vor. So wie Narziß früher in Goldmunds Leben eingegriffen hat, so bringt Goldmund nun ihn dazu, sein eigenes Leben zu überdenken.

Narziß vermisst Goldmund; er ist der Einzige, an dem er sich ernstlich messen kann, sein einziger wahrer Freund unter den Menschen im Kloster. Oft besucht er Goldmunds Atelier und die von ihm gebauten Figuren in der Kirche und stellt sich vor, was die Erinnerungen seines Freundes an diese Figuren sein mögen, nach welchen Vorbildern sie wohl geschaffen sind.

Am Ende des Sommers kehrt Goldmund ins Kloster zurück und sucht sofort seine Werkstatt auf. Allerdings sieht er kränklich, leidend und wesentlich älter aus als zuvor. Goldmund zieht sich für den Abend in sein Zimmer zurück und betrachtet sich im Spiegel: Trotz seiner gealterten Erscheinung gefällt er sich. Er findet, dass er zufriedener und gleichmütiger aussieht. Sein älteres Ich ist ihm weitaus lieber als sein Jüngeres. Auch Narziß, der ihn am nächsten Tag in seiner Werkstatt besucht, hat den Eindruck, dass Goldmund eine neue Gleichmut und Ergebung ausstrahlt. Es scheint ihm sogar, als sei dessen Seele gar nicht mehr wirklich in der Gegenwart, sondern weit fort in einer Traumwelt.

Goldmund gesteht Narziß, dass er gleich zu Anfang seiner Reise krank geworden sei, aber aus Scham nicht wieder hatte umkehren wollen. Seine Sprache hat sich sehr verändert, er spricht verwirrt und vergisst oft, was er sagen will. Goldmund erklärt, er wolle von nun an im Kloster bleiben, nicht mehr fortreiten, und Narziß gesteht ihm, wie sehr er ihn vermisst hat. Außerdem sagt er seinem Freund endlich, nach all den Jahren, wie sehr er ihn liebt und wie sehr dieser sein Leben bereichert hat. Goldmund sei seine einzige Liebe unter den Menschen gewesen. Goldmund ist sehr gerührt von Narziß’ Geständnis. Zwar hat er es schon lange gewusst, freut sich aber, dass es nun auch ausgesprochen ist.

Goldmund verkündet, es sei Zeit für ihn zu sterben. Die Natur, die Frauen und die Kunst haben ihn verlassen, das Sterben ist das Einzige, was ihm noch bleibt. Er sieht dem Tod entgegen und ist sogar neugierig darauf. Er glaubt, dass der Tod eine große Erfüllung für ihn sein und ihn näher zu seiner Mutter bringen wird. Nur sie kann ihn letztendlich in die Unschuld zurückführen. Er verrät Goldmund nun auch den wahren Grund für seine Reise: Er hatte damals gehört, dass Agnes zurückgekehrt sei. Er musste sie einfach aufsuchen. Als er sie aber antraf, wies sie ihn zurück, weil er ihr zu alt geworden war. Daraufhin ritt Goldmund davon, stürzte in eine Schlucht, wo er in einen Bach fiel und sich die Rippen brach. Während er im Wasser lag, hörte er endlich wieder die Stimme seiner Mutter. Sie war es, die seine Brust und Rippen geöffnet hatte und nun sein Herz aus ihm herausholen will. Für Goldmund fühlt sich sein Leid daher gar nicht schmerzhaft, sondern eher schön an, denn die Finger seiner Mutter haben sich um sein Herz geschlossen. Zuletzt verrät er Narziß noch seinen Traum, ein Bild dieser Mutter anzufertigen. Seit vielen Jahren ist es nun schon sein Ziel, der Sinn seines Lebens. Aber nun, da ihm diese Mutter sein Herz entnimmt, hat er das Gefühl, dass sie eigentlich gar nicht abgebildet werden will. Dieses Wissen macht ihm das Sterben viel leichter. Ohne die Mutter könne man nicht lieben und nicht sterben – und mit diesen Worten stirbt Goldmund.

Analyse

Das Verhältnis von Narziß und Goldmund hat sich komplett verändert. Statt dass es wie früher nur Narziß ist, der Goldmund belehrt, belehren sie einander nun gegenseitig. Der Jüngere hat von seinem älteren Freund in seinem Leben schon vieles gelernt. Er hat gelernt, seine eigentliche Natur zu erkennen und zu akzeptieren, hat die Erinnerungen an seine Mutter zugelassen und hat seine Bestimmung als Künstler gefunden. Nun aber lernt Narziß im Gegenzug auch von Goldmund, wie er ihm auch direkt sagt: »Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen.« (S. 247)

Durch Goldmunds Einfluss beginnt Narziß, auch sein eigenes Leben zu hinterfragen: »So wie er vor vielen Jahren einst erschütternd und mahnend in Goldmunds Jugend eingegriffen und sein Leben in einen neuen Raum gestellt hatte, so hatte seit seiner Rückkehr der Freund ihm zu schaffen gemacht, ihn erschüttert, ihn zu Zweifel und Selbstprüfung gezwungen. Er war ihm ebenbürtig; nichts hatte Narziß ihm gegeben, das er nicht vielfach wiederbekommen hätte.« (S. 256) Er ist sich nun bewusst, dass es mehr als einen Weg zur Erkenntnis gibt. Wahrheit über das Wesen der Welt, »das Geheimnis des Seins« (S. 248) und eine Annäherung an das Göttliche lassen sich nicht nur durch Logik und Intellekt, sondern auch durch die Sinne, also Kunst, erlangen. Nicht nur erkennt Narziß, dass Goldmunds Künstlertum genauso sehr seine Berechtigung hat wie die Wissenschaft, sondern er beginnt sogar, an seinem eigenen Leben zu zweifeln.

Goldmunds Kunstwerke sind »keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen, sondern echtes, erhöhtes Leben. Wie arm war er selbst dagegen mit seinem Wissen, seiner Klosterzucht, seiner Dialektik!« (S. 255) Weder Goldmunds noch Narziß’ Leben werden zu Vollkommenheit und zum »Geheimnis des Seins« führen, aber sie beide bemühen sich gleichermaßen und mit ähnlichem Erfolg, dem näher zu kommen.

Narziß’ und Goldmunds Beziehung ändert sich noch in einer weiteren Weise: Sie sind nun in der Lage, sich gegenseitig ihre Liebe einzugestehen. Goldmund wäre zwar schon immer dazu bereit gewesen, aber Narziß’ Stolz und die Angst, seinen eigenen Werten nicht treu zu bleiben und damit den Sinn seiner Existenz zu schmälern, hatten ihn bislang daran gehindert. Er hatte seine Liebe zu Goldmund als Gefahr gesehen, die sein Leben ins Wanken bringen könnte. Nun aber ist er in der Lage, Emotionen zuzulassen und Goldmund ganz direkt und aufrichtig seine Liebe zu verkünden.

Dadurch wird deutlich, wie sehr auch Narziß von seinem Freund gelernt hat. So wie er Goldmund dazu gebracht hat, sich vom Klosterleben abzuwenden, hat dieser ihm nun gezeigt, dass auch Liebe, Sehnsucht und Zuneigung in ein keusches, dem Geist und der Wissenschaft gewidmetes Leben passen. Nun ist Narziß auch in der Lage, Goldmund die Liebeserklärung zu machen, die er ihm eigentlich schon lange hätte machen können, und Goldmund erwidert: »Auch ich habe dich immer liebgehabt, Narziß, die Hälfte meines Lebens ist ein Werben um dich gewesen. Ich wußte, daß auch du mich gern hattest, aber nie hätte ich gehofft, daß du es mir einmal sagen würdest, du stolzer Mensch.« (S. 262) Er schafft es gerade noch rechtzeitig vor Goldmunds Tod.

Goldmunds Tod führt ihn zurück zu seiner Mutter. Das mag zunächst ein wenig seltsam erscheinen, ergibt im größeren Kontext des Romans aber sehr viel Sinn. Die Mutter, insbesondere die Urmutter, ist ein konstantes Motiv in der Handlung; Goldmund sieht ihr Gesicht immer wieder vor sich. Er findet sie in Niklaus’ Madonna, in Agnes und anderswo. Irgendwann erkennt er in ihr den Sinn all seiner Existenz. Sie ist es, die ihn antreibt, die ihn Angst, Hunger oder Liebe fühlen lässt. Die Mutter symbolisiert die Freisetzung von Goldmunds Trieben. Bevor er seine Erinnerungen an sie wiedergefunden hatte, war er eingesperrt und unglücklich. Seit er jene Erinnerungen aber zugelassen hat, ist er deutlich freier und erfüllter geworden. Daher widmet Goldmund ihr sein Leben.

Dass nun ausgerechnet er Narziß ermahnt, dass man ohne eine Mutter nicht lieben und sterben kann, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Narziß, der Lehrer, war es, der Goldmund, seinen Schüler, die Wichtigkeit der Beziehung zu seiner verlorenen Mutter erklärt hatte, und nun ist es plötzlich der Schüler, der seinen ehemaligen Lehrer daran erinnert. Goldmund und Narziß haben wahrhaftig beide voneinander gelernt.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.