Skip to main content

Narziß und Goldmund

Kapitel 5-6

Zusammenfassung

Goldmunds Erinnerungen an seine Mutter bestehen ausschließlich aus dem, was andere ihm über sie erzählt haben, allen voran sein Vater. Jener hatte seinem Sohn verboten, über die Mutter zu sprechen; sie war etwas, dessen man sich schämen musste. Sie stammte aus einer armen Familie, hatte Männer verführt und Ärgernisse erregt und war oft tagelang von zu Hause weggeblieben, bis sie schließlich ganz verschwunden war. Nach ihrem Verschwinden glaubte der Vater, er müsse Goldmund dazu erziehen, sein Leben Gott zu widmen. Nur so könne er die Schuld der Mutter sühnen.

Dies sind die Erinnerungen des Vaters an die Mutter, seine eigenen aber hat Goldmund verdrängt und lange Zeit vergessen. Nun kehren sie zurück. Davon erzählt er nun Narziß, der vor Kurzem sein Noviziat beendet hat. Ihre Beziehung ist seit dem letzten Vorfall deutlich inniger geworden; Goldmund empfindet Bewunderung für die Weisheit seines Freundes, weil er nun gemerkt hat, wie wahr dessen Worte waren. Goldmund hat sich Narziß’ Ratschläge zu Herzen genommen, und er hat in der letzten Zeit mehr zu sich selbst gefunden. Derweil ist Narziß traurig gestimmt; er ahnt bereits, dass Goldmunds weitere Suche nach sich selbst ihn vom Kloster, und damit von Narziß, wegführen wird.

Goldmund beginnt immer mehr, den »verlockenden Ruf« der Mutter zu hören und zu erkennen, dass er nicht für ein Leben im Kloster bestimmt ist. Währenddessen verliert er sich in Träumen über seine Mutter, in denen Teile seiner Kindheit zu ihm zurückkehren und in denen die Mutter häufig mit der Madonna und mit einer Geliebten verschmilzt. Manchmal fühlen sich diese Träume sündhaft an, manchmal erlösend. In dieser Traumwelt lebt Goldmund teilweise mehr als in der wirklichen, die ihm nun wie eine dünne, aus bloßen Bildern bestehende Oberfläche erscheint. Ein Gelehrter will er nun nicht mehr werden.

In dieser Zeit, als Goldmund mehr und mehr zu sich selbst zu finden beginnt, geraten er und Narziß in eine heftige Diskussion darüber, wie es mit ihrer Freundschaft weitergehen soll. Narziß glaubt, diese hätte nun ihren Zweck erfüllt; Goldmund hingegen will um jeden Preis dafür sorgen, dass sie auch weiterhin Freunde bleiben. Narziß aber verkündet, er wolle sich, bevor er seinen Dienst als Mönch beginne, für mehrere Wochen zu Fasten und Exerzitien zurückziehen. Er will seine Gaben und Eigenschaften bestmöglich in den Dienst der Gesellschaft stellen. Sie verabschieden sich voneinander und Narziß verspricht seinem jüngeren Freund, immer für ihn da zu sein, wenn er ihn braucht. In den Wochen danach zieht sich Narziß dann auch tatsächlich aus dem Klosterleben zurück, und auch Goldmund kommt es vor, als nähme er selbst gerade von allem Abschied.

Eines Tages wird Goldmund von Pater Anselm losgeschickt, um Johanniskraut zu sammeln. Er freut sich über den Auftrag; mehrere Stunden im Wald zu verbringen, ist ihm deutlich lieber, als in der Schule zu sitzen. Nach einer Weile schläft er im Sonnenschein ein. Als er wieder aufwacht, liegt sein Kopf im Schoß einer jungen Frau, die ihn mit einem Kuss begrüßt und sich ihm als Lise vorstellt. Kurz darauf fällt Goldmund auf, dass die Sonne schon tief steht und er zurück ins Kloster muss. Er verspricht Lise aber, nachts zu ihr zu kommen.

Nach seiner Rückkehr ins Kloster sucht Goldmund daher umgehend Narziß auf, den er in einer der Büßerzellen vorfindet, wo er seine langen Exerzitien ausübt. Goldmund verabschiedet sich von seinem Freund und sagt, er werde noch am gleichen Abend das Kloster verlassen. Das Leben selbst sei zu ihm gekommen. Narziß errät sofort, dass Goldmund sich verliebt hat, und dieser gesteht, dass Lise alle Sehnsucht geweckt hat, die in ihm geschlafen hat. Goldmund wird daher zu ihr gehen, auch wenn ihm bewusst ist, dass er vielleicht nur kurze Zeit mit ihr verbringen wird; er genießt das Gefühl, sich einer Frau hinzugeben. Narziß und Goldmund verabschieden sich mit warmen Worten voneinander.

Wenig später verlässt Goldmund das Kloster. Zwar ist es rückblickend nur eine »Scheinheimat« (S. 72) gewesen, aber dennoch fällt es ihm schwer; er hat diese Heimat sehr geliebt und auch lassen ihn die Erinnerungen an Narziß nicht los. Gleichzeitig ist sich Goldmund bewusst, dass er von nun an seinen Weg allein finden kann und seinen älteren Freund dazu nicht mehr braucht. Lise wartet bereits auf Goldmund und gemeinsam laufen sie in den Wald hinein, wo sie die ganze Nacht zusammen verbringen.

Analyse

In diesen Kapiteln passiert nun endlich das, was sich Narziß schon lange Zeit für seinen jüngeren Freund wünscht: Goldmund findet zu sich selbst. Er erkennt seine eigentliche künstlerische Natur und fängt an, seine Sinne stärker wahrzunehmen. Ebenfalls wird ihm klar, dass er eigentlich gar nicht für ein Leben im Kloster bestimmt ist, und dass das, was er bisher für seine eigenen Wünsche gehalten hat, lediglich die waren, die ihm von anderen auferlegt worden sind: »es war auch jenes gewisse Spielerische, Altkluge, Unechte in Goldmunds Wesen wie weggeschmolzen, jenes etwas frühreife Mönchtum, jenes zu ganz besonderem Gottesdienste Sichverpflichtetglauben.« (S. 51) Goldmund löst sich nach und nach vom Klosterleben. Narziß hatte also recht mit seiner Analyse, die er gleich innerhalb der ersten Wochen über den Jungen angestellt hatte – er ist kein Gelehrter, sondern ein Künstler.

Seit Goldmund das auch selbst erkannt hat, bessert sich sein Zustand kontinuierlich und er lässt endlich alles zu, was er bisher unterdrückt hat. Gewissermaßen begibt er sich in das, was Narziß zuvor als »Sinnenwelt« (S. 40) bezeichnet hatte. Es ist eine Welt der Träume und der Fantasie: »In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt.« (S. 54) Der kleinste Sinneseindruck reicht aus, um Goldmund zu Träumereien zu bewegen.

Dass Goldmund nun in der Lage ist, plötzlich in diese Welt einzutauchen und sich ihr fast vollkommen hinzugeben, liegt ebenfalls an Narziß. Dieser hatte ihm die Wichtigkeit seiner Kindheit und der Erinnerungen an seine Mutter vor Augen gerufen. Goldmunds Mutter steht symbolisch für das Sinnliche und Künstlerische. Sie ist genau wie Goldmund von seinem Vater unterdrückt worden, und dem Jungen wurden sämtliche Erinnerungen an sie ausgetrieben. Mit dieser Erkenntnis nimmt der Dämon, von dem Narziß vorher gesprochen hatte und der Goldmunds Persönlichkeitsentwicklung im Wege gestanden war, die Gestalt des Vaters an. Er hat Goldmunds Beziehung zu seiner Mutter unterdrückt und damit auch die künstlerische Persönlichkeit des Jungen.

Diese Analogie zwischen der Mutter und Goldmunds sinnlicher, künstlerischer Natur wird auch explizit hergestellt: »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wußte ich erst wieder, was Liebe ist« (S. 55). Die Mutter steht damit für das wahre, sinnliche Leben, dem Goldmund sich erst jetzt, wo er sich wieder an sie zu erinnern beginnt, hingeben kann.

In der Literaturwissenschaft werden an dieser Stelle häufig Parallelen zu den Theorien Carl Gustav Jungs gezogen (Lubich, 189ff). Diese bauen teilweise auf Freuds Psychoanalyse auf. Tatsächlich war Hesse auch selbst Patient bei einem der ersten Psychotherapeuten, die nach Jungs Konzept arbeiteten, und daher gut mit seinen Theorien vertraut. Dieser Interpretation nach nimmt Narziß nun die Rolle eines Psychotherapeuten ein, der Goldmund analysiert und ihn in die richtige Richtung leitet. Das stellt auch Goldmund selbst fest: »Du scheinst alles zu wissen«, sagt er zu Narziß, »Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind!« (S. 56)

Narziß übt seine Psychotherapie aus, indem er Goldmund dazu anregt, sein Unterbewusstsein zu erkunden und damit die vom Vater unterdrückten Erinnerungen an seine Mutter freizusetzen (ebd.). Dementsprechend lassen sich in der von Goldmunds Vater unterdrückter Zuneigung zu seiner Mutter auch Parallelen zu dem von Sigmund formulierten Ödipuskonflikt finden (ebd, 190). Diese Parallelen fallen ganz besonders dann auf, als Goldmunds Mutter in seinen Träumen mit der Figur der Madonna sowie der Geliebten verschmilzt. Sie steht damit auch stellvertretend für alle erotischen Triebe und Leidenschaften, die Goldmund bislang unterdrückt hat: »Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißende Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.« (S. 53)

Während Goldmund sich immer mehr in die Sinnenwelt der Träumer und Künstler begibt, zieht sich Narziß immer weiter in die Ideenwelt der Gelehrten und Geistlichen zurück. Beide Freunde schotten sich von der Gesellschaft des Klosters ab. Sie leben beide ihre Einzigartigkeit und ihr Einzelgängertum aus, wenngleich es sie in vollkommen unterschiedliche Richtungen treibt. Auch hier scheint Narziß mit seiner anfänglichen Analyse recht behalten zu haben: Die beiden Freunde sind Gegenpole zueinander und können sich gegenseitig dabei helfen, zu erkennen, was der richtige Weg für sie ist.

Als sie sich voneinander verabschieden, kehrt Narziß in die Kirche zurück, und Goldmund bricht auf in die Welt außerhalb des Klosters. Der eine betritt die Welt des Geistes und des Intellekts, der andere die Welt der Natur, der Leidenschaften und Sinne. Dazu passen auch Goldmunds Worte, das Leben selber sei zu ihm gekommen (S. 67). Lise hat all seine Sinne und Leidenschaften erweckt, die er so lange unterdrückt hat: »Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen.« (S. 68) Aufgrund der Begegnung mit Lise weiß Goldmund plötzlich, was er will – ein Leben außerhalb des Klosters, in der Natur. Er verlässt die Welt der Worte und des Intellekts und betritt stattdessen eine Welt, in der all das keine Rolle mehr spielt: »er hatte heut kein Bedürfnis mehr nach Worten oder Gedanken, nur nach Lise, nur nach diesem wortlosen, blinden, stummen Fühlen und Wühlen, nach diesem seufzenden Hinschmelzen.« (S. 72)

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.