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Narziß und Goldmund

Aufbau des Werkes

Der Roman ist in 20 Kapitel unterteilt, die jeweils ungefähr gleich lang sind. Die Handlung spielt sich auf zwei Ebenen ab, die parallel verlaufen und sich antithetisch zueinander verhalten: einerseits die innere Entwicklung Goldmunds, andererseits die äußerlichen Geschehnisse (Herforth, 54). Immer wieder wird zwischen einem auktorialen Bericht der Ereignisse und Schilderungen von Goldmunds Gedankenprozessen gewechselt (ebd).

Gerade Letzteres mag auch den Vergleich des Romans mit dem in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert sehr beliebten Bildungsroman herbeiführen, in dem der Protagonist traditionellerweise im Verlauf der Geschichte immer mehr über sich selbst und die Gesellschaft lernt und dabei den Weg zur Vervollkommnung findet. Auch ein Vergleich mit dem aus Spanien stammenden Genre des Schelmenromans, in dem ein pikaresker Held von seinen Abenteuern berichtet, liegt nahe. Denn im Laufe des Romans lernt Goldmund nicht nur immer mehr über sich selbst und was die beste Lebensweise für ihn ist (wobei er seine Ansicht hierzu oft revidiert), sondern erzählt auch von seinen erotischen und anderen Abenteuern. Wie im pikaresken Roman auch werden diese episodenhaft aneinandergereiht und ließen sich gut auch getrennt voneinander lesen; nur selten spielt eine Figur über mehrere dieser Episoden hinweg eine Rolle. Mit einer solchen episodenhaften Struktur erinnert der Roman auch an die ventiuren mittelalterlicher Ritterepen.

Aus diesen zwei sich abwechselnden und miteinander in Kontrast stehenden Erzählweisen ergibt sich eine Art Dialektik (ebd.), welche den Gesamtaufbau der Geschichte zusätzlich unterstreicht. Denn wie so viele Romane Hesses ist auch dieser ganz eindeutig dialektisch aufgebaut. Er besteht aus einer ganzen Reihe von Gegensätzen, die sich vom Anfang bis zum Ende durch die Geschichte ziehen und ihr damit eine klare Struktur verleihen: Geist und Natur, Wissenschaft und Kunst, Idee und Sinne, Göttliches und Weltliches, Väterliches und Mütterliches. All diese Gegensätze spiegeln sich in den beiden Polen, an denen sich Goldmund und Narziß zu positionieren versuchen.

Narziss verschreibt sich dem Geist, der Idee und dem Göttlichen. Dafür muss er sich in die völlig isolierte und keusche Umgebung des Klosters zurückziehen. Goldmund wiederum gibt sich den Sinnen, der Leidenschaft und der Kunst hin. Dafür muss er sich, anders als Narziss, in die Welt stürzen, in die Natur und unter Menschen. Nach und nach aber, je weiter die Handlung fortschreitet, löst sich der Gegensatz zwischen diesen beiden Polen auf. Goldmund seinerseits erkennt, dass er nicht nur in der Welt der Sinne und Natur leben kann, sondern auch an der Welt des Denkens und des Göttlichen teilhaben möchte. Ebenso erkennt Narziß, wenngleich etwas später, dass auch er nicht nur in einer der zwei Welten leben kann. Was am Anfang noch als unvereinbare Polarität erschien, stellt sich nun als vereinbare Dichotomie heraus. Ein Leben in Harmonie mit beiden Welten ist möglich und wahrscheinlich sogar notwendig. Der dialektische Aufbau des Romans spiegelt sich auch auf sprachlicher Ebene wider, wie im Abschnitt »Sprache und Stil« näher erklärt wird.

Weiterhin ziehen sich einige Leitmotive und Symbole durch den Roman. Auch das ist sehr charakteristisch für Hesse, dessen Romane sich häufig zahlreicher Motive und Symbole bedienen. In »Narziß und Goldmund« finden sich unter anderem folgende:

  • Das Kloster und die Wälder/Dörfer: Diese »Orte« stehen stellvertretend für die beiden Sphären, denen sich die Protagonisten verschrieben haben, die des Geistes und der Wissenschaft und die der Sinne und Leidenschaften. Goldmunds Ausflug aus dem Kloster ins Dorf im zweiten Kapitel symbolisiert damit auch schon seinen ersten Ausbruch in die sinnliche Sphäre.
  • Sprache: Je tiefer sich Goldmund in die Wälder und Dörfer (also die Sphäre der Sinne) begibt, desto stiller wird es um ihn herum und desto weniger interessiert er selbst sich für Worte. Er will sich nicht mehr mit herkömmlicher Sprache ausdrücken, sondern erlernt eine neue Sprache, die vor allem auf Gestik basiert: »Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt!« (S. 83) Diese Sprache hilft ihm dabei, Menschen zu verstehen und vor allem Frauen für sich zu gewinnen. Statt mit Worten arbeitet Goldmund nun immer mehr mit Gesten. Das bemerkt beispielsweise auch Lydia, als sie mit Goldmund reden will, er jedoch eher spärliche Worte von sich gibt und sie lieber im Küssen unterrichten will. Als Künstler verliert Goldmund seine Sprache teilweise über sehr lange Zeiträume, und so richtig kehrt sie erst bei seiner Wiedervereinigung mit Narziß zurück.
  • Die Urmutter: Sie symbolisiert Harmonie. In ihr kommen das Weibliche und Mütterliche zum Ausdruck, das Goldmund so lange in sich unterdrückt hat. Je näher Goldmund der Welt der Sinne und der Natur kommt, desto häufiger sieht er das Bild der Urmutter vor sich. Sie bedeutet für ihn die Vereinigung aller Gegensätze, die sich in ihm aufgebaut haben: »und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, daß die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung.« (S. 157) Daher macht Goldmund es sich auch zum Ziel, sie abzubilden.
  • Andere sich wiederholende Motive sind z. B. Wasser, Blumen oder Spiegel.
Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.