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Narziß und Goldmund

Kapitel 15-16

Zusammenfassung

Goldmund hat nach langer Wanderung endlich die Stadt erreicht, in der Meister Niklaus zuhause ist und in der auch er selbst einige Jahre verbracht hat. Die Pest ist hier inzwischen überstanden, und das Leben geht wieder weiter. Während Goldmund das frohe Treiben beobachtet, wird er sehr sentimental. Vieles scheint gleich geblieben, manches allerdings hat sich verändert: Von der alten Magd des Meister Niklaus erfährt er, dass jener verstorben ist, und seine einst schöne Tochter Lisbeth macht einen kränklichen Eindruck. Sie teilt ihm mit, dass Niklaus’ Werkstatt geschlossen wurde. Goldmund verlässt das alte Haus des Meisters und beginnt zu weinen. Er weint nicht nur um Niklaus und Lisbeth, sondern auch um Robert, Lene und Rebekka, sowie um seine eigene vergeudete Jugend.

Auf dem Marktplatz läuft er am nächsten Morgen Marie über den Weg, eine seiner ehemaligen Liebhaberinnen, die ihn zu sich ins Elternhaus einlädt. Sie berichtet ihm, dass Meister Niklaus’ Werkstatt noch existiert, aber leer steht. Auch legt sie Goldmund nahe, diese Werkstatt selbst zu beziehen. Lisbeth würde zu einem Antrag nicht nein sagen, sie habe keine Wahl mehr. Außerdem verschafft Marie ihm Papier und Stift, sodass Goldmund die nächste Zeit in einer Kammer im Haus ihrer Eltern verbringt und ununterbrochen zeichnet. Die Zeichnungen sind voll von Gesichtern und Szenen aus seiner Vergangenheit. Eine davon zeigt Maries Gesicht; Goldmund schenkt sie ihr und bricht wieder auf.

Auf einem seiner Spaziergänge durch die Umgebung begegnet er einer Frau, die ihn mit ihrem Stolz und ihrer Schönheit sofort fasziniert. Sie heißt Agnes, wohnt im Schloss und ist die Geliebte des Grafen. Goldmund beginnt, um sie zu werben. Nach zwei Tagen hat er Erfolg und Agnes fordert ihn auf, sie im Schloss aufzusuchen. Er kommt ihrer Bitte nach und sie empfängt ihn auf ihrem Zimmer, wo sie einen leidenschaftlichen Abend zusammen verbringen. Als es spät wird, verabschiedet sich Goldmund, da er nicht vom Grafen erwischt werden will, und Agnes bittet ihn, bald wiederzukommen.

Gleich am nächsten Tag erfüllt Goldmund ihren Wunsch. Diesmal allerdings wird ihm im Schloss eine Falle gestellt, und er wird vom Grafen höchstselbst auf Agnes’ Zimmer überrascht. Goldmund versucht, die Situation ein wenig zu entschärfen und Agnes zu schützen, indem er vorgibt, lediglich ein Dieb zu sein. Er wird abgeführt und muss die Nacht im Keller des Schlosses verbringen. Am Morgen wird er, bevor er verurteilt und hingerichtet werden soll, einem Priester beichten dürfen.

Goldmund bleiben nur die wenigen Stunden dieser Nacht, um in Gedanken von der Welt Abschied zu nehmen. Er denkt an Agnes, an Marie, an die Wälder und die Natur, an sein Johannes-Bildnis. Er bricht in Tränen aus, da er nicht weiß, wie er diese schöne Welt verlassen soll. Er ruft nach seiner Mutter, und vor seinem inneren Auge erscheint ihr Bild; diesmal ist es nicht das Bild der Urmutter, sondern das seiner eigenen. Schließlich schläft Goldmund doch noch ein.

Beim Aufwachen wird ihm klar, dass er so sehr an diesem einen vergänglichen Leben hängt, dass er sich nicht vorstellen kann, es so früh aufzugeben. Er sucht nach einem Ausweg und nimmt sich vor, sich so stark wie nur möglich gegen seine Hinrichtung zu wehren. Goldmund heckt einen Fluchtplan aus: Er befreit sich von seinen Fesseln und will den Priester, der ihm die Beichte abnehmen soll, umbringen, sobald er mit ihm allein ist. Als der Priester jedoch erscheint, muss Goldmund mit Schrecken feststellen, dass dieser die Ordenstracht des Klosters Mariabronn trägt. Ihn umzubringen, wird Goldmund nicht leichtfallen.

Analyse

Noch immer wird Goldmund von dem Bewusstsein geplagt, wie vergänglich die Welt ist. Mit seiner Wanderung in die Stadt, in der Meister Niklaus lebte, will er der Vergänglichkeit des Lebens entkommen. Denn in dieser Stadt hofft er nicht nur alte Bekannte wie Meister Niklaus und Lisbeth wiederzusehen. Auch sein eigenes Leben stand hier für einige Jahre still. Die Stadt bildet gewissermaßen eine Art Anker in Goldmunds Gedanken. Wenn sie unverändert geblieben ist, dann hat er etwas, an dem er sich festhalten und das ihm vor der Vergänglichkeit des Lebens und dem Verfall Schutz bieten kann. Damit hätte sie einen ähnlichen Effekt auf ihn wie die Kunst. Nur hat sich leider vieles in der Stadt verändert.

Nicht nur sind die Personen, an denen Goldmunds Gedanken festhingen, Niklaus und Lisbeth, verstorben. Auch seine eigenen Emotionen und Eindrücke der Stadt haben sich verändert, oder anders gesagt: Er selbst hat sich verändert. Zwar kann Goldmund sich noch an die Traurigkeit erinnern, die er damals beim Blick auf den Marktplatz empfand, aber er kann sich nicht mehr erinnern, weshalb genau er diese Traurigkeit empfand: »Ja, ohne Zweifel würde auch dieser Schmerz, auch diese bittere Not alt werden und müde werden, auch sie würde er vergessen. Nichts hatte Bestand, auch nicht das Leid.« (S. 199) Goldmunds Fazit: Sogar Schmerz ist vergänglich.

Das Einzige, was ihn von dieser Vergänglichkeit erlösen kann, ist die Kunst. Aus diesem Grund beginnt Goldmund, sobald Marie ihm die entsprechenden Materialien verschafft hat, auch exzessiv zu zeichnen: »Durch das Zeichnen hatte er das Gefühl von Schwere, Stauung und Überfülltsein in seiner Seele gelöst und erleichtert. Solang er zeichnete, hatte er nicht gewußt, wo er sei, seine Welt hatte aus nichts bestanden als dem Tisch, dem weißen Papier und abends der Kerze.« (S. 202) Das Zeichnen ist ein temporärer Schutz vor der Flüchtigkeit seiner eigenen Existenz. Dass es kein permanenter Schutz ist, wie beispielsweise die Madonna, die Niklaus geschaffen hatte, mag daran liegen, dass auch Zeichnungen vergehen können. Ihre Lebensdauer ist deutlich kürzer als die von Skulpturen.
Erneut scheinen Goldmund die zwei Gegensätze von Geist und Natur, die ihn nun seit vielen Jahren zu zerreißen drohen, unvereinbar. Beim Betrachten der Natur stellt er fest: »Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?« (S. 210) Entweder entscheidet man sich für ein sesshaftes Leben, muss dafür aber Sinneserfahrungen und Leidenschaften einbüßen, oder man entscheidet sich für ein abenteuerliches Leben in der Natur, muss dafür aber auf Intellektualität und Kreativität verzichten. Goldmund hat nun lange versucht, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden, sieht sich aber noch zwischen den beiden Gegensätzen gefangen. Einen mittleren Weg, der beides vereint, scheint es nicht zu geben.

Mit Agnes tritt das Mütterliche wieder in Goldmunds Leben ein. Ihr Anblick ruft Erinnerungen an seine eigene Mutter in ihm hervor: »Ihm schien, noch niemals habe die Liebe ihm so gestrahlt wie aus dieser Frau, deren hohe Gestalt und blonde lachende Lebensfülle ihn an das Bild seiner Mutter erinnerte, wie er es damals, als Knabe in Mariabronn, im Herzen getragen hatte.« (S. 205) Auch später, als Goldmund im Keller des Schlosses auf seine Hinrichtung wartet, hilft ihm das Bild seiner Mutter, wieder Kraft zu schöpfen und seinen Lebenswillen zurückzugewinnen. Auch damals im Kloster hatte Goldmund der Gedanke an seine Mutter geheilt.

Gemäß der Freudschen Psychoanalyse, die seit 1900 stark an Beliebtheit gewonnen hatte, hatte die Erinnerung an seine Mutter Goldmund damals geholfen, sich mit seinem Unterbewusstsein zu versöhnen, indem er seine sinnliche, leidenschaftliche Seite entdeckte und akzeptierte, die bis dahin unterdrückt worden war. Etwas Ähnliches geschieht auch jetzt beim Anblick von Agnes, zu der Goldmund sehr aufschaut (fast wie zu einer Mutter), und im Keller, als ihm das Bild seiner Mutter die Schönheit der draußen auf ihn wartenden Welt in Erinnerung ruft.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.