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Narziß und Goldmund

Kapitel 9-10

Zusammenfassung

Goldmund ist wieder in der Natur. Er genießt das allmählich zurückkehrende Gefühl der Freiheit und Fremde; es hat eine vertraute und tröstliche Wirkung auf ihn. Dennoch denkt er gelegentlich zurück an Lydia, bemitleidet sie und sorgt sich um sie. Da holt ihn der junge Stallknecht Hans ein, der ihm ein Päckchen von Lydia überreichen soll. Darin befinden sich ein selbst gestricktes Unterwams, ein Stück Schinken und ein goldener Dukaten.

Goldmund zieht weiter, aber oft fühlt er sich nun einsam und schwermütig. In einem Dorf, in dem er ein paar Nächte übernachtet, trifft er auf einen verwegen aussehenden Mann namens Viktor, der sich Goldmund als fahrender Schüler vorstellt (auch wenn er das Alter eines Schülers sichtlich überschritten hat) und der sein Leben in vollen Zügen genießt. Gemeinsam ziehen sie weiter und dabei bekommt Goldmund Einblicke in Viktors Überlebensstrategie. Anstatt sich bei der Ankunft in einem Dorf bei einer einzelnen Bewohnerin einzuquartieren, streicht Viktor von Hütte zu Hütte und gewinnt die Leute durch verschiedenste Schmeicheleien für sich, mal mit Gelehrten-, mal mit Gaunersprache. Goldmund fragt sich, ob auch er nach Jahren seines vagabundischen Lebens irgendwann so werden wird.

Gemeinsam ziehen sie weiter und Goldmund lernt einige neue Künste von Viktor, wie beispielsweise die Fähigkeit, bereits beim ersten Blick in eine Stube den Wohlstand der Person einschätzen zu können. Viktor prognostiziert außerdem, dass Goldmund sein Wanderleben nicht auf Dauer fortsetzen wird; er ist überzeugt, dass sein jüngerer Freund sich irgendwann niederlassen wird, sei es in einem Ehebett oder im Kloster. Als Viktor von Goldmunds Vergangenheit erfährt und darauf besteht, die Burg des Ritters und Lydia mit ihm gemeinsam noch einmal aufzusuchen, weigert Goldmund sich und sie geraten in Streit. Zwar versöhnen sie sich wieder, aber Goldmund nimmt sich fest vor, niemals so zu werden wie sein neuer Kamerad.

Als sie ihr gemeinsames Lager aufschlagen, überfällt Viktor Goldmund in der Nacht und will ihn bestehlen. Da dieser sich wehrt, versucht sein Angreifer sogar, ihn zu erwürgen. Goldmund kann gerade noch rechtzeitig entkommen, indem er Viktor mit einem kleinen Jagdmesser ersticht. Entsetzt über sich selbst und mit schwerem Gewissen ergreift Goldmund die Flucht.
Er ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, auf der Stelle selbst zu sterben, und dem Verlangen zu überleben. Während er wie ein Wahnsinniger durch die eisige Winterlandschaft irrt, sieht er in Gedanken Viktor vor sich und spricht mit ihm; dann sieht er plötzlich Julie und danach Narziß. Schließlich bricht er in einem Dorf zusammen und wird von einer ehemaligen Liebhaberin, Christine, die ihn wiedererkennt, gesundgepflegt. Und nicht nur das – sie näht ihm auch seinen Dukaten ins Gewand, damit er ihn nicht mehr verlieren kann.

Bald schon bricht Goldmund wieder auf und setzt sein heimatloses Leben fort. Sein Weg führt ihn in eine idyllische Gegend mit vielen Dörfern und freundlichen, warmen Menschen, in deren Gesellschaft Goldmund sich sehr wohl fühlt. Seine Stimmung hellt sich wieder auf; er wird glücklicher. Er macht Bekanntschaften mit zahlreichen Frauen, mit Fischern und Bauern, und er beichtet sogar einem Pater seine Sünden. Jener reagiert überraschend mild. In der Kirche dieses Paters entdeckt Goldmund die wunderschöne, nahezu sinnliche Statue einer Madonna, die ihn sofort in ihren Bann zieht. Der Pater erklärt, ein gewisser Meister Niklaus habe sie geschaffen und sie sei aufgrund ihrer modernen Gestaltung eher umstritten. Goldmund, hingerissen und begeistert, setzt es sich zum Ziel, diesen Meister Niklaus aufzusuchen.

Über einige Umwege findet er ihn und trägt ihm seinen Wunsch vor, sein Lehrling zu werden. Niklaus ist beeindruckt von Goldmunds Fähigkeit, über Kunst zu sprechen, betont aber auch das Engagement und die Hingabe, die eine Lehre erfordert. Er fordert Goldmund auf, ihm als Beweis seines Könnens etwas zu zeichnen. Zunächst beobachtet Goldmund nur Niklaus, dann beginnt er auch selbst zu zeichnen. Es entsteht ein Bild von Narziß, und Goldmund widmet sich seiner Aufgabe mit voller Hingabe. Niklaus befindet Goldmunds Zeichnung für sehr schön, wenngleich fehlerhaft, und bietet ihm an, bei ihm zu lernen. Da Goldmund allerdings das gewöhnliche Lehrlingsalter weit überschritten hat, kann zwischen ihnen auch kein übliches Meister- und Lehrlingsverhältnis entstehen; Goldmund muss aus freien Stücken für längere Zeit bei Niklaus im Dorf bleiben.

Analyse

Seit er Lydia und die Ritterburg verlassen hat, hat sich Goldmunds Wahrnehmung der Natur deutlich verändert. Während er sie vorher noch in vollen Zügen genossen hat, kommt sie ihm nun erheblich weniger befreiend vor. Zwar genießt er noch immer die Weite und Fremde der Wälder, aber zunehmenden verspürt er auch erste Anzeichen von Einsamkeit. Bei Lydia in der Ritterburg hat er gelernt, wie angenehm und schön es sein kann, jemanden zu lieben und an einem Ort zu verweilen. Er hat das Leben eines Sesshaften in all seinen Facetten und seiner Komplexität kennengelernt und Gefallen daran gefunden. Sein einsames, vagabundisches Lebens in der Natur bildet nun einen extremen Kontrast dazu, mit dem Goldmund sich erst wieder anfreunden muss.

Er fühlt sich nicht mehr nur frei, sondern zunehmend auch heimatlos: »Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloß- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.« (S. 116) Die Wälder, die Goldmund früher so tröstlich erschienen, wirken nun feindlich, und die Tiere, denen er sich so verbunden gefühlt hatte, bedrohlich. Von hier an oszillieren Goldmunds Emotionen: Manchmal fühlt er sich einsam und heimatlos, manchmal befreit und erfüllt. Die Bekanntschaft mit Viktor führt Goldmund diese zwei Seiten des Vagabundentums noch klarer vor Augen, denn so wie jener – diebisch, berechnend, kalkuliert – möchte er auf keinen Fall werden.

Sein an Viktor begangener Mord stürzt Goldmund in ein noch tieferes Dilemma. Einerseits verspürt er einen heftigen Todeswunsch, dessen Erfüllung sein einsames, wildes Wandererdasein beenden würde, und andererseits einen starken Überlebensdrang, der ihn genau dieses Dasein weiterführen ließe: »Aber immer wieder trieb es ihn empor, verzweifelt und gierig lief er um sein Leben, und mitten in der bittersten Not erquickte und berauschte ihn die unsinnige Kraft und Wildheit des Nichtsterbenwollens, die ungeheure Stärke des nackten Lebenstriebes.« (S. 118) In seinen schlimmsten Phasen der Verzweiflung und des Wahnsinns suchen Goldmund Figuren aus seiner Vergangenheit heim (Viktor, Julie, Narziß), vor denen er sich, seinen Lebensstil und seine Entscheidungen zu rechtfertigen versucht.

Letztendlich aber siegt Goldmunds Überlebensdrang, zumindest vorerst, und er lässt sich von seiner ehemaligen Liebhaberin gesundpflegen. Doch auch wenn er rasch wieder auf den Beinen steht und sein Wandererleben fortsetzen will, scheint sich Goldmunds Einstellung dazu nachhaltig verändert zu haben. Er nimmt nun nicht mehr nur die positiven Seiten der heimatlosen Existenz wahr, sondern auch all ihre Schattenseiten: »das Alleinsein, die Freiheit, das Lauschen auf Wald und Getier, das schweifende treulose Lieben, die bittere tödliche Not.« (S. 121)

Mit der Entdeckung der Madonnenstatue in der Kirche schlägt Goldmunds Leben eine abrupte Wendung ein, denn zum ersten Mal in seinem Leben hat er ein Ziel, dem er sich widmen kann: Er will Künstler werden. Sein nun zielgerichtetes Leben bildet einen starken Kontrast zu seiner vorherigen ziellosen Existenz als Wanderer. Die Kunst wird für ihn zu einer bedeutsamen Tätigkeit. Einerseits kann er sich ihr voll und ganz hingeben. Goldmund zeichnet, als brächte er ein Opfer dar: »Ohne sich darüber Gedanken zu machen, empfand er sein Tun wie das Abtragen einer Schuld, eines Dankes.« (S. 132) Wie Narziß bereits vor Jahren festgestellt hatte, ist Goldmunds große Stärke die Hingabe und das Träumen. In der Kunst kann er sich nun genau das zunutze machen. Endlich hat er ein Objekt, eine Tätigkeit, ein Ziel, dem er sich voll und ganz hingeben kann. Was für Narziß die Wissenschaft und das Kloster sind, wird für Goldmund die Kunst.

Zugleich bietet Goldmund die Kunst auch eine Ausflucht aus dem Tod und der Vergänglichkeit des Lebens: »Er dachte, daß er und jeder Mensch dahinrinne und sich immerzu verwandle und endlich auflöse, während sein vom Künstler geschaffenes Bild immer unwandelbar das gleiche bleibe.« (S. 134) Die Kunst wird für Goldmund zu einer Art Anker. Mit ihrer Hilfe kann er ein wenig Permanenz in die ihn umgebende ephemere, sich ständig verändernde Welt bringen. So kann er beispielsweise seine Erinnerung an Narziß erhalten, indem er sein Gesicht auf einem Papier verewigt.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.