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Narziß und Goldmund

Kapitel 3-4

Zusammenfassung

Es entsteht eine eigenartige Freundschaft zwischen Narziß und Goldmund, die generell in den Augen der anderen Klosterbewohner auf Missfallen und Misstrauen stößt. Auch die beiden Freunde selbst stoßen schon rasch auf erste Schwierigkeiten. Während Narziß sie beide in dieser Freundschaft als Gegenpole zueinander sieht, hofft Goldmund darauf, dass sie sich im Laufe der Zeit einander annähern und Gegensätze überbrücken werden. Narziß aber lässt sich auf derartige Versuche nicht ein; von Hingabe und träumerischer Freundschaftsidylle hält er nicht viel. Zwar sorgt er sich um Goldmund, scheint ihn aber doch nicht wirklich ernst zu nehmen. Was Goldmund jedoch nicht weiß: Narziß’ Zurückhaltung rührt daher, dass er die Liebe, die er für seinen Schüler empfindet, als Bedrohung für sein eigenes, dem Geiste gewidmetes Leben sieht.

Narziß hat zudem etwas erkannt, was seinem jüngeren Freund noch nicht klargeworden ist. Goldmund glaubt, für ein asketisches Leben bestimmt zu sein. Narziß aber weiß, dass das Bestreben des Jungen, ein derartiges Leben zu führen, lediglich das Resultat seiner Erziehung ist, und der Wunsch nicht aus ihm selbst heraus kommt. Damit bildet Goldmund den Gegensatz zu Narziß, der tatsächlich zum Leben eines Asketen bestimmt ist. Narziß sieht Goldmund als seine »verlorene Hälfte« (S. 28) und macht es sich zur Aufgabe, ihm zu verstehen zu geben, dass das asketische Leben nicht das geeignete für ihn ist.

In mehreren Gesprächen versucht er, Goldmund in die richtige Richtung zu lenken, beispielsweise indem er ihn dazu bringt, seinen nächtlichen Ausflug ins Dorf und seine Erlebnisse dort einzugestehen. Nach anfänglichem Zögern erzählt Goldmund ihm von dieser Nacht und seinen Schuldgefühlen darüber, wie sehr er die Nähe und den Kuss des Mädchens genossen hat. Narziß beruhigt ihn, indem er das Geschehene als vollkommen gewöhnlich darstellt, sogar für Klosterschüler. Goldmund sei ja noch kein Mönch und verletzte also, wenn er einem Mädchen erläge, keinerlei Gelübde.

Goldmund schämt sich dennoch; Narziß, so glaubt er, hätte der Versuchung eines Mädchens schließlich nicht nachgegeben. Diesen Kommentar nimmt Narziß zum Anlass, Goldmund zu erklären, dass sie beide grundsätzlich verschieden sind. Goldmund reagiert verletzt und verwirrt. Narziß hingegen fühlt sich bestätigt: Goldmund ist von einem Dämon auf die falsche Bahn (die der Askese) gelenkt und von seinen Urtrieben entzweit worden, und genau das schadet ihm. Er ist eigentlich ein Künstler, ein Mensch voll von Hingabe und Liebe, der unter der Einflussnahme anderer – vermutlich seines Vaters – auf sein Leben gelitten hat und der nicht mehr weiß, wer er selbst eigentlich ist. Narziß will ihm helfen, sich selbst zu finden.

Unterdessen genießt Goldmund sein Leben im Kloster. Er freundet sich mit dem Pförtner an, der ihn gelegentlich auf einem seiner Pferde reiten lässt, und dem Knecht des Müllers; er singt im Chor und nimmt an Gottesdiensten teil. Eine besondere Faszination empfindet er für die überall auffindbaren Heiligenfiguren und die Ornamente, Säulen und Altäre, zu denen er eine tiefe Verbindung spürt. Er beginnt, sich für Kunst zu interessieren und diese Gegenstände nachzuzeichnen.

Nach und nach versucht Narziß, sich ein Bild von Goldmunds Vergangenheit zu machen, bleibt zunächst aber erfolglos. Erst als die Verbindung zwischen ihren Seelen enger wird, erhält er tiefere Einblicke in Goldmunds Gedanken und Erinnerungen. In einem längeren Gespräch über Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten fährt Narziß fort, Goldmund zu erläutern, wie wichtig die Unterschiede zwischen ihnen beiden sind und dass sie jeweils das Gegenstück des anderen seien. Goldmund sei kein Gelehrter und er sei kein Mönch. Narziß fordert Goldmund auf, mehr er selbst zu sein. Er hat seine Kindheit verdrängt und unterdrückt, nun fordert sie seine Aufmerksamkeit und er muss sie ansehen. Goldmund sei Künstler und er, Narziß, Denker. Goldmund gehöre zu den Dichtern, Beseelten und Träumern, er zu den Geistigen. Goldmunds Heimat sei die Erde und die Welt der Sinne, seine die der Ideen.

Auf diese Rede reagiert Goldmund verletzt und zieht sich zurück. Narziß’ Worte haben etwas in ihm freigesetzt, was er bis dahin unterdrückt hatte. Er glaubt, den Verstand zu verlieren. Abt Daniel findet den bewusstlos gewordenen Goldmund, vermutet, dass Narziß etwas mit seiner Ohnmacht zu tun haben könnte, und stellt seinen Zögling zur Rede. Nachdem Narziß ihm eine Kurzfassung seiner Gespräche mit Goldmund dargeboten hat, stellt der Abt entsetzt fest, dass es sich bei Narziß’ Vorgehen um Eingriffe in eine fremde Seele handele, um »Seelsorgerei«. (S. 43) Narziß rechtfertigt sich damit, dass Goldmund »seelenkrank« sei und ihm geholfen werden müsse. Für die Krankheit des Jungen macht er dessen Vater verantwortlich, der dem Sohn jegliche Erinnerungen an seine Mutter ausgetrieben hat.

Zwar hat Narziß den Abt mit seiner Theorie überzeugt, dennoch erhält er vorerst Kontaktverbot zu Goldmund. Als der Junge aus der Ohnmacht erwacht, ist es daher diesmal Pater Anselm, der sich seiner annimmt. Unterdessen erwachen vor Goldmunds Augen erste Erinnerungen an seine vergessene Mutter.

Analyse

Während Narziß sein Leben dem Geist gewidmet hat, entwickelt Goldmund eine immer größere Begeisterung für das Weltliche. Zusammen symbolisieren sie die Dichotomie des Spirituellen und des Sensuellen. Über Narziß schreibt der auktoriale Erzähler: »Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war er es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewußt erkannte.« (S. 27) Narziß steht stellvertretend für den Geist und alles, was damit einhergeht: Intellektualität, Disziplin und Mäßigung. Emotionen wie Liebe und freundschaftliche Hingabe sind für den angehenden Asketen dementsprechend auch keine natürlichen Zustände, sondern nahezu schon eine Bedrohung für sein enthaltsames, dem Glauben gewidmetes Leben.

Goldmund hingegen steht für alles, was Narziß aus seinem Leben verbannt hat; er repräsentiert das Sinnliche. Nur weiß er davon selbst noch nichts, denn von seinem Vater ist er zu einem ganz anderen Leben erzogen worden – einem Leben im Kloster, wie Narziß es führt. So hat er die in sich aufkommende »Glut erster Jugendinbrunst« nicht zugelassen und sich stattdessen »einem frommen und asketischheldischen Ideal« verschrieben. Er tut alles dafür, diesem Ideal treu zu bleiben, gerät jedoch immer mehr ins Wanken. Sein Besuch im Dorf und der Kuss mit dem Mädchen (das Weibliche symbolisiert hier das Sinnliche und Weltliche) haben Goldmunds Disziplin ganz besonders stark gefordert. Er muss so viel Willensstärke aufbringen, seinen Trieben nicht nachzugeben, dass es ihn physisch krank macht. Zwar ist Goldmund zum Leben als Mönch erzogen worden, aber er würde sehr darunter leiden. Wie Narziß ganz richtig analysiert, ist Goldmunds Persönlichkeit von einem Dämon, also seiner Erziehung, gespalten worden (S. 31).

Narziß und Goldmund unterscheiden sich nicht nur in ihrem Charakter und ihrer Bestimmung, sondern auch in ihrer Auffassung von Freundschaft. Goldmund erhofft sich Annäherung und Hingabe. Narziß hingegen hat sehr andere Vorstellungen. Er ist überzeugt, dass sie Gegenpole zueinander bilden müssen. Er will die Unterschiede zwischen ihnen nicht wie Goldmund überbrücken, sondern nur noch stärker hervorheben. Genau das verkündet er auch seinem jüngeren Freund: »Ich sage dir heut ein Wort, an das wirst du einmal denken. Ich sage dir: unsere Freundschaft hat überhaupt kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn, als dir zu zeigen, wie vollkommen ungleich du mir bist!« (S. 31) Narziß will Goldmund dazu verhelfen, seine wahre Bestimmung zu erkennen, denn schließlich ist genau das, wie er im ersten Kapitel selbst gesagt hat, seine Gabe.

Wie bereits erwähnt, sind derartige Gegensatzpaare typisch für Hesses Romane. Insbesondere der Konflikt zwischen Bourgeoisie und Bohème beschäftigte Hesse sehr, wie sich auch in “Unterm Rad” und “Der Steppenwolf” erkennen lässt. Einen ähnlichen Konflikt verkörpern auch Narziß und Goldmund. Narziß ist ein disziplinierter, gemäßigter Intellektueller, der sein Leben der Askese gewidmet hat. Goldmund wird immer mehr zum sinnlichen, leidenschaftlichen Künstler: »Alles Lebendige und Strahlende an diesem Jüngling sprach so deutlich: er trug alle Zeichen eines starken, in den Sinnen und der Seele reich begabten Menschen, eines Künstlers vielleicht, jedenfalls aber eines Menschen von großer Liebeskraft, dessen Bestimmung und Glück darin bestand, entzündbar zu sein und sich hingeben zu können.« (S. 33f.) Mit Narziß und Goldmund treffen zwei Welten aufeinander: Kunst und Geist/Wissenschaft, Bohème und Bourgeoisie, Leidenschaft und Disziplin, Sensualismus und Spiritualismus. Diese Dichotomien bilden eines der Hauptthemen des Romans.

In Narziß’ kleiner Rede, die er Goldmund hält, werden all diese Gegensätze noch einmal besonders hervorgehoben: »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. (…) Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker.« (S. 40) Mit diesen Worten fasst Narziß im Prinzip den grundlegenden Konflikt des Romans zusammen. Er und Goldmund stammen aus verschiedenen Sphären, von denen aber keine der anderen übergeordnet ist. Sie sind einander ebenbürtig. Ebenfalls zu beachten ist Narziß’ Andeutung, dass Goldmunds Sphäre mit dem Weiblichen verbunden ist; hierauf soll später noch genauer eingegangen werden.

Veröffentlicht am 3. Oktober 2023. Zuletzt aktualisiert am 3. Oktober 2023.