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Wilhelm Tell

Interpretation

Politischer Widerstand

Der Konflikt der Waldkantone Uri, Schwyz und Unterwalden mit dem habsburgischen Fürstenhaus hat seine Voraussetzungen in sehr spezifischen mittelalterlichen Rechtskonstruktionen, die für das zeitgenössische Publikum Schillers nicht ohne Weiteres nachvollziehbar sind und die Vermittlung einer auf aktuelle Zustände zielenden politischen Botschaft eigentlich erschweren sollten. Der Konflikt müsste, um ihn exemplarisch werden zu lassen, um die historischen Spezifika gleichsam gekürzt werden oder sich wenigstens auf eine allgemeinere Form hin zuspitzen lassen.

Revolution zielt auf eine innere politische Umwälzung. Wenn es um den Zusammenhang des Stücks und der französischen Revolution geht, ist daher zunächst zu fragen, ob der dargestellte Aufstand der Eidgenossen überhaupt ein solches Bemühen darstellt, oder ob es sich nicht vielmehr um die Abwehr einer äußeren Bedrohung handelt. Die Antwort muss wiederum die lehnsrechtlichen Voraussetzungen des Konflikts berücksichtigen. Die Landvögte sind als Repräsentanten der kaiserlichen Macht in die Waldkantone von Wien her entsandt worden, also gewissermaßen von außen; sie sind es aber deshalb, weil die Waldleute darum gebeten hatten und weil ihre Verfassung für besonders gewichtige Rechtsstreite (den Blutbann) einen kaiserlichen Gerichtsherrn vorsieht.

Der Grund für den Konflikt liegt darin, dass der Kaiser – hier der zum Kaiser noch nicht gekrönte König Albrecht – nicht primär als Kaiser, sondern als Repräsentant seines Fürstenhauses Habsburg agiert. Die Institution, der sich die Waldkantone einzig unterwerfen – das Reich, repräsentiert durch den Kaiser –, wird von einer Person besetzt, die die kaiserliche Macht zum Nutzen des Machtausbaus des eigenen Hauses missbraucht und die Waldleute zur Unterwerfung unter diese Institution, das von Habsburg regierte Herzogtum Österreich, zwingen möchte.

Die Waldleute hätten die Ermordung König Albrechts, die Johannes von Schwaben aus anderen Gründen zu ihrem Nutzen übernimmt – denn jetzt löst sich die problematische Personalunion von Habsburg/Kaisertum –, niemals planen können, weil sie mit ihm auch die kaiserliche Institution, auf die sich gerade berufen, angegriffen hätten (so erklärt sich auch das Entsetzen Tells gegenüber der Tat Johannes‘ von Schwaben – vgl. V. 3163-3172). Im Gegenteil muss es ihnen lediglich um eine Zurückweisung des habsburgischen Machtanspruchs gehen, müssen sie, nachdem ihnen diese gelungen ist, sich mit dem Kaiser als Kaiser sogleich wieder zu versöhnen suchen – so deutet es Walter Fürst auf der Rütliwiese jedenfalls an (vgl. V. 1369-1375). Tatsächlich ist nach der Ermordung und Vertreibung der Vögte nur noch die Rede davon, wie man sich gegen die Rache des Königs zur Wehr setzen könnte und Melchthal sagt: »Er zieh‘ heran mit seiner Heeresmacht, | Ist aus dem Innern doch der Feind verjagt, | Dem Feind von außen wollen wir begegnen« (V. 2931-2933) – so als richtete sich der Aufstand eigentlich gegen einen äußeren Feind, der unrechtmäßig nach innen eingedrungen war.

So sehr in der Formierungsphase der Verschwörung aber betont wird, man strebe nur die Sicherung der schon verbrieften Freiheiten und Rechte an – die Vision des sterbenden Attinghausen, deren eifriger Vollstrecker sein Neffe Rudenz zu werden verspricht, deuten auch auf einen inneren, die gesellschaftliche Struktur betreffenden Wandel: auf die Abschaffung, oder wenigstens den Bedeutungs- und Machtverlust des Adels. Attinghausen schließt darauf aus der Tatsache, dass die Landleute ihn, den Adligen, in ihrer Verschwörung entbehren zu können meinten; und so erscheint die gesellschaftliche Umwälzung, die Rudenz in Gang setzt, nicht so sehr als erklärtes Ziel der politischen Bewegung, sondern als ihr unbeabsichtigter Effekt. Der Adel wird nirgends als Feind adressiert, seine Abschaffung wird nicht gewünscht; aber die neue politische Konstituierung der Waldkantone auf der Rütliwiese geschieht ohne ihn.

Die größte Hilfestellung für eine Übertragung des dem Stück eigenen politischen Pathos auf aktuelle Zustände liefert Schiller, indem er die Grausamkeit und Willkür der Landvögte in konkreten Fällen in Szene setzt. Der Zuschauer bedarf, um angesichts der Schicksale Baumgartens, Tells, Melchthals und Armgarts betroffen zu werden, keiner lehnsrechtlichen Kenntnisse und muss, um die Notwehr Baumgartens bei sich zu rechtfertigen, die Unterscheidung, ob er einen äußeren oder einen inneren Feind abwehrt, nicht treffen. Grausamkeit und Machtmissbrauch und der Widerstand dagegen sind Universalia der Geschichte, und wer hierauf den Akzent legt, wird weite Brücken schlagen können. Schillers Können mag darin bewundert werden, dass er diese Verkürzung anbietet, ohne den spezifisch historischen Gehalt bedeutend vernachlässigt zu haben.

Idylle und Heldentum

Die Rütli-Verschwörung ist als politische Bewegung mit den Problemen konfrontiert, die das geheime Zusammenwirken vieler Personen notwendig mit sich bringt. Vorgeführt wird durch das Stück, wie Stauffacher durch die Erzählung von dem gemeinsamen Ursprung der drei Waldkantone die Einheit der Versammelten erst stiften muss. So leicht es ihnen fällt, eine Versöhnung mit Österreich auszuschließen, gar jeden auszuschließen, der nur an eine solche Möglichkeit denkt, so rasch bricht der Streit aus, wenn es um die Wahl der Mittel geht, ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Versammlung wird wie eine förmliche Ratsversammlung unter Berücksichtigung eingespielter Verfahrensregeln abgehalten – ein Versammlungsleiter muss gewählt werden, wobei bestimmte Kriterien zu berücksichtigen sind (Alter, Amtswürde, Herkunft, Ruf). Intuitiv sorgen Stauffacher, Melchthal und Fürst durch ihre Verabredung, jeder solle zehn Vertraute mitbringen, für eine ausgewogene Repräsentation der drei Waldstätte.

Tatsächlich gelingt dann die Geheimhaltung des Unternehmens nicht, wie Rudenz‘ Kenntnis davon im vierten Akt beweist. Und konnten die Landleute die Adligen bei der Konstitution ihrer Verschwörung auch entbehren: zur rasch reagierenden Tat brauchen sie doch den (adligen) Anführer, der, von außen kommend, sich über die in der Versammlung mühsam errungenen Beschlüsse hinwegsetzen kann.

Mit all diesen Schwierigkeiten, die Schiller darzustellen sich nicht scheut, hat der Held des Stückes, der Einzelgänger Wilhelm Tell, nichts zu tun. Denn er will nichts damit zu tun haben, weil er im Zuge der Verwicklung in ein kollektives Unterfangen eine Minderung seiner Stärke fürchtet. Sein Wirkungsfeld ist nicht die politische Versammlung; sondern er rettet, wenn er rettet, den Mitmenschen aus der Konfrontation mit der gefährlichen Natur, weil er, wie kein Zweiter, mit der Natur vertraut ist. Seine bei der Jagd gewonnene Fertigkeit ist es, die ihn und seinen Sohn auf dem Platz in Altdorf rettet und noch die Ermordung Geßlers in der hohlen Gasse aus einem Hinterhalt stilisiert er als Gebirgsjagd, so als veränderte er durch den Mord nicht radikal seine Stellung in und zu der Gesellschaft, in der er lebt.

Ihm gelingt alles – aber er lässt sich nicht auf alles ein. So gleicht er dem wunderbaren Heilsbringer, der alles vermag, und auf den sich gleichwohl nicht rechnen lässt, weil er unvermittelt erscheint und sich nicht zwingen lässt. Gewiss – er wird im Schlussbild von der triumphierenden Eidgenossenschaft gefeiert. Doch das merkwürdige, so oft als störend empfundene Auftreten des Kaisermörders im fünften Akt hat auch zur Folge, dass Tell, mit der besonderen Aufgabe betreut, Johannes sowohl ab- als auf einen Weg zurück in die Gesellschaft hinzuweisen, aus dem allgemeinen Jubel herausgelöst wird.

Die historischen Quellen geben beides her – eine zentrale Rolle Tells bei dem gesamten Aufstand und eine nur periphäre, auf die Apfelprobe und die Ermordung Geßlers begrenzte Rolle (so bei Tschudi, wo die Eidgenossen auch nach der Ermordung des Landvogts mit dem Aufstand bis Neujahr warten). Schiller trennt die politische Sphäre von der Sphäre des Helden und des Heilsbringers in aller Deutlichkeit und gibt Tell, ohne dass er deshalb zum politischen Menschen verwandelt werden müsste, bei der Durchführung des Aufstands eine entscheidende Funktion. 

Aspekte ästhetischer Wirkung

Die kompositorische Energie richtet sich in »Wilhelm Tell« stärker auf die große Einzelszene als auf den Stückverlauf im Ganzen.

So geschmeidig die Übergänge von dem Gespräch zwischen Tell und seinem Sohn zu der Verhaftung Tells ausfallen, von der Begrüßung der ersten Ankommenden auf der Rütliwiese zu der förmlichen Ratsversammlung, von den aufgewühlten Vorwürfen Hedwigs zu der Vision des sterbenden Attinghausen, so hart steht im dritten Akt die Berta-Rudenz-Szene zwischen den beiden Tell-Szenen, so empfindlich unterbricht die Johannes-Parricida-Szene im fünften Akt den von der ersten in die letzte Szene des Akts getragenen Jubel der befreiten Eidgenossen, so unverbunden bringen die Einführung von Rudenz und Attinghausen und die große Versammlung auf der Rütliwiese den zweiten Akt zustande. Einzig im ersten Akt sorgen die Bewegungen Tells und Stauffachers für eine szenenübergreifende Kohärenz, einzig hier gibt es außerdem zwei Szenen gleichen, oder wenigstens ähnlichen Typs (I/2, I/4).

Offenbar setzt der Autor an vielen Stellen auf eine unmittelbare, nicht erst durch das Ineinandergreifen aller Elemente des Stücks zustandekommende Wirkung seines Stoffs, und hierin mag das Populäre und das Festspielhafte gesehen werden, das dem Drama oft attestiert wurde. Die nur in wenigen, sicher ausgeführten Strichen hingeworfene Liebeshandlung um Berta und Rudenz muss als Liebeshandlung gefallen, also ohne, dass viel aufgeboten wird, sie als diese bestimmte Liebeshandlung gefällig zu gestalten. Die einander widersprechenden Interessen, die in der Figur Rudenz‘ zunächst angelegt waren, und die Komplexität, die seine Liebeshandlung in Kombination mit dem politischen Konflikt hätte gewinnen können, muss der Zuschauer ab der Mitte des Stücks willig ad acta legen, weil nur so die innerszenische Komplexität und Dynamik der noch folgenden großen Szenen nicht überbelastet wird.

Ein großes Thema der Schillerschen Dramatik, vor allem im »Wallenstein«, ist die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines individuellen Rückzugs aus der Geschichte. Es erscheint auch in »Wilhelm Tell«, aber ohne Diskussion und ohne, dass sich die Möglichkeiten des Handelns oder Nicht-Handelns in den Gedanken und Reden des Protagonisten vorbereitend darstellen. Tell entzieht sich, dann wird er hineingezwungen, dann handelt er – erfolgreich. Der tragische Widerspruch ist aufgelöst. Die Redeweisen Tells in der einen und der anderen Situation – seine sentenzhafte, knappe Diktion und flüssige Erzählung auf der einen, seine pointensuchende, ausschweifende, feierliche Diktion auf der anderen Seite – stehen unverbunden nebeneinander.

Ein anderes Beispiel ist die Reduktion einer komplexen, politischen Gegnerschaft auf die rein menschliche Gegenüberstellung, wie sie in »Maria Stuart« zentral ist: Tell und Geßler begegnen sich so im Gebirge, auch hier zeigt sich der politisch Unterlegene plötzlich in der Position der Stärke. Tell gerät, dem Landvogt zu schaden, nicht in Versuchung, er grüßt freundlich – und damit hat es sich, dieselbe Ebene der Auseinandersetzung wird nicht noch einmal angespielt.

Der Autor lässt das Publikum den Genuss dessen, was auf der Bühne zu genießen ist, voll auskosten. Er sieht für die Rütli-Szene ein langes Orchester-Nachspiel vor, das den in den Alpen besonders prächtigen Sonnenaufgang begleiten soll. Auch erfindet er für die Hohle-Gassen-Szene eine musizierende Hochzeit und versieht sein Stück überhaupt und gewissenhaft mit einer starken Lokalfarbe, wie sie früheren Stücken noch fernliegt, und die bereits an sich gefallen soll. Damit entzieht Schiller den Zuschauern durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf Rudenz und Geßler geschickt, was als Theatertrick nur zu leicht enttarnt werden dürfte: den Schuss auf den Apfel auf achtzig Schritt.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.