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Wilhelm Tell

Akt 3, Szene 1-2

Zusammenfassung

(III/1)
Während der Arbeit am eigenen Hoftor unterhält sich Tell mit seiner Frau Hedwig über die früh das Schießen übenden Knaben und über die Gefahren der Jagd. Die Arbeit beendet, will Tell nach Altdorf zu seinem Vater Walter Fürst aufbrechen, Hedwig ihn aber aufhalten, weil Geßler dort heute noch weilt.

Tell berichtet von einer einsamen Begegnung mit Geßler im Gebirge: der Landvogt hatte vor Angst gezittert, Tell hatte sich ihm mitleidig genähert. Er sieht darin die Gewähr, dass Geßler ihn meiden werde, Hedwig hingegen sieht darin Gefahr: Er werde sich für die Blöße, die er sich gegeben hat, rächen wollen.

Hedwig kann Tell nicht aufhalten, auch der Sohn Walter geht gegen ihren Wunsch mit Tell mit.

(III/2)
In einer wilden Waldgegend wird herrschaftlich gejagt. Berta im Jagdkleid hat sich mit der Absicht, sich Rudenz zu erklären, von der übrigen Gruppe entfernt und Rudenz ist ihr mit demselben Vorhaben im Sinn gefolgt.

Er macht ihr einen Liebesantrag, sie aber tadelt streng seine Untreue gegen seine Landsleute und gibt dadurch zu verstehen, dass sie nicht, wie er glaubte, auf Österreichs Seite, sondern auf der Seite der Schweizer steht. Sie eröffnet ihm außerdem, dass sie, wenn sie ihn nur nicht verachten müsste, durchaus zu lieben bereit wäre. Als auch noch deutlich wird, dass ihr Erbe mit in die Streitmasse zwischen Österreich und den Waldstätten gehört, und dass ein Sieg der Schweizer ihr ihr Erbe und ihre Freiheit sichern würde, kann Rudenz sich vollen Herzens zur Sache seines Volkes bekennen.

Analyse

Die Szenen gehören denjenigen Figuren, die auf dem Rütli nicht dabei waren. Die erste Szene dient allein der Vorbereitung der dritten Szene des dritten Akts, der Apfelschussszene also; die zweite Szene bildet den konzentriert umgesetzten Wendepunkt der zuvor nur in Andeutungen entwickelten Berta-Rudenz-Handlung.

Durch die gegenseitigen Eröffnungen werden die in II/1 angelegten Konflikte in der Figur des Rudenz kassiert. Alles liegt für ihn nun auf einer Linie. Er streitet im Sinne seiner wieder freigelegten Heimatliebe, im Sinne der Parteinahme der Frau, um die er wirbt, und im Sinne ihrer Freiheit und ihres Besitzstandes. Der Ehrgeiz und die Sehnsucht nach einem Wirken in den Zusammenhängen der großen Welt fallen hintüber. Mit seinem Onkel Attinghausen kann er sich versöhnen.

Tatsächlich hatte es für diese Wendung bereits Hinweise gegeben: Bertas mitleidiges Verhalten an der Baustelle (V. 447-457) und Attinghausens Einschätzung des Charakters seines Neffen (V. 848-852). Für das Stück insgesamt bedeutet die Wendung in der Liebesgeschichte eine enorme Vereinfachung der Handlung: Das einzige Potenzial zu einem im eigentlichen Sinne tragischen Konflikt ist ihr durch sie genommen. Alles läuft nun auf die gewaltsame Auseinandersetzung von Unterdrückern und Unterdrückten hinaus. Sollten die Schweizer unterliegen, wäre das ein unglückliches Ende, aber nicht die Folge eines Konflikts zweier einander widersprechender, gleichermaßen berechtigter Forderungen an eine Figur oder eine Figurengruppe. Die der Apfelschussszene inhärente Tragik – dass Tell, um sein und das Leben seines Sohnes zu retten, das Leben des letzteren zu gefährden gezwungen wird – ist eine künstlich herbeigeführte Tragik und wieder nur Ausdruck der grausamen Willkürherrschaft.

Die beiden Szenen stehen im Verhältnis des Kontrastes. Hier eine häuslich-alltägliche Szene, die ihre Bedeutung nur aufgrund des ihr folgenden Ereignisses gewinnt und ansonsten der allgemeinen Charakterisierung der in ihr auftretenden Figuren dient; dort Höhe- und Wendepunkt einer bereits angelegten Liebeshandlung im Umfeld einer höfischen Jagd. Hier die flüchtige Aussprache dieser und jener gerade in den Sinn kommender Gedanken, dort die konzentrierte Eloquenz liebender Begeisterung.

Die Eröffnung des Akts durch ein Lied schlägt eine Brücke zur Eröffnung des ersten Akts. Der Eindruck von der knappen, sentenzhaften Redeweise Tells, der schon in I/1 und in der Unterredung mit Stauffacher entstand, wird bestätigt, erstmals gibt es aber auch eine längere erzählende Passage (V. 1547-1569). Die Situation – die liebende, Unheil ahnende Gattin versucht vergeblich, den zur Entscheidungsschlacht aufbrechenden Helden zurückzuhalten – hat klassische Vorbilder (Hektor und Andromache im sechsten Gesang der Ilias).

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.