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Wilhelm Tell

Akt 2, Szene 1

Zusammenfassung

Der Freiherr von Attinghausen nimmt mit seinen Knechten und seinem Neffen Ulrich von Rudenz nach alter Sitte den Morgentrunk. Rudenz möchte nach Altdorf zur Herrenburg aufbrechen, und Attinghausen möchte ihn gerne aufhalten. Die beiden sprechen sich aus.

Rudenz rät, sich dem habsburgischen Fürstenhaus zu unterwerfen und die alte Freiheit, die Reichsunmittelbarkeit aufzugeben. Dafür spricht die große Macht Habsburgs und die Isolation, in die die Waldkantone durch ihren Widerstand geraten: Um sie herum ist bereits alles habsburgisch.

Außerdem macht Rudenz seinen Ehrgeiz geltend. In Uri fühlt er sich von der großen adligen Welt abgehängt. Attinghausen hält dagegen. Er vertraut auf die Widerstandskraft der Einheimischen und führt das bereits habsburgische Luzern als Beispiel dafür auf, was unter der neuen Regierung passierte. Attinghausen rät richtig, dass, mehr als der Ehrgeiz, die Liebe zu Berta von Bruneck Rudenz an den Hof bindet. Er kann ihn nicht aufhalten.

Analyse

Im Grunde gehört die Szene noch zur Exposition. Die Nebenhandlung im adligen Milieu mit Ulrich von Rudenz und Berta von Bruneck wird eröffnet und in dem Dialog zwischen Onkel und Neffe der politische Konflikt ein weiteres Mal umrissen. Das erste Mal werden Argumente der Gegenseite laut.

Walter Fürst, Stauffacher und Melchthal hatten ein Einbeziehen des ortsansässigen Adels nicht für notwendig befunden (V. 684-700), Stauffacher Attinghausen aber als Ziel seiner ersten Erkundigungen Gertrud gegenüber angegeben (V. 336-338). Seine Charakterisierung Attinghausens – »obgleich von hohem Stamm | Liebt er das Volk und ehrt die alten Sitten« (V. 337 f.) – wird von der vorliegenden Szene bestätigt. Es scheint aber nicht so, als ob Stauffacher ihn inzwischen bereits besucht, als ob Attinghausen von der sich formierenden Verschwörung schon Kenntnis hätte. Insofern liegt hier ein neuer, auf die bisherigen Entwicklungen nicht angewiesener Einsatz vor, der Möglichkeiten der Zuspitzung vor allem für die Figur des Neffen anzeigt. Attinghausen äußert die sich im Verlauf des Stücks bestätigende Meinung, der Charakter seines Neffen sei zu dem Hofleben, das er anstrebt, nicht geeignet. Nur die Liebe zu Berta von Bruneck mache ihn dies glauben.

Rudenz argumentiert einmal im Sinne der Waldkantone insgesamt, und dann mit Blick eher auf die eigene Person und den eigenen Stand. Zum einen hält er den Widerstand gegen das Vorhaben Albrechts, die Waldkantone seiner Hausmacht einzuverleiben, für aussichtslos. Das liegt an der Stärke seines Heeres und an der Schwäche der eigenen Kampfkraft (V. 907 f.). Zum anderen gehörten Albrecht bereits die umliegenden Regionen und zentrale Bestandteile der Infrastruktur (V. 869-878). Vom Reich sei Beistand nicht zu erwarten (V. 879-885). Die Treue gegen das habsburgische Fürstenhaus habe eher Aussicht, sich auszuzahlen, als die Treue gegen den Kaiser, der aus wechselnden Häusern gewählt werde (V. 886-892).

Mit Blick auf den eigenen Stand bedeutet die besondere politische Verfassung der Waldkantone für Rudenz eine Minderung des gesellschaftlichen Status. Wie Gertrud gegenüber Stauffacher ausführte, muss er, Stauffacher, als reichsunmittelbarer Freibauer niemanden als den Kaiser über sich dulden – also auch den ortsansässigen Adel nicht. In diesem Sinne ist Attinghausen seiner »eig’nen Knechte Pair« (V. 818), also Gleichgestellter.

Attinghausens gewichtigstes Gegenargument ist vielleicht das Luzerner Beispiel. Zu Österreich zu gehören bedeutete für diesen Kanton eine starke Zunahme obrigkeitlicher Kontrolle über die landwirtschaftlichen Ressourcen und die Verkehrswege, zusätzliche Steuerpflicht und vor allem die Pflicht zum Kriegsdienst. So pointiert, stellt sich für Attinghausen nicht die Wahl zwischen Kämpfen und Nicht-Kämpfen, sondern allein zwischen dem Kämpfen für die eigene und für die fremde Sache.

Am Schluss der Szene erfährt der Zuschauer, dass der zu Beginn von Baumgarten erschlagene Wolfenschießen jemand war, der den Weg, den Rudenz für sich vorzeichnet, zu Ende gegangen war (V. 945 f.).

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.