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Wilhelm Tell

Rezeption und Kritik

Das kritische Echo auf die ersten Aufführungen in Weimar, Lauchstädt, Berlin, Mannheim, Breslau, Hamburg, Bremen, Frankfurt am Main, Magdeburg sowie Braunschweig und auf das Erscheinen der Buchausgabe war durchaus gemischt.

Bemängelt wurden überflüssige Partien und eine schlecht zusammengesetzte Handlung. Betroffen war hiervon vor allem der fünfte Akt. Beispielhaft eine Passage aus der Zeitschrift Isis vom März 1805: 

    Ein Hauptfehler, wodurch dies Kunstwerk zuletzt allen erwarteten Effekt verliert, liegt im Plan des Ganzen; es mangelt ihm die Einheit der Handlung, welche kein dramatischer Dichter, auch der größte nicht, ungestraft verletzen darf. Eine Zeitlang ist es Wilhelm Tell, welcher das Interesse des Lesers fesselt; aber er verliert sich bald, wie eine Nebenperson, im Gedränge andrer Erscheinungen, und die Befreiung der Schweiz überhaupt, durch viele zusammenwirkende Umstände, wird der Hauptgegenstand. Eine episodische Liebschaft zwischen Rudenz und Bertha drängt sich auch hervor, und um so gewaltiger, je wirksamer die schänste Leidenschaft des menschlichen Herzens jedes Herz anzusprechen pflegt. So steht des Lesers Aufmerksamkeit beständig getheilt, seine Theilnahme immer unschlüssig zwischen mehreren anziehenden Gegenständen – oft erwärmend, und eben so oft erkaltend, läßt das Ganze zuletzt nur einen verworrenen Eindruck, eine laue Empfindung zurück. Die durch das ganze Gemälde zerstreuten Strahlen, nirgends zu einem Brennpunkt aufgefangen, glänzen nur, ohne erwärmen zu können. […] Wenn wir in einem Schauspiel alles das Episode nennen, was nicht wesentlich zum Hauptthema gehört, so besteht die Hälfte von Schillers Tell aus einer Zusammenflechtung mehrerer, wenig zusammenhängender Episoden. Sie könnten wegfallen, ohne daß das Ganze in Rücksicht des Thema’s verlöre; aber freilich würde Tell dann keine fünf Aufzüge haben. (S. 783-785 der verwendeten Ausgabe)

Ähnlich lautet noch eine extreme Positionen zu vermitteln suchende Rezension der Buchausgabe in der »Zeitung für die elegante Welt« vom 13. Oktober 1804: »Ich finde eine Menge schöner Theile und kein Ganzes.«

Enthusiastisches Lob las man aber auch: etwa in den »Berlinischen Nachrichten« nach der Berliner Uraufführung vom 4. Juli 1804, oder in der Zeitschrift »Der Freimüthige« vom 7. Juli 1804. Dort heißt es schlicht: »Nach meiner Absicht, ist dieses Schauspiel, das vollendetste Kunstwerk, das Schiller geschaffen hat.«

Wer immer das Stück aufführte, hatte politischen Rücksichten Rechnung zu tragen. Schiller selbst strich für die Weimarer Aufführung den fünften Akt: Die Fassung sei sehr wesentlich verkürzt, schrieb er am 10.12.1804 an Körner, »und z. b. der ganze fünfte Act weggelassen, weil wir des Kaisermords nicht erwähnen wollten. Auch sind viele Personen in wenige verwandelt, viele schwürige oder bedenkliche Stellen weggelassen.« (S. 771) 

Er empfahl Körner die Weimarer Fassung für eine Aufführung in Dresden und hatte gegenüber Iffland noch angegeben, für Berlin und für ihn sei das Stück zunächst bestimmt, und sollte auch dort zuerst auf die Bühne treten (Brief vom 23.1.1804, S. 760 der verwendeten Ausgabe). Weshalb, das wird aus den Einlassungen des Berliner Theaterdirektors in dem mehrfach zitierten Fragebogen an Schiller vom 7.4.1804 deutlich, die ausführlich zu zitieren sich lohnt, um einen Eindruck von der politischen Sensibilität der öffentlichen Bühne zu bekommen. Der Kommentar bezieht sich auf Stauffachers Rede in der Rütli-Szene:

    Die Berliner Regierung verstattet alles, was man in keiner Monarchie verstattet. Diese philosophisch-freie Regierung kann es auch verstatten. Aber diese im hohen, schönen Schwunge dargestellten Menschenrechte, mahnen an eine mißverstandene, die Europa leiden machten. Will der Dichter einen Pbel – wie jede so große Volcksmaße ihn hat, zu einem tumultuarischen Aufjauchzen reizen?? Dieses – mit dem, was nachkommt – könnte einen Effect machen, den der Dichter nicht will und den ich nicht wünschen kann. Dem reinen Menschen ist diese Stelle ehrwürdig; ich möchte nicht der Menge Gelegenheit zum Mißbrauch geben. Ich möchte aber auch daß das Genie uns entschädigte. (S. 801 f. der verwendeten Ausgabe)

In Wien hingegen konnte das Stück 1810 nur in einer Bearbeitung gegeben werden, die Österreich aus dem Stück strich und den Landvogt Geßler zum alleinigen Übeltäter stempelte. Der fünfte Akt wurde ersatzlos gestrichen.

Auf längere Sicht erweist sich das letzte Stück Schillers als eines seiner populärsten. Es gehörte bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts zu den am meisten gespielten Stücken des Autors und behauptet einen festen Platz im deutschen Bildungskanon, ist außerdem fester Bestandteil deutscher Schullektüre. Nicht zuletzt gehen einige Redensarten und Sprichwörter auf »Wilhelm Tell« zurück: Das betrifft gleich den Eröffnungsvers »Es lächelt der See, er ladet zum Bade« (V. 1). Am bekanntesten ist wohl: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.« (V. 1514)

Zugleich konnte das spezifische Pathos des Stücks, das ihm lange Zeit die weite Verbreitung sicherte, ab einem gewissen Punkt (Aufkündigung der Werk-Treue, Regietheater etc.) ungebrochen auf der Bühne nicht mehr reproduziert werden.

Wichtige literarische Echos finden sich in der Schilderung einer Volksaufführung des Stücks in Gottfried Kellers »Der grüne Heinrich« (1854/55) und in Max Frischs Erzählung »Wilhelm Tell für die Schule« (1971). Heinz Erhardt verfasste mit dem Gedicht »Der Apfelschuß« – wie übrigens zu vielen Klassikern – eine vergnügliche Parodie. Dort heißt es unter anderem: »Der Vater tat, wie man ihm hieß, | und Leid umwölkte seine Stirne, | der Knabe aber rief: ›Komm, schieß | mir schnell den Apfel von der Birne!‹«

Die Forschung beschäftigte sich vorrangig mit den politischen Implikationen des Stücks, seinem Zusammenhang mit der französischen Revolution und mit der Entstehung und dem Ende der Helvetischen Republik (1798-1803).

Abschließend sei Goethes Mutter zitiert, die einen Theaterzettel zu dem Stück zugeschickt bekommen hatte und am 9. April 1804 an ihren Sohn schreibt:

    Vor den mir überschickten Comedien Zettel von Willhelm Tell dancke gar gar schön, er hat mir mehr als eine Freude gemacht, erstlich habe ich das weimarer Theater personahle daraus ersehen | : freylich weiß mann manchmahl nicht weil kein Herr – keine Madam u Demoiselle dabey steht welches von den dreyen die Person eigendlich ist und vorstelt – da wir auf unsern Zettlen gleich wißen woran wir sind : | zweytens da das Kind nun des Tages Licht erblickt hat; so werde ich es auch zu sehen bekommen – und diese Erwartung macht mich sehr glücklich – Grüße Schiller! Und sage Ihm, daß ich Ihn von Hertzen Hochschätze und Liebe – auch daß Seine Schrieften mir ein wahres Labsal sind und bleiben – Auch macht Schiller und du mir eine unaussprechliche Freude das Ihr auf allen den Schnick – Schnack – von Rezenziren – gewäsche – Frau Baaßen geträsche nicht ein Wort antwortet; da mögten die Herrn sich dem sey bey ergeben – das ist prächtig von Euch – Hätte das Herr von Meyer verstanden; so hätte Er sich nicht so viel ärger zugezogen! Fahrt in diesem guten Verhalten immer fort – Eure Wercke bleiben vor die Ewigkeit – und diese armselige wische zerreißen einem in der Hand – sind das planiren nicht werth puncktum. (S. 811 der verwendeten Ausgabe)
Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.