Skip to main content

Wilhelm Tell

Akt 4, Szene 1-2

Zusammenfassung

(IV/1)
Kunz von Gersau war Zeuge der Geschehnisse in Altdorf und berichtet einem Fischer am östlichen Seeufer davon. Außerdem liege Attinghausen im Sterben. Über dem See ist ein Sturm aufgezogen, der ihn anzulanden gezwungen hat. Er geht ins Dorf.

Der Fischer betrachtet den wütenden Sturm und sinnt über die durch die Gefangenschaft Tells und den drohenden Tod Attinghausens schwierig gewordene Lage. Der Knabe entdeckt das von Uri aufgebrochene Schiff Geßlers auf dem sturmbewegten See.

Tell tritt herzu und berichtet von seiner Fahrt und Rettung. Er war mit Geßler, Rudolf dem Harras und weiteren Knechten im Schiff. Als der Sturm anhob, bat Geßler ihn auf Bitten der Bootsmannschaft, das Steuer zu übernehmen, er solle dann freikommen. Tell willigte ein, steuerte aber am Fuß des großen Axen so weit an die Felsen, dass er sich mit seiner Armbrust auf eine Felsplatte retten konnte. Von dem Fischer erbittet er Auskunft über den schnellsten Weg nach Küßnacht, wohin Geßler unterwegs ist. Er bittet ihn außerdem, seiner Frau Nachricht von ihm zu übersenden. Über sein Vorhaben schweigt er sich aus.

(IV/2)
Um den sterbenden Attinghausen, der gerade schläft, haben sich Walther Fürst, Stauffacher, Melchthal und Baumgarten versammelt. Auch Walter Tell ist anwesend, den Hedwig, hereindringend, in ihre Arme schließt. Die Männer verteidigen Tell gegen ihre Vorwürfe, er hätte nicht schießen dürfen.

Der aufgewachte Attinghausen klagt wegen des hoffnungslosen Zustands seines Landes und Stauffacher möchte ihm Hoffnung geben. Er weiht ihn in die Rütli-Verschwörung ein. Als Attinghausen vernimmt, dass nur Landmänner, keine Adeligen zu den Verschworenen gehören, fällt er in eine Vision von freien, sich verbündenden Städten und von Kriegen, in denen der Landmann sich gegen Fürsten und Könige behauptet und die Blüte des Adels fällt.

Als er gestorben ist, kommt Rudenz hinzu, der sogleich die Erbschaft seines Onkels antritt. Er sucht die Anwesenden von seiner gewandelten Gesinnung zu überzeugen und drängt zur Tat. Von der Rütli-Verschwörung wisse er bereits und die Verzögerung des Aufstands bis Weihnachten tadelt er. Besonders treibt ihn an, dass Berta gewaltsam entführt worden sei. Sie verabreden Zeichen zum Losschlagen und brechen auf.

Analyse

Mit einigem theoretischen Aufwand hatte Schiller in der »Braut von Messina« versucht, den Chor der attischen Tragödie auf der deutschen Bühne zu etablieren. Zwar nimmt der Verfasser einer Rezension zur Erstausgabe von »Wilhelm Tell« in den Göttingischen gelehrten Anzeigen vom 24.11.1804 mit Vergnügen zur Kenntnis, dass Schiller von seinem diesbezüglichen Grundsatz abgerückt sei (S. 774 f. in der benutzten Ausgabe), doch Spuren der Auseinandersetzung mit dem antiken Gestaltungselement zeigen sich in der Eröffnung des vierten Akts in einiger Deutlichkeit. Die Reden des Fischers zwischen dem Abgang Kunzens und dem Auftritt Tells, unterbrochen durch kürzere Einwürfe des Knaben, deuten in Wirklichkeit auf ein überpersönliches, nur kollektiv betroffenes, in allgemeinen Weisheiten und Urteilen denkendes Redesubjekt, wie es durch den antiken Tragödienchor konstituiert wird. Dazu gehört die detachierte Beschreibung des Naturschauspiels, des Sturmes, die Rekapitulation und Bewertung der eben vorangegangenen Ereignisse (V. 2139-2149) und die eher pessimistische Vorausschau. Der respondierende Knabe bringt die Befangenheit einer solchen, vom Allgemeinen mehr als vom Besonderen her ausgehenden Perspektive, gut zur Geltung – er ist es, der genauer hinsieht und das seenotleidende Schiff, wie auch schließlich Tell, zuerst bemerkt, der auf die Anwesenheit Tells in dem Schiff aufmerksam macht.

Die Anforderungen an die Entwicklung der Handlung, wenn noch zum Ende des vierten Akts die Ermordung Geßlers erfolgen soll, sind groß und die chorartigen Passagen zur Eröffnung des Akts ein geeignetes Mittel, dem retardierenden Moment der Gefangenschaft Tells die größtmögliche Wirkung zu verschaffen. Der panoramatische Prospekt und der Sturm erinnern an die Eröffnungsszene des Dramas und in der Reflexion des Fischers wird der gegenwärtige, in Wirklichkeit nur äußerst kurz geltende Zustand in die Dauer allgemeiner Zustände gespiegelt. Der Sturm erscheint als Ausdruck der bei der Apfelprobe aufgewühlten Affekte, als Gericht Gottes über den seenotleidenden Landvogt, schließlich als unglückliche »Unvernunft des blinden Elements« (V. 2183).

Die Rettung, die Tell gelingt und von der er berichtet, reetabliert ihn, nachdem er in III/3 zu zerbrechen gedroht hatte, als den Helden mythischen Zuschnitts, als der er in der Eröffnungsszene des Stücks aufgetreten war. Was für andere eine tödliche Gefahr ist, wird ihm zum Mittel der Rettung, denn die Gewalt der Natur schreckt ihn nicht: »Wer frisch umher späht mit gesunden Sinnen, | Auf Gott vertraut und die gelenke Kraft, | Der ringt sich leicht aus jeder Fahr und Not, | Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren.« (V. 1509-1512) Ein mehrfaches Echo im Stück hat der Schluss seiner Erzählung: »So bin ich hier, gerettet aus des Sturms | Gewalt und aus der schlimmeren der Menschen.« (V. 2269 f.) Die Szene entlässt ihn »frei und seines Armes mächtig« (V. 2297) – als jemanden, der seiner Tat durch das Wort nicht vorgreifen will.

Doch nicht nur Tell muss zur Lösung des Konflikts auf die Bahn geschickt, auch die Verschworenen sollten in Bereitschaft versetzt werden, soll die Einzeltat der Rache an Geßler keine Einzeltat bleiben, sondern pars pro toto die Beseitigung der Willkürherrschaft insgesamt bedeuten und nachsichziehen. Hierzu dient die mittlere Szene des Aktes, in der Rudenz seinen Onkel Attinghausen beerbt und in der Verschwörung eine Führungsrolle einnimmt. Wieder sekundiert die Liebeshandlung der politischen Handlung, denn die jähe Entführung Bertas drängt ihn zur Eile.

Die Szene ist ungeachtet des veränderten Kontexts dramaturgisch eine Kopie der ersten Szene des Akts. Schiller setzt in »Wilhelm Tell« nicht mehrere Szenen in eine direkte, zeitliche und kausale Folge, sondern er komprimiert in den größeren Einzelszenen die zeitliche Abfolge überspannender Handlungszusammenhänge. Wie in IV/1 wird in der Szeneneröffnung das retardierende Moment von Tells Gefangenschaft als Zustand vergegenwärtigt und auf den Apfelschuss zurückgeblickt, wie in IV/1 gibt es in der Szenenmitte eine bedeutende Wendung und am Szenenabschluss den Aufbruch zur Tat.

Hedwig spricht ein Urteil über Tells Annahme der Probe, die unter anderen Ludwig Börne teilte. Dieser schreibt 1828 (zitiert auf S. 816 der benutzten Ausgabe):

    Ein Vater kann alles wagen um das Leben seines Kindes, doch nicht dieses Leben selbst. Tell hätte nicht schießen dürfen, und wäre darüber aus der ganzen schweizerischen Freiheit nichts geworden. Man frage nur die Zeugen der Tat, man höre, was sie sagen, beobachte die Schweigenden – sie alle haben sie verdammt. Ja die gelungene Tat ist noch ganz so häßlich, als es die gewagte war; das Entsetzen bleibt, und die Furcht, der Vater hätte sein Kind treffen können, ist größer, als die Furcht, er könnte es treffen. War Geßlers Gebot so ungeheuer, daß es einen Vater ganz aus der Natur werfen konnte und er nicht mehr bedachte, was er tat: so hätte auch Tell, ohne Bedacht, dem Befehle nicht gehorchen oder den Tyrannen erlegen sollen.

Der sterbende Attinghausen wird, um ihm an seinem Lebensende Hoffnung zu geben, in die Rütli-Verschwörung eingeweiht, und antwortet mit einer glücklichen Vision von der schwindenden Bedeutung des Adels. Er prophezeit die Erweiterung des Bundes der drei Waldkantone um wichtige Städte – historisch um Luzern, Zürich, Glarus und Zug, und Bern, bis 1389 die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft von den Habsburgern anerkannt wurde. Zur »blutige[n] Entscheidung« (V. 2442) kam es tatsächlich in den Schlachten von Morgarten (1315), Sempach (1386) und Näfels (1388).

Rudenz drängt sich als Erbe selbst in die Verschwörung: Er kann sich gleichsam von außen über die Übereinkunft, mit dem Anschlag bis Weihnachten zu warten, leichter hinwegsetzen (V. 2514 f.) und bringt seine persönlichen Beweggründe, die Entführung Bertas, ins Spiel. Aufforderung und Verabredung zur Tat stehen am Ende.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.