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Wilhelm Tell

Akt 3, Szene 3

Zusammenfassung

Frießhardt und Leuthold halten Wache bei dem auf dem Platz in Altdorf aufgestellten Hut und unterhalten sich über die Möglichkeiten, die die Einheimischen gefunden haben, dem Gebot, den Hut wie ihren Herrn zu grüßen, auszuweichen.

Tell und Walter gehen über den Platz. Tell erklärt seinem Sohn den Sinn des Verbots, Holz in den Wäldern unter den Gletschern zu schlagen und spricht, angesprochen auf das flache Land, von der moralischen Verdorbenheit und dem Zwang, der dort herrsche.

Er ignoriert den Hut und wird von der Wache angehalten und des Verrats am Kaiser beschuldigt. Viele Leute kommen protestierend hinzu: Das sind Rösselmann, Petermann, Walter Fürst, Melchthal, Stauffacher und weitere Frauen und Männer, die – die Stimmung wird hitzig – gewaltsamen Widerstand erwägen. Die Wache ruft Verrat und der Landvogt Geßler erscheint mit Rudolf dem Harras, Berta und Rudenz und einem großen, bewaffneten Gefolge, das den Widerstand unmöglich macht.

Tell, von Geßler zur Rede gestellt, entschuldigt seine Missachtung des Huts mit seiner Unbesonnenheit und bittet um Gnade. Geßler spricht ihn auf seine Schießkunst an und Walter streicht diese heraus: Der Vater könne einen Apfel auf hundert Schritte vom Baum schießen. Geßler verlangt nun, Tell solle einen Apfel auf hundert Schritte vom Kopf des Sohnes schießen; wenn er sich weigere, sollen er und sein Sohn sterben. Widerstand lässt er nicht gelten, er nimmt den Apfel selbst vom Baum und verkürzt den geforderten Abstand auf achtzig Schritte. Berta ist vergeblich bemüht, das Vorhaben als Scherz hinzustellen und Geßler so eine Möglichkeit zu geben, davon wieder Abstand zu nehmen. Die Einwürfe Walter Fürsts, Stauffachers, Rösselmanns und Melchthals verfangen nicht. Geßler begründet die Probe mit seinem Unwillen dagegen, dass die Landleute Waffen tragen. Tell bietet noch einmal sein Leben an, wenn ihm nur der Schuss erlassen werde. Als er sich zum Schuss bereitet, nimmt er noch einen zweiten Pfeil aus dem Köcher und als er zu schießen sich anschickt, bricht Rudenz hervor, die Grausamkeit des Landvogts anklagend, ja ihn gleichsam – Berta wirft sich dazwischen – zum Duell herausfordernd. Während dieser Vorgänge hat Tell unbemerkt seinen Schuss getan – er ist ihm geglückt.

Geßler fragt Tell in der allgemeinen Erleichterung nach dem zweiten Pfeil, den er zu sich gesteckt habe, und Tell, nachdem eine erste Ausflucht ihm nicht abgenommen und er seines Lebens versichert wird, gesteht, er habe diesen auf Geßler schießen wollen, sofern er sein Kind getroffen hätte. Darauf lässt Geßler ihn verhaften: Er wolle ihn gleich mit sich per Schiff nach Küßnacht fahren und in ein Gefängnis werfen. Tell, auf Gottes Hilfe vertrauend, verabschiedet sich von seinen betroffenen und wehrlosen Freunden.

Analyse

Wie schon die Rütli-Szene versieht Schiller die Apfelschussszene mit einer Art losem Vorspiel. Kennzeichnete in II/2 die Konstitution der Ratsversammlung den Übertritt in die strengere Fassung, ist es hier das Einschreiten der Wächter, das den sorglosen Spaziergang von Vater und Sohn unterbricht und die Frage nach der Durchsetzung des absurden, der Erniedrigung dienenden Rechts in aller Schärfe aufwirft.

In dem Präludium zeichnen die beiden Wächter Leuthold und Frießhardt noch ein Bild von den Mitteln und Wegen, die die Rechtsdiener und das Volk gefunden haben, um eine solche Konfrontation gerade zu vermeiden. So wird der Platz ganz einfach umgangen. Oder dem Niederknien wird eine zweite Bedeutung gegeben, wenn nämlich gleichzeitig das klingende Glöckchen die in der Monstranz aufbewahrte Hostie anzeigt. Frauen und Kinder können ungescholten den Befehl missachten, und einer der Wächter selbst, Leuthold, gibt zu, eine Anzeige derjenigen, die am Hut achtlos vorübergingen, verweigern, nämlich nicht hinsehen zu wollen.

Das Gespräch zwischen Tell und Walter geht in die Weite und sieht von dem aufgestellten Hut zwanglos ab. Walter zeigt auf die über den Häusern aufragenden Berge und fragt nach der Möglichkeit eines flachen Landes. Tell erklärt seinem Sohn in einem aufklärerischen Gestus den Sinn der den Bannwald schützenden Legenden und entwirft eine etwas grobe Gegenüberstellung von der Moral und den Verhältnissen im flachen Land und dem Leben in den Bergen. Sein Fazit: »Ja, wohl ists besser, Kind, die Gletscherberge | Im Rücken haben, als die bösen Menschen« (V. 1812 f.), greift unmittelbar einen Ausspruch aus der ersten Szene auf: »Doch besser ists, Ihr fallt in Gottes Hand, | Als in der Menschen!« (V. 157 f., und vorher V. 143). Dass die Missachtung des Huts absichtslos geschah, beweisen die unbekümmerte Bemerkung des Kindes und die lapidare Antwort des Vaters (V. 1814 f.). Gewiss erinnert sich der Zuschauer, dass Tell in I/3 Zeuge der Ausrufung des absurden Gebots war, doch scheint, dass er die Bedeutung des Huts ganz einfach vergessen hat, bei seinem schlichten Charakter nicht unplausibel.

Ab der Ergreifung Tells gliedern Versuche des Widerstands und der Abwendung der Apfelprobe die Szene. Vor dem Eintreffen Geßlers scheint es noch, als könnten die herbeigeeilten Freunde es mit der Gewalt versuchen und die Empörung gleich jetzt, an Ort und Stelle, lostreten. Sobald Geßler aufgetreten ist und die Probe verlangt, bringt nur noch Melchthal, von Stauffacher sogleich auf die Kräfteverhältnisse verwiesen, einmal die Gewalt ins Spiel (V. 1975 f.). Ansonsten bietet Walter Fürst zuerst seine Bürgschaft, und dann sein ganzes Vermögen, Tell bietet sein Leben an. Berta versucht in einer typisch höfischen Wendung Geßler einen gesichtswahrenden Rückzug zu ermöglichen, wenn sie seine Forderung kurzerhand zum Scherz deklariert, den die Landleute nicht verstünden. Die Einwürfe Stauffachers und Rösselmanns verhallen wirkungslos und erst Rudenz gibt dem Widerstand eine neue Qualität, wenn er sich Geßler als ebenbürtiger Ritter, der ihn zum Duell fordern könnte, sofern der Vogt nicht als Vertreter des Kaisers dastünde, in den Weg stellt.

Die kontrastierende Szenenfolge des Akts ist somit besser integriert als es zunächst den Anschein machte. Geßler kehrt nach Altdorf von der Jagd zurück, von der sich Rudenz und Berta abgesondert hatten – er hat den Falken noch auf der Faust –, und Rudenz ergreift dort etwas unbesonnen die erste sich bietende Gelegenheit, seiner neuen Überzeugung in der Gegenwart der Geliebten Ausdruck zu geben und die Gefolgschaft gegen den Landvogt aufzukündigen. Durch sein beherztes Auftreten gibt er Tell gleichsam Deckung für seinen im Abseits der Aufmerksamkeit treffenden Schuss.

Die ikonographische Verfestigung der Probe und ihr hoher Gedächtniswert, das vorauszusetzende Wissen darum, dass Tell den Apfel trifft und nicht das Kind – all dies droht am Ende der Lust am Wiedererkennen und an der Vorführung einer im Wortsinn legendären Schießkunst den Vorrang über das Empfinden der Grausamkeit der Situation zu geben. Dabei sind die ikonographische Prägnanz und die Herausforderung sensationellen Könnens unmittelbar Erfindungen Geßlers, also Teil der Grausamkeit.

Diese besteht darin, dem Opfer die Entscheidungsmacht über das eigene Schicksal in einem willkürlich gesetzten Rahmen scheinbar wieder zu überlassen. Dieses hat unter Todesangst keine andere Wahl, als zu den Regeln des Gewalthabers zu spielen und alles für den gewünschten Ausgang aufzubringen – ohne sicher sein zu können, dass diese Regeln ihre Gültigkeit behalten. Denn die sadistische Versuchung auf Seiten des Machtinhabers besteht darin, den Unterschied zwischen gewonnenem und verlorenem Spiel am Spielausgang wieder zu kassieren und das Opfer im einen wie im andern Fall zu quälen oder zu töten.

Obwohl Tell den Apfel trifft und Geßler daraufhin sein Leben und das seines Sohnes verschont, wird an verschiedenen Stellen deutlich, welche äußerste Art von Grausamkeit der Landvogt praktiziert. So deutet er den unbefangenen, auf den Vater stolzen Ausspruch des Kindes – »‘nen Apfel schießt | Der Vater dir vom Baum auf hundert Schritte« (V. 1875 f.) – zur Selbstaussage Tells um, die dieser nun beweisen müsse; sodass das Kind sich am Ende für die Tell gestellte Aufgabe verantwortlich fühlen muss. Dass Geßler Herr über die Regeln seiner Probe bleibt, zeigt sich in der zwar günstigen, aber doch willkürlichen Änderung des geforderten Abstands – er verkürzt ihn auf achtzig Schritte (V. 1914). Schließlich, am Ende der Szene, suggeriert er Tell eine garantierte Straffreiheit für alles, was er bezüglich des zweiten eingesteckten Pfeiles sagen könnte (V. 2054 f.: »Sag mir die Wahrheit frisch und fröhlich, Tell, | Was es auch sei, dein Leben sichr ich dir.«), und verhaftet ihn doch, seine Aussage im Nachhinein auf den Wortsinn einer Garantie vor der Todesstrafe einschränkend, die im Sinne einer allgemeinen Amnestie verstanden werden musste.

Tell agiert weder als prinzipientreuer Widerstandskämpfer – er entschuldigt die Missachtung des Hutes schlicht und bittet um Gnade – noch als der seines Könnens sichere Meisterschütze, den sein von unerschütterlichem Zutrauen getragener Sohn in ihm sieht. Die gebrochene Diktion seiner ersten auf die Forderung reagierenden Replik (V. 1889-1893) und die ausführlichen Regieanweisungen (vor allem nach V. 1989, aber auch die Aussagen in V. 1980-1982) zeigen ihn als im Innersten betroffenen Mann, den sein Körper im Stich zu lassen, der innerlich zu zerbrechen droht. Von ihm gibt es keinen Freudenausruf, und das erste, was er nach dem Schuss sagt, ist, zu Geßler: »Was befehlt Ihr, Herr?« (V. 2048)

Für das Stückganze ist die bestandene Probe in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Im kausalen Zusammenhang begründet sie den aktiven Eintritt Tells in die aufständische Bewegung. Das Motiv der allgemeinen Unterdrückung verbindet sich für ihn jetzt mit seiner persönlichen Betroffenheit. Die Probe schlägt in diesem Zusammenhang als weitere Grausamkeit Geßlers zu Buche; dass Tell sie überlebt hat, ist nur Voraussetzung dafür, dass er aus seiner Betroffenheit heraus noch zu handeln in der Lage ist. Die genauen Umstände seiner vergeltenden Tat ergeben sich unmittelbar aus seiner Verhaftung.

Der klassische Dramenaufbau fordert für den dritten Akt den entscheidenden Handlungsumschlag, und dieser Forderung wird die Apfelschussszene in beispielhafter Weise gerecht. Denn gleichzeitig darf der Handlungsumschlag noch nicht die Katastrophe, den Handlungsausgang, beinhalten, sondern es muss bis zur vollständigen Klärung des Konflikts noch ein Weg zu gehen bleiben, auf dem retardierende Momente wirken. Nicht Tell, aber andere etablieren eine Ebene, auf der die Probe repräsentativ für die Auseinandersetzung mit der Willkürherrschaft insgesamt gilt. Es ist Geßler selbst, der solche Aussagen vor dem Schuss macht – »Jetzt, Retter, hilf dir selbst – du rettest alle!« (V. 1989) – und es sind die Freunde Tells, die in dem Gelingen der Probe ein göttliches Zeichen sehen (V. 2069 f.). Schließlich, als Tell weggeführt wird, ruft Stauffacher: »O nun ist alles, alles hin! Mit Euch | Sind wir gefesselt und gebunden!« (V. 2090 f.)

In der Gefangenschaft Tells, der nicht gebrochen wurde, sondern zuletzt zu seinem Gottvertrauen zurückgefunden hat (V. 2097), liegt also das Moment, dass den Vollzug des bisher nur symbolisch bezeichneten Siegs über den Landvogt noch aufhalten kann.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.