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Wilhelm Tell

Sprache und Stil

Schiller plante zunächst, sein Drama in Prosa zu schreiben (Brief an Iffland vom 5.8.1803, S. 751 der benutzten Ausgabe), entschied sich dann aber doch für die Versform.

Das Stück folgt dabei der ab »Maria Stuart« in seinem dramatischen Werk einsetzenden Tendenz, die klassizistische Strenge nur einer, für das gesamte Stück gültigen versifikatorischen Vorgabe aufzuweichen. Das übergeordnete Schema sieht also einen Standardvers und zahlreiche Abweichungen vor.

Der Standardvers des Stückes ist der Blankvers, also der ungereimte, unregelmäßig kadenzierte, fünfhebige Jambus. Gewisse Spielräume sind der Nutzung dieses Verses bereits inhärent: So kann es vorkommen, dass die fünf Hebungen nicht voll gemacht werden – z. B. im letzten Vers der Rede, die Attinghausen vor seinem Tod hält: »Seid einig – einig – einig –« (V. 2451). 

Unauffällig ist auch eine recht große Flexibilität in der konkreten Handhabung des Metrums. Den Vers 2301: »Zeig ihm den Weg, Jenny – Gott steh ihm bei!«, wird man kaum im strengen jambischen Metrum betonen, eher wohl: XxxXXx – XxxX. Es genügt, dass eine jambische Betonung möglich wäre. Zur Belebung des Metrums geradezu geboten sind häufigere Inversionen der Betonungsstruktur am Versbeginn nach dem Schema XxxXxXxXxX(x), z.B. in Vers: 2282: »Nennt mir den nächsten Weg nach Arth und Küßnacht.«

Schließlich sollte der Vers als Einheit sich nicht übermäßig aufdrängen, sollte die syntaktische Struktur und die auf der Bühne vorgetragene Rede leicht über die Versgrenzen hinweggehen dürfen. Schiller praktiziert dies häufig so, dass er in der Mitte einer längeren, syntaktisch zusammenhängenden Passage die Versgrenzen überspielt, dass ihr Anfang und ihr Ende jedoch mit den Versschlüssen zusammenfallen (vgl. V. 1882-1889: Der Schluss der Rede – »Denn fehlst du ihn, so ist dein Kopf verloren.« – hat wieder ganz die prägnante Verslänge).

Es gibt aber auch Passagen, in denen Syntax und Vers streng aufeinander abgestimmt sind und in denen der Rednerwechsel regelmäßig nach ein oder zwei Versen erfolgt. Der Fachbegriff dafür lautet Stichomythie für einversige Redebeiträge und Distichomythie für Rednerwechsel nach je zwei Versen. In der attischen Tragödie war die formale Besonderheit Dialogen mit Duellcharakter vorbehalten; Schiller macht von ihr einen weiter gefassten Gebrauch. Gleich in der ersten Szene charakterisieren die kurzen Wechselreden die versammelten Landleute (V. 46-56). Ein- oder zweiversige Redebeiträge sind außerdem für Wilhelm Tell charakteristisch: Man könnte so weit gehen zu sagen, dass es, sobald er auftritt, eine Tendenz zur Stichomythie oder Distichomythie gibt (vgl. V. 127-160, 414-445, 1479-1584 – hier mit der längeren erzählenden Passage, 1801-1816, 2657-2690).

Alle bisher besprochenen Phänomene liegen noch innerhalb der Gestaltungsmöglichkeiten, die der Blankvers bietet. Dieser Bereich wird nun gelegentlich in zwei Richtungen verlassen: Es gibt Lieder und es gibt Reime. Die Lieder kennzeichnet neben ihrer gesungenen Darbietungsform in der Regel ein vom fünfhebigen Jambus des Blankverses abweichendes Metrum und ein Reimschema. Die in die gesprochene Rede eingeflochtenen Reime hingegen bedeuten nicht so sehr einen Bruch mit dem Standardmetrum, als einen außer der Regel liegenden Zusatz an klanglichem Zusammenhang.

Von den vier Liedern werden drei zu Beginn des Stückes von den Landleuten, von dem Fischer, dem Hirten und dem Jäger zur selben Melodie, dem Kuhreihen, gesungen, das vierte Lied singt Walther Tell zu Beginn des dritten Akts.

Die ersten drei Lieder verbinden die gleichen metrischen Vorgaben: Es gibt vierhebige und zweihebige Verse, das Metrum ist daktylisch mit einer Lizenz zur gelegentlichen, einfachen Senkung (V. 6: »Im Paradies«); der Auftakt ist Pflicht, auch der Doppelauftakt ist erlaubt (V. 18-20, 33). Die vierhebigen Verse verbindet immer ein Paarreim, für die stets in Vierergruppen auftretenden zweihebigen Verse gibt es wechselnde Reimschemata (xAxA, xBxB, XccX als Refrain wiederholt, xDxD, xExE). Betrachtet man die Liedergruppe als Ganzes, drängt sich das Schema ABA auf: das Fischer- und das Jägerlied haben eine identische Struktur, in dem mittleren Hirtenlied aber liegen die je zwei vierhebigen Verse in der Mitte des Liedes direkt beieinander, gerahmt durch die im Wortlaut identischen beiden Vierergruppen.

Das Lied Walther Tells ist dreistrophig, das Metrum ist ein ein dreihebiger Trochäus, das Reimschema aBaB.

Über das Vorbild Shakespeares lassen sich gereimte Aktschlüsse rechtfertigen: Gereimt sind in »Wilhelm Tell« tatsächlich alle Aktschlüsse bis auf den dritten, und auch der Abschluss einzelner Szenen wird so markiert, z. B. der Szene IV/1. Bereits in »Maria Stuart« hatte Schiller außerdem begonnen, Passagen besonderer, vor allem lyrischer Intensität mit Reimen zu versehen. Dort waren dies wenige, herausgehobene Stellen gewesen, die dadurch im Gedächtnis blieben. In »Wilhelm Tell« greift noch dasselbe Prinzip – man denke etwa an die Schlusspassagen des Rütli-Schwurs, an die leidenschaftliche Aussprache von Rudenz und Berta im Wald – doch sind der Reime insgesamt so viele, dass eine gedächtnisstiftende Wirkung des formalen Mittels ausbleibt.

Die frühneuzeitliche Regelpoetik verlangte im Drama die stilistische Markierung ständischer Unterschiede: Ein Bauer durfte nicht wie ein Adliger sprechen, ein Bürgerlicher nicht wie ein Fürst. Das Gebot war nicht allein Rücksichten der realistischen Nachahmung geschuldet; sondern die allgemein gültige hierarchische Struktur der Gesellschaft war auf der Bühne mitzurepräsentieren. Eine falsche Zuordnung von Handlungsgegenstand und handelndem Personal wurde als unschicklich empfunden.

Schiller hatte selbst mit »Maria Stuart« ein klassizistischen formalen Anforderungen genügendes Stück verfasst, und indem er für »Wilhelm Tell« die Versform wählt, ruft er die entsprechenden Konventionen wenigstens als Ausgangspunkt für mögliche Abweichungen wieder auf.

Nun weist das Personal dieses Stückes in ständischer Hinsicht einige Besonderheiten auf. Zwar gibt es eine deutliche Scheidung adliger und nicht-adliger Personen, doch bedingt die besondere politische Verfassung der Waldkantone, ihre Reichsunmittelbarkeit nämlich, einen Rang selbst der unabhängigen Bauern gleich unter dem Kaiser. Zugleich lassen sich die Adligen – Attinghausen und dann auch Rudenz – in besonderer Weise zu ihren nicht-adligen Landsleuten herab: Sie verzichten ostentativ darauf, ihre ständische Überlegenheit zur Geltung zu bringen.

Zur politisch abwägenden und argumentierenden Rede und zu längerer, übergreifender Darstellung fähig zeigen sich neben den adligen Attinghausen und Rudenz die führenden Köpfe der Rütli-Verschwörung: allen voran Stauffacher, der den langen historischen Exkurs bewältigt, aber auch seine Frau; ferner Baumgarten, Melchthal und Walther Fürst. In der Rütli-Szene kommen auf derselben Stilhöhe noch weitere Figuren hinzu, die danach keine Rolle mehr spielen – Reding, Winkelried, Rösselmann, Im Hofe, Konrad Huhn und andere.

Auch die adlige Berta spricht in diesem Ton. Darunter gibt es viele Figuren mit kurzem Text: Landleute wiederum, von denen nicht ohne Weiteres zu sagen ist, ob nur die Gelegenheit fehlte, ihre Eloquenz hervorscheinen zu lassen. Jedenfalls verwendet Schiller keine große Mühe darauf, ein besonders niedriges stilistisches Register zu markieren. Das gilt sogar für den Knaben Walther Tell.

Die Hauptfigur verdient besondere Aufmerksamkeit. Erwähnt wurde schon ihre Kurzangebundenheit an vielen Gelegenheiten. Tell spricht bevorzugt in allgemeinen, knappen Sentenzen, die prägnant und etwas ungeschlacht in dem sonstigen Fluss der situationsbezogenen Rede dastehen und von denen viele im kulturellen Gedächtnis lange einen Platz behaupten konnten. Man blicke nur auf das Zwiegespräch mit Stauffacher in der dritten Szene des ersten Akts. Dort heißt es auf der Strecke von V. 387 bis V. 437 aus seinem Munde nacheinander in einer Häufung, die zur Parodie einlädt:

    Was Hände bauten, können Hände stürzen.
    Das Haus der Freiheit hat uns Gott gegründet.
    Das schwere Herz wird nicht durch Worte leicht.
    Die einz’ge Tat ist jetzt Geduld und Schweigen.
    Die schnellen Herrscher sind’s, die kurz regieren.
    Die Schlange sticht nicht ungereizt.
    Beim Schiffbruch hilft der Einzelne sich leichter.
    Ein jeder zählt nur sicher auf sich selbst.
    Der Starke ist am mächtigsten allein.

Ähnlich aufdringlich erfolgt diese Art der Charakterisierung noch in der ersten Szene des dritten Aufzugs (u. a. V. 1514: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.«).

Scheint dies Tells gewöhnliche Ausdrucksform, zeigt er sich doch, wenn erforderlich, zu anderen Arten der Rede in der Lage. Zu nennen sind die beiden narrativen Passagen, in denen er Hedwig von seiner Begegnung mit Geßler (III/1), und dem Fischer von seiner Rettung im See berichtet (IV/1). In der Apfelschussszene verliert seine Diktion die etwas grobe, holzschnitthafte Sicherheit: Nachdem Geßler seinen Befehl ausgesprochen hat, stammelt er fünf, nur durch Gedankenstriche gegliederte Verse lang (V. 1890-1894). Diese Lockerung des inneren Verbunds seiner Rede und ihre Verknappung sind psychologisch motiviert und ebenso plausibel ist, dass er zu längeren, zusammenhängenden Erzählungen in der Lage ist: Sonst müsste er einfältig erscheinen.

Eine Ausnahme anderer Art hingegen stellt der Monolog in IV/3 dar. Die Gliederung in Absätze von einer Länge um die acht Verse und die Pointierung ihrer Abschlüsse durch einen Paarreim, von der nur die ersten beiden und der vorletzte Absatz ausgenommen sind, erinnern an die Gliederung in Stanzen oder Ottaverime, die immer acht Verse umfassen, und in denen auf drei alternierende Reime ein abschließendes Couplet folgt (Schema abababcc). Typisch ist vor allem das Verhältnis einer mit Strophenbeginn einsetzenden Entwicklung eines Gedankens und seiner konklusiven Zuspitzung am Schluss. Die Auftakte der Absätze in Tells Monolog sind feierlich (»Ich lebte still und harmlos«, »Du bist mein Herr und meines Kaisers Vogt«, »Komm du hervor, du Bringer bittrer Schmerzen«, »Sonst wenn der Vater auszog, liebe Kinder«) und auffällig ist die weibliche Kadenzierung der meisten Strophenabschlüsse – wie auch in den Ottaverime, nach italienischem Vorbild, nur die weibliche Kadenzierung erlaubt ist. Die Ausführlichkeit der Rede leitet sich nicht unmittelbar aus ihrem Gegenstand her, wie bei den narrativen Passagen, sondern resultiert aus der Intensität einer inneren Einkehr. Deren psychologische Plausibilisierung steht auf nicht so sicherem Grund wie bei der Apfelschussszene. Vom Text her ließe sich anführen, dass Tell offenbar bereits am Ende der ersten Szene des vierten Akts den Entschluss zu seiner Tat gefasst hat – gibt er nicht schon Stauffacher in der dritten Szene des ersten Akts gegenüber an, er werde sich an dem Aufstand an einem kritischen und besonders gefährlichen Punkt, wenn er gerufen werde, beteiligen? Sieht es dann Tell, wie er bisher vorgeführt wurde, ähnlich, sich vor sich selbst noch einmal derart wortreich zu rechtfertigen? So oder so – festzuhalten bleibt, dass Schiller in dem Monolog ein für Tell und für das ganze Stück einzigartiges stilistisches Register wählt.

Das Stück spielt fern vom Hofe: Die rhetorisch geschulte Rede, die etwa die Figuren in »Maria Stuart« führen, klänge im Mund der Eidgenossen verkehrt. Stattdessen gibt es archaisierende Anleihen im homerischen Duktus. Das wird besonders deutlich in den Einleitungsformeln der politischen Reden in der Rütli-Szene: »Hört was mir Gott in’s Herz gibt Eidgenossen!« (V. 1108), »Hört, was die alten Hirten sich erzählen« (V. 1166), »Nun ist’s an euch, Bericht zu geben. Redet.« (V. 1323).

Der Fischer spricht im Wechsel mit seinem Knaben in der ersten Szene des Vierten Akts – darauf wurde in der Analyse bereits hingewiesen – im Duktus des Chors einer attischen Tragödie.

Schließlich gibt es deutliche biblische Anleihen: So, wenn Tell zu Beginn der Apfelschussszene zu den Umstehenden, die ihm mit Gewalt beistehen, sagt: »Geht, gute Leute, | Meint ihr, wenn ich die Kraft gebrauchen wollte, | Ich würde mich vor ihren Spießen fürchten?« (V. 1846-1848) Zugrunde liegt hier die Gefangennahme Jesu in Matthäus 26, 52-53: »Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken?«

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.