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Wilhelm Tell

Akt 4, Szene 3

Zusammenfassung

Tell lagert sich über der hohlen Gasse bei Küßnacht auf einem Felsvorsprung hinter einem Holunderbusch, um Geßler mit seiner Armbrust aufzulauern.

Er gibt sich von seinem Vorhaben Rechenschaft: Erst Geßler habe ihn aus der Unschuld seines Jägerberufs gerissen und Gedanken vom Mord eingegeben. Mit dem nächsten Schuss des Landvogts Herz zu treffen habe er sich, als er auf das Kind zielte, geschworen. Zwar sei Geßler des Kaisers Vogt, doch habe er seine richterlichen Befugnisse überschritten und müsse die Strafe Gottes fürchten. Er redet liebevoll und ermutigend seine Armbrust an und betrachtet die vorbeiziehenden, einander gleichgültigen Wanderer. Wenn er sonst von seinen Jagdzügen stets für die Kinder etwas mitbrachte – auch jetzt handelt er zu ihrem Schutz. Sein Leben lang hat er sich redlich in der Kunst des Schützen geübt – jetzt wolle er den Meisterschuss tun und den höchsten Preis im Gebirge gewinnen.

Als eine Hochzeit den Weg hinaufzieht, gesellt sich der Tell unbekannte Flurschütze Stüssi zu ihm und fordert ihn auf, zum Hochzeitsfest mitzukommen, denn jeder sei geladen. Tell antwortet ablehnend und knapp und Stüssi berichtet von Unglücken und Zeichen im Land. Ein Wanderer kündigt an, dass der Landvogt heute nicht mehr kommen werde, weil eine Flut Brücken zerstört habe, doch gleich darauf bereitet Frießhardt ihm den Weg. Die Bäuerin Armgart erwartet ihn mit ihren Kindern, weil er ihr hier nicht ausweichen kann. Bevor der Landvogt erscheint, zieht sich Tell zurück; auch Stüssi geht ab.

Geßler ist mit Rudolf dem Harras im Gespräch. Rudolf scheint zur Milde zu mahnen, Geßler aber beruft sich auf den Auftrag, den er vom Kaiser habe: Er solle die Bauern zum Gehorsam zwingen. Diesem Zwang diene der Hut. Das kleine Volk der Waldkantone sei der Erweiterung der Hausmacht Habsburgs im Weg und müsse sich unterwerfen.

Armgart wirft sich ihm in den Weg und bittet um die Freilassung ihres Mannes, der bereits sechs Monate ohne Richterspruch im Gefängnis sitzt, eines Wildheuers vom Rigiberg, der dort, wo das Vieh nicht hinkommt, das Gras mäht. Rudolf verspricht ihr Gnade, und will sie auf die Burg verweisen, wo sie angehört werden solle, sie aber möchte jetzt vom Landvogt Gerechtigkeit. Dieser befiehlt ihr zu weichen, doch sie wirft sich mit ihren Kindern vor dem Pferd auf den Boden. Die Hochzeit versperrt den Knechten, die Geßler rufen möchte, den Weg. Er sieht sich in seinem Vorsatz, den Willen des Volkes zu brechen, gestärkt, und denkt über ein neues Gesetz zu seiner Unterdrückung nach, als er von Tell erschossen wird.

Geßler erkennt Tells Pfeil und dieser zeigt sich ihm von der Höhe, die Freiheit der Hütten und die Sicherheit der Unschuld verkündend. Der Hochzeitszug erscheint wieder musizierend, bis Rudolf Stillschweigen befiehlt. Heftige Gesten des Landvogts können nicht mehr entziffert werden. Das herbeigelaufene Volk ruft, das Land sei frei und Rudolf befiehlt den Knechten, nach Küßnacht zu eilen, um die Burg zu sichern. Barmherzige Brüder treten im Halbkreis zu dem Leichnam und singen in tiefem Ton ein Leid von dem plötzlich hereinbrechenden Tone, der einen jeden zum Gericht ruft.

Analyse

Der Monolog Tells ist das letzte Glied einer das dramatische Werk Schillers durchziehenden Kette von Entscheidungsmonologen. Dazu gehören, chronologisch rückwärts, die Monologe in »Die Jungfrau von Orleans« IV/1, »Maria Stuart« IV/10, »Wallensteins Tod« I/4, »Don Karlos« III/5, »Kabale und Liebe« IV/8, »Fiesko« IV/15, »Räuber« IV/15. Aufschlussreich ist die Auseinandersetzung Schillers mit dem Direktor des Berliner Nationaltheaters Iffland über die Stelle. Iffland schreibt in einem Details der Inszenierung betreffenden Fragebogen an Schiller vom 7.4.1804 (zitiert auf S. 807 der benutzten Ausgabe):

    Als ich im Lesen an den Monolog Tells kam, ward ich sehr gespannt, als ich auf die zweite Seite gerieth, verlor sich diese Spannung; und da der Monolog zu Ende war, bemeisterte sich meiner eine wunderbare Empfindung. Das Bildnis Tells hatte den lieblichen Schimmer verloren, die Vernunft konnte den langsamen, vesten Vorsatz des Mordes begreifen; aber ich weiß nicht, was sich inwendig regte und mir zuflüsterte: so lange sollte Tell vor dem Morde nicht da stehen und mit sich allein dabei reden. Freilich heißt dies Reden eigentlich dencken, und soll nicht Reden bedeuten; allein diese Bemerkung vergißt sich und Tell verliert darüber.

Und Schiller antwortet an eben der Stelle:

    Gegen Empfindungen läßt sich durch Argumente nicht streiten. Tells Monolog, das beste im ganzen Stück, muß sich also selbst erklären und rechtfertigen. Gerade in dieser Situation, welche der Monolog ausspricht, liegt das Rührende des Stücks, und es wäre gar nicht gemacht worden, wenn nicht diese Situation und dieser Empfindungszustand, worinn Tell sich in diesem Monolog befindet, dazu bewogen hätten. Uebrigens ist dieser Monolog bei der Vorstellung von einer sehr hohen und allgemeinen Wirkung gewesen, und kein Theil der Rolle war für den Schauspieler so belohnend.

Blickt man auf den in dem Monolog dargestellten Gedankengang, zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit. Zu Beginn betont Tell den Bruch, den der Vorsatz zum Mord mit seinem bisherigen Leben bedeutet, aus dem er durch den geforderten Schuss auf den Apfel herausgerissen worden sei. Gegen Ende hingegen setzt er den Schuss, den er nun versenden will, in eine Kontinuität mit seinem Jägerhandwerk – ja er bezeichnet ihn am Schluss des Monologs als dessen Höhepunkt.

Dazwischen reißt Tell zur Deutung seines Vorsatzes verschiedene Bedeutungsperspektiven an. Da ist die Pflicht des Schutzes der Familie (V. 2577-2579), der Gott gegebene Eidschwur, mit dem nächsten Pfeil Geßlers Herz zu treffen (V. 2584-2589); dann sieht er sich nur als Werkzeug eines die Übertretungen Geßlers strafenden Gottes (V. 2590-2596); wenn die »fromme Bitte« (V. 2600) seiner Landsleute keinen Zugang zum Herzen des Landvogts fand – sein Pfeil soll ihn finden.

An dieser Stelle ruht die rechtfertigende Gedankenarbeit für eine kurze Weile: die Anrede an die »[v]ertraute Bogensehne« (V. 2602) dient der eigenen Stärkung und in der Betrachtung der den Hohlweg benutzenden Leute wird ihm seine durch den Mordvorsatz bedingte Absonderung von dem allgemeinen Treiben bewusst.

Die Integration des Mordes in das Jägerethos Tells leisten in den letzten dreißig Versen des Monologs verschiedene metaphorische Übertragungen. Sonst, wenn er jagen ging, brachte er für die Kinder etwas mit; »[j]etzt geht er einem andern Waidwerk nach« (V. 2628), doch auch jetzt sind seine Gedanken bei den Kindern, die er verteidigen will. Der erste Satz des nächsten Absatzes verzichtet bereits auf die umständliche, die Paralellsetzung unterstützende syntaktische Konstruktion (sonst – jetzt – und doch – auch jetzt): »Ich laure auf ein edles Wild« (V. 2635), heißt es in schlichter Metaphorik, und diese Gleichsetzung des Mordopfers mit einem besonders mühsam zu erlangendem Stück Beute, mit einem großen Jagdpreis wird in den dann wieder weiter ausschwingenden Sätzen des Monologendes nur noch ausbuchstabiert.

Eigentlich handelt es sich also nicht um einen Entscheidungsmonolog, sondern um die Bemühung, den Widerspruch zwischen dem neuartigen Vorsatz des Tyrannenmordes und dem bisher lebensbestimmend gewesenen Ethos des Gebirgsjägers aufzulösen. Die Gründe, die eine Überschreitung des Tötungsverbots rechtfertigen, werden nicht abgewogen, vor allem wird eine Gegenposition in Tell nicht laut. Er bedenkt keine alternativen Handlungsmöglichkeiten und einzig die Wiederholung des Schutzmotives gibt diesem einen gewissen Vorrang. Nicht als Ergebnis einer argumentativen Anstrengung gelingt die Integration des Tyrannenmords in das Selbstverständnis als Jäger, sondern mit den Mitteln einer poetischen Prozedur. Die Vermittlung zwischen der einen, anfangs vorgetragenen Position und der Position des Schlusses ist eigentlich keine Vermittlung, sondern eine Ablenkung. Tell wendet sich den vorbeiziehenden Leuten zu – und wenn er wieder auf sein Thema zurückkommt, ist der Widerspruch aufgelöst.

Die Ausführung des Mordes versieht Schiller mit einer üppigen, symbolischen Orchestrierung, die weit über die Erfordernisse einer realistischen Darstellung hinausgeht. Die Unglücke und Zeichen, von denen Stüssi der Flurschütz zu berichten weiß, rücken die bevorstehende Tat in einen kosmischen Zusammenhang (man denke an Horatios Bericht kurz vor Erscheinung des Geists in »Hamlet« I/1). Die Hochzeit treibt den Kontrast, den Tell zwischen sich und dem fortlaufenden Treiben der Welt schon bemerkte, auf die Spitze. Vor allem der rührende Auftritt der Bittstellerin Armgart aber setzt Geßlers Hartherzigkeit noch einmal in Szene und dient dem Meuchelmord Tells zur zusätzlichen Rechtfertigung. Rudolfs mäßigende Worte beweisen, dass Geßler nicht Opfer falscher Ratgeber ist, sondern selbst Quell der eigenen Grausamkeit. Der Auftritt der Barmherzigen Brüder und ihr düsterer Choral rücken den Szenenschluss endgültig ins Opernhafte.

Noch einmal mit Blick auf den Monolog fragt sich, wie richtig selbst die Gleichsetzung des Mordes mit der Jagd eines edlen Wildes ist. Tell spricht von den Gefahren, denen der Gebirgsjäger sich aussetzt, der sichs nicht verdrießen lässt, »Tage lang | Umher zu streifen in des Winters Strenge, | Von Fels zu Fels den Wagesprung zu tun, | Hinan zu klimmen an den glatten Wänden, | Wo er sich anleimt mit dem eignen Blut« (V. 2636-2640). Hier aber schießt er ohne Gefahr aus dem sicheren Hinterhalt auf den Wehrlosen, der keine Gefahr vermutet (man vergleiche die Einschätzung von Ludwig Börne, zitiert auf S. 817 f. der benutzten Ausgabe).

Etwas eilig stellen das Volk und Rudolf der Harras am Ende der Szene die Tat in den Zusammenhang einer allgemeinen Empörung.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.