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Wilhelm Tell

Akt 1, Szene 1-2

Zusammenfassung

(I/1)
Am Ufer des Vierwaldstättersees, gegenüber von Schwyz, gehen Fischer, Jäger und Hirten im hellen Sonnenschein ihrer Arbeit nach. Der Sommer geht gerade zu Ende. Als ein Gewittersturm aufzieht, kommt Konrad Baumgarten aus Unterwalden zum Ufer und bittet den Fischer Ruodi, ihn über den See zu setzen. Er werde von Landenbergischen Reitern verfolgt, weil er den kaiserlichen Burgvogt Wolfenschießen mit der Axt in Notwehr erschlagen habe; dieser habe versucht, seine Frau zu vergewaltigen. Ruodi verweigert wegen des heraufziehenden Sturms die Überfahrt. Auch Wilhelm Tell, der hinzutritt, drängt ihn, die Fahrt zu wagen, und als Ruodi bei seiner Weigerung bleibt, beschließt Tell, der auch steuern kann, den Fährdienst zu übernehmen. Als die Landenbergischen Reiter kommen, ist er mit Baumgarten schon auf dem See. Die Reiter rächen sich bei den versammelten Landleuten durch das Verbrennen der Fischerhütte und das Einfallen in die Herde.

(I/2)
Vor seinem Haus in Schwyz hat sich Stauffacher eben mit Pfeiffer aus Luzern besprochen, der ihn ermahnt, seinen Treueschwur gegen das Reich nicht gegen einen Schwur auf Österreich zu vertauschen. Als Pfeiffer fort ist, kommt Gertrud, Stauffachers Frau, zu ihm und fragt nach dem Grund für seinen Kummer. Stauffacher, der ein wohlhabender Bauer ist, berichtet von einer Begegnung mit dem Landvogt Geßler, der an Stauffachers Freiheit, sein eigenes Haus nach eigenem Vermögen zu bauen, Anstoß nahm und Widerstand ankündigte. Gertrud stellt die Begegnung in den allgemeinen politischen Kontext: Die Schwyzer betrachten sich als unmittelbare Untertanen allein des Kaisers und wollen auf das österreichische Fürstenhaus, das der Landvogt vorstellt, nicht schwören. Auch auf der anderen Seite des Sees, in Unterwalden und im Urner Land, sei die Situation unter dem Landvogt Landenberger ähnlich. Gertrud rät Stauffacher, sich mit Gleichgesinnten zu beraten und Stauffacher stellt ihr die Gefahren einer gewaltsamen Empörung vor Augen, denen sie zu begegnen sich aber bereiterklärt. Stauffacher, bewegt von dem Mut seiner Frau, bricht sogleich nach Uri zu Walter Fürst und zu dem adeligen Attinghaus auf. Als er fortgeht, kommt Tell mit Baumgarten gerade an: Er empfiehlt dem Flüchtigen das Haus Stauffachers zum sicheren Aufenthalt.

Analyse

Der Dramenauftakt hat die doppelte Funktion, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu bannen und die für das Verständnis des dramatischen Konflikts notwendigen Informationen zu vermitteln. Diese Anforderungen stehen zueinander in einem gewissen Widerspruch. Zur Erregung der Aufmerksamkeit bedarf es dynamischer Handlung: so als würde sich jetzt schon etwas entscheiden. Zur Darstellung der weiteren Zusammenhänge des Konflikts und seiner Vorgeschichte hingegen bedarf es gerade der Abwesenheit unmittelbarer Aktion, und des ruhigen, für eine gewisse Zeit ungestörten Gesprächs. Im barocken Roman ist dieser Widerspruch so aufgelöst worden, dass die Erzählung tatsächlich in dem entscheidenden Moment der Handlung einsetzt, und alles vor diesem Einsatz Liegende in umfangreichen Binnenerzählungen nachgeholt wird. Im Drama gibt es diese Möglichkeit nicht; jedenfalls ist ein Tell-Stück, das gleich mit dem Apfelschuss begönne, schwer vorstellbar.

Dennoch reproduziert Schiller die für den Barockroman gültige Lösung, wenn er sein Stück mit dramatischer Aktion eröffnet und das informierende Gespräch im Sinne einer Beruhigung des Bühnengeschehens darauffolgen lässt.

Der Konflikt hat eine historische Dimension und in dieser Hinsicht sehr spezifische Voraussetzungen. Er lässt sich aber auch verallgemeinern.

Die um den Vierwaldstättersee gelegenen Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden gelten als reichsunmittelbar, das heißt, sie sind direkt dem Kaiser unterstellt. Sie bitten den noch nicht zum Kaiser gekrönten römisch-deutschen König Albrecht I. aus dem Haus Habsburg 1304 um die Entsendung eines höchsten Gerichtsherrn, der ihre Reichsunmittelbarkeit anerkennt. Dieser möchte die Waldkantone wie schon Luzern seiner Hausmacht gerne einverleiben und schickt zwei habsburgische Landvögte, Geßler und Landenberg; Landenberg wiederum beruft auf Befehl Albrechts Wolfenschießen zum Herrn der Burg Roßberg. Diese drei herrschen mit grausamer Willkür und bedrohen die Freiheitsrechte der Kantone. Statt allein dem Reich, sollen sie dem habsburgischen Fürstenhaus und Österreich die Treue schwören. Dass dies eine Herabstufung bedeutete, wird deutlich, wenn Gertrud das Rangverhältnis von Geßler und Stauffacher erläutert. Stauffacher ist Bauer ohne herrschaftliche Gewalt, dennoch steht er über dem Landvogt Geßler; denn Stauffacher ist direkter Untertan des Kaisers wie sonst ein Reichfürst (V. 264), Geßler jedoch Diener seines Fürstenhauses Habsburg.

Schiller bringt die historischen Spezifika des Konflikts also durchaus zur Darstellung, gleichzeitig zeigt sich aber ein Bemühen auch um Verallgemeinerung und Vereinfachung. In der um die besonderen Umstände gekürzten Fassung des Konflikts handelt es sich um den allgemeinen Fall einer Willkür- und Gewaltherrschaft und einer gegen diese sich wendenden Rebellion.

Gebannt wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers in der ersten Szene schließlich durch einen Fall, der an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig lässt und sich beliebig auf andere historische und geographische Verhältnisse übertragen ließe. Kein Publikum wird sich auf die Seite der obrigkeitlichen Partei schlagen und Baumgarten, der durch den Mord an Wolfenschießen seine Frau vor der Vergewaltigung bewahrt hat, die herzliche Anteilnahme verweigern. Der Fall ist der erste von mehreren Fällen, die die Willkürherrschaft der Landvögte illustrieren, und deren Anhäufung der Rebellion den Grund bereitet. Nicht an der allgemeinen Bedrohung der lehnsrechtlichen Verhältnisse der Kantone, sondern an Einzelfällen groben Unrechts entzündet sich die Wut der Bürger.

Es soll sich gleich zu Beginn etwas entscheiden, ohne dass darüber hinaus schon etwas entschieden würde – so könnte man die wiederum widersprüchlichen Anforderungen an dieses erste Stück dynamischer Handlung in der Dramenexposition formulieren. Zwar konnte Baumgarten Wolfenschießen erschlagen, doch die obrigkeitliche Gewalt wird deswegen nicht gebrochen. Zwar gelingt ihm die Flucht, doch suchen seine Verfolger ihrer Rache kurzerhand ein anderes Ziel.

Die expositorische Funktion der Szene erschöpft sich jedoch in der Darstellung eines ersten, den allgemeinen Zustand illustrierenden, und gleichwohl unverändert lassenden Falles nicht. Tatsächlich kann sie in einigen Zügen als Präfiguration des gesamten Dramas gelten. Mord aus Notwehr – so rechtfertigt Tell in der dritten Szene des vierten Akts auch seinen Mordanschlag auf Geßler. Die durch den Rütli-Schwur Verbundenen zeigen sich allein als zur Rettung des Gemeinwesens unfähig, sie bedürfen der befreienden Tat des Einzelgängers Tell. So bringt der Fischer Ruodi mit Verweis auf seine Rolle als Familienvater den Mut, sich auf das sturmbewegte Wasser zu begeben, nicht auf – es bedarf Tells, den auch diese Rücksicht nicht aufhält. Die Überquerung des Sees im Sturm weist auf den Sturm voraus, in dem Tell sich aus der Gefangenschaft Geßlers retten wird (IV/1).

Die Kulisse tut ein übriges, den umfassenden Kontext zu vergegenwärtigen, auf den das Einzelgeschehen zu beziehen ist. Der See verbindet die betroffenen Kantone und macht sie durch die über ihn hinweg ermöglichte Aussicht auf Schwyz anschaulich. Fischer, Hirte und Jäger variieren bei der Öffnung des Vorhangs denselben Kuhreihen in idyllischer Harmonie. Die Bedeutung des heraufziehenden Sturmes wechselt in den wechselnden Perspektiven: Zunächst erscheint er als Störung des ersten, des angenehm-idyllischen Zustands. Dann ist er es, der Baumgartens Flucht aufhält, ja, unmöglich zu machen scheint. Dadurch bekommt er die Funktion, das spezifische Verhältnis von Tell zu den Übrigen kenntlich zu machen: Dort, wo die kollektive Anstrengung versagt, rettet nur der Mut des unabhängigen Einzelgängers. Tell ist es denn auch, der den Sturm als Naturphänomen und Bestandteil der göttlichen Ordnung der politischen Bedrohung gegenüberstellt und die erste Assoziation löst: »Der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen«, sagt er (V. 143, ähnlich V. 155-158).

Die Ablieferung Baumgartens bei dem gastfreundlichen Stauffacher durch Tell dient den ersten beiden Szenen zur Rahmung – erst hier, streng genommen, erfährt der Zuschauer, dass die Überfahrt über den See gelang. Der drohenden Vergewaltigung entspricht in der zweiten Szene eine weit weniger gefährliche Situation: In einem trotzig hingeworfenen Wort nur bedrohte Geßler die Freiheit Stauffachers, sein eigenes Haus nach eigenem Vermögen zu errichten. Die Übertragungsleistung des unbedeutend scheinenden Einzelfalles auf die allgemeine politische Situation wird hier nicht mehr symbolisch durch die Naturkulisse, sondern durch die Überlegungen Gertruds vorgenommen. Sie gibt dadurch den Anstoß zum Zusammenschluss Stauffachers mit anderen Betroffenen, schließlich zum Rütli-Schwur. Die Szene öffnet keinen metaphorisch-vorwegnehmenden, wohl aber einen kausalen Pfad in das Drama hinein. Es ist ein anderer, ein zweiter Anfang, der mit der Flucht Baumgartens und der Ermordung Wolfenschießens in keinem direkten Zusammenhang steht.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.