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Wilhelm Tell

Akt 2, Szene 2

Zusammenfassung

Auf der Rütliwiese trifft nachts zuerst Melchthal mit zehn Unterwaldnern ein, dann kommen per Schiff Stauffacher und zehn Leute aus Schwyz. Melchthal berichtet Stauffacher von seinen Wanderungen: Er ist übers Gebirge nach Unterwalden gegangen und überall gut aufgenommen worden. Alle, denen er begegnet ist, wollen sich, wenn es darauf ankommt, empören und Walter Fürst und Stauffacher folgen. Melchthal hat seinen Vater versorgt und ist weitergewandert, hat weiter Verbündete gesammelt und sogar verkleidet die Burg zu Sarnen ausgekundschaftet, in der der Landvogt Landenberger speiste. Melchthal stellt Stauffacher die Leute vor, die er mitgebracht hat, dann trifft Walter Fürst mit zehn Leuten aus Uri ein.

Die Formalitäten werden besprochen. Nach einigem Hin und Her wird dem Schwyzer Reding der Vorsitz eingeräumt und er eröffnet die Ratssitzung. Stauffacher rekapituliert den gemeinsamen Ursprung und die Geschichte der drei Waldkantone: Sie stammen alle von Einwanderern ab, die von Norden her kommend zuerst den Ort Schwyz gegründet haben. Er erläutert die alte, jetzt bedrohte Verfassung und berichtet von einem Fall, als die Schweizer sich auch gegen das Reich aufzulehnen bereit gezeigt hatten, da dieses seine Rechte übertrat. Rösselmann, der Pfarrer aus Uri, gibt noch einmal zu bedenken, man könne der Gewaltherrschaft durch die Anerkennung von Österreichs Hoheit ein schnelles und unblutiges Ende setzen, doch der Widerstand ist groß: Es wird ein Gesetz beschlossen, das jeden ausschließt, der die Ergebung gegen Österreich empfiehlt. Auch eine Petition an den Kaiser kommt nicht mehr in Frage: Konrad Hunn aus Schwyz war mit dem Anliegen bereits an der Kaiserpfalz in Rheinfeld und ist schlecht abgefertigt worden.
Das Ziel der Empörung wird definiert: Sie richtet sich nur gegen Willkür und Zwang, nicht auf die Einrichtung einer neuen Verfassung. Die alten Gesetze sollen wieder in Kraft treten, die aktuellen Lehnsverhältnisse bestehen bleiben. Gewalt soll nicht mehr als unbedingt nötig geübt werden.

In der heftig geführten Debatte um den rechten Zeitpunkt zum Losschlagen wird ein Vorschlag Winkelrieds angenommen, der für einen Aufschub bis Weihnachten plädiert. An diesem Fest ergebe sich die Möglichkeit, die Burg Sarnen einzunehmen; Melchthal glaubt, über eine ihm vertraute Dirne in die Burg Roßberg eindringen zu können. Walter Fürst fürchtet die baldige Vollendung der Zwing-Burg in Altdorf und Stauffacher sieht in Geßler die größte Bedrohung.

In der Morgenröte schwören alle auf den neuen Bund und gehen auseinander.

Analyse

Der historische Stoff bietet drei besonders prägnante, ikonographisch im kollektiven Gedächtnis bereits verankerte Szenen: Das sind der Rütli-Schwur, die Apfelschuss-Szene und die Ermordung Geßlers. Alle diese Vorgänge weisen zur Darstellung auf der Bühne eine besondere Eignung auf. Ihre dramatische Prägnanz macht sie zu kleinen, in sich geschlossenen Miniatur-Stücken. Dem Dramatiker stellt sich die Aufgabe, dies Potenzial einerseits zu heben – zumal die Erwartung des Publikums, das auf die Darbietung dieser Szenen besonders gespannt sein wird, nicht zu enttäuschen –; und andererseits die Einheit und den Zusammenhang der gesamten Szenenfolge zu erhalten, also die übrigen Szenen davor zu bewahren, zum bloßen, ungeduldig ertragenen Beiwerk der drei Höhepunkte zu werden.

Schiller platziert die drei ikonographisch prägnanten Szenen jeweils am Ende der drei inneren Akte II, III und IV. Blickt man von dorther auf den ersten Akt, kann vor allem der bühnentechnische Aufwand der Eröffnungsszene als Ausgleichsbemühung gewürdigt werden. Hier wird, bevor überhaupt eine der ikonographischen Szenen in Reichweite erscheint, ein intensiver, dramatisch prägnanter und reich orchestrierter Eindruck geschaffen. Ob auch der fünfte Akt Entsprechendes zu bieten hat, bleibt noch zu prüfen.

Für den Rütli-Schwur selbst bestand nun nach den umfangreichen Überlegungen und Beratungen der vorangegangenen Szenen (zwischen Stauffacher und Gertrud, zwischen Stauffacher und Tell, zwischen Melchthal, Walter Fürst und Stauffacher, zwischen Attinghausen und Rudenz) die Hauptgefahr in einer ermüdenden Wiederholung derselben Klagen und Beweggründe. Dem begegnet Schiller, indem er die abermalige Erzählung individuell erlebter Gewalt ausspart. Dass alle Versammelten die Empörung für gerechtfertigt, den aktuellen Zustand für unerträglich halten, kann vorausgesetzt werden. Die Möglichkeit, sich an Österreich zu ergeben, kann von Rösselmann noch einmal aufgebracht werden, ohne argumentativ gestützt werden zu müssen – die Argumente hat der Zuschauer aus der vorangegangenen Szene noch im Ohr.

Variierend wiederholt wird einzig die Darstellung des alten, zu restituierenden Rechtszustandes der Reichsunmittelbarkeit (V. 1204-1273), neu sind aber die Geschichte vom gemeinsamen Ursprung der drei Waldkantone und die Berufung auf ein naturgegebenes Recht auf Notwehr gegen Tyrannenmacht (V. 1274-1287). Die Mäßigung der Gewalt auf das Allernotwendigste und die Bescheidung hinsichlich der Ziele der Empörung sind Bedingung für die Entlastung des Gewissens, die mit der Wahrnehmung dieses Rechts auf Notwehr verbunden ist – und für eine etwaige Versöhnung mit dem Kaiser (V. 1368-1374).

Über die bisherigen Beratungen entschieden hinaus geht dann die Erörterung des konkreten Vorgehens der Verschworenen. Hier sind mehrere Gesichtspunkte abzuwägen: Die Möglichkeit, entdeckt zu werden, der voranschreitende Bau der Altdorfer Zwing-Burg, die Möglichkeiten, die sich zur Erstürmung der beiden Burgen Roßberg und Sarnen ergeben oder nicht ergeben, der Überraschungseffekt. Man einigt sich, weil Winkelried mit einem Plan zur Bestürmung der Burg Sarnen an Weihnachten aufwarten kann, auf diese Frist.

Die Dinge gehen dann freilich mit Tell einen anderen Gang und Schiller unterlässt es nicht, zu den Ereignissen, die tatsächlich folgen werden, eine Spur zu legen: Stauffacher sieht in Geßler und seinen Mannschaften die größte Gefahr und Baumgarten kündigt, weil Tell sein Leben gerettet habe, an, sich dorthinzustellen, »[w]o’s halsgefährlich ist« (V. 1433); Reding stellt die Frage, wie man mit dieser Hauptgefahr umgehen werde, ausdrücklich der Zeit anheim – lässt sie also offen: »Man muß dem Augenblick auch was vertrauen.« (V. 1438) Trotz aller Planung ist so schon in der Rütli-Szene der offen gebliebene Punkt markiert und über Baumgarten, der den freien Mut, sich in Lebensgefahr zu begeben, ausdrücklich durch Tells Rettung erworben hat, angedeutet, wer sich darum kümmern wird.

Deutlich werden also hinsichtlich des Inhalts der Beratungen die Bemühungen Schillers sichtbar, nach vor und zurück Anschlüsse zu schaffen und Wiederholungen zu vermeiden; von Bemühungen, die Form der geheimen, nächtlichen Beratschlagung um der besseren Integration in das Stückganze willen zurückzustutzen, kann indes keine Rede sein. Tatsächlich verschenkt Schiller von dem der Szene innewohnenden theatralischen Potenzial nichts.

Zu Beginn steht über dem See das »seltsam wunderbare[ ] Zeichen« (V. 977) eines Mondregenbogens, und die Regieanweisung über den nach Abgang des Personals erfolgenden Sonnenaufgang und das »mit einem prachtvollen Schwung« (nach V. 1465) einsetzende Orchester gibt Zeugnis von der Intensität, die Schiller der Wirkung der Szene offenbar beimaß. Sonst müsste ein so ausführliches, rein die Stimmung auskostendes Nachspiel überflüssig, ja lächerlich anmuten.

Wie er sich die bühnentechnische Umsetzung vorstellte, darüber gibt eine Notiz an Iffland, den Direktor des Berliner Nationaltheaters, vom 5.12.1803 Aufschluss. Dort heißt es (S. 757 der benutzten Ausgabe):

    Diese Scene, welche ein Mondscheingsgemählde vorstellt, schließt sich mit dem Schauspiel der aufgehenden Sonne; die höchsten Bergspitzen müssen also transparent seyn, so, daß sie anfänglich von vornen weiß, und zuletzt, wenn die Morgenröthe kommt, von hinten roth können beleuchtet werden. Weil die Morgenröthe in der Schweiz wirklich ein prächtiges Schauspiel ist, so kann sich die Erfindung und Kunst des Decorateurs hier auf eine erfreuliche Art zeigen.

Den Verlauf der Szene bestimmt ganz die der Versammlung eigentümliche Form. Es gibt einen gleichsam informellen, ersten Teil, wenn noch nicht alle Verschworenen eingetroffen sind, Gespräche beiläufigen Inhalts geführt werden können und die gespannte Erwartung der Ankunft der Übrigen Ausdruck findet; es gibt die ausführliche Vorstellung der einander noch unbekannten Verschworenen, dann, bei erreichter Vollzähligkeit, die formale Einrichtung der Ratsversammlung und die Bestimmung eines Vorsitzenden. Die Fragen, die dieser Vorsitzende nach seiner Vereidigung stellt, markieren den begonnenen Rat deutlich als in sich geschlossenen, von dem Vorlauf abgeschiedenen Rederaum, denn natürlich weiß von den Versammelten jeder, was »die drei Völker des Gebirgs | Hier an des See’s unwirtlichem Gestadte | Zusammenführte in der Geisterstunde« (V. 1150-1152): Als würde Protokoll geführt, und als gelte nur das, was in das Protokoll aufgenommen würde, muss das Anliegen nun noch einmal formuliert werden. Schließlich stellt der lange historische Exkurs Stauffachers noch innerhalb der eigentlichen Versammlung eine Hinführung zur Hauptsache dar.

Dramaturgisch setzt Schiller den tatsächlichen Schwur, mit dem jeder Zuschauer rechnen durfte, so an das Ende eines ausführlichen, wohlgegliederten Crescendos.

Veröffentlicht am 16. Mai 2023. Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2023.