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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Aufbau des Werkes

Die Novelle besteht aus zehn Kapiteln, wobei das erste Kapitel mit einer Rückblende beginnt, in der sich Enfield an das Vorkommnis mit der Tür erinnert. Abgesehen von dieser Szene sind die ersten acht Kapitel linear aufgebaut: Die Ereignisse innerhalb dieser Kapitel sind in der Reihenfolge angeordnet, in der sie auch geschehen sind, also chronologisch.

Hierbei weicht die erzählte Zeit von der Erzählzeit ab, da sich die Handlung über mehr als ein Jahr hinwegzieht. Stevenson arbeitet mit Zeitsprüngen, wie z. B. zwischen Kapitel 3 und 4 (28), zwischen denen etwas weniger als ein Jahr vergeht: Die Geschichte beginnt im Winter und Sir Danvers wird im Oktober des Folgejahres ermordet. Außerdem kann man auch die Zeitraffung beobachten, wie z. B. am Anfang von Kapitel 6, in dem die Nachwirkungen von Hydes Verschwinden und Jekylls Stimmungswechsel auf etwa eineinhalb Seiten zusammengefasst werden (40f.). In den Dialogen der Figuren deckt sich die Erzählzeit meist mit der erzählten Zeit, genauso an spannenden Stellen wie der Szene, in der sich Utterson und Poole gewaltsam Zutritt zu Jekylls Arbeitszimmer verschaffen (56f.).

Die letzten beiden Kapitel bilden dann eine Ausnahme von der linearen Erzählweise, weil sie rückblickend das Rätsel lösen: Sie setzen die Mysterien endlich in einen Kontext. Das neunte Kapitel versetzt den Leser ein paar Monate zurück und erklärt die Umstände von Jekylls Zerwürfnis mit Lanyon und den Grund für Lanyons Tod. Dabei wird die Wahrheit über Jekyll und Hyde durch dessen Verwandlung vor Lanyons Augen enthüllt.

Das zehnte Kapitel setzt ebenfalls in der Vergangenheit an, und zwar direkt bei Jekylls Geburt. Durch eine Zusammenstellung aller Schlüsselereignisse und Jekylls Motivation für diese beantwortet es zum Schluss alle offengelassenen Fragen.

Stevenson baut die Geschichte in Anlehnung an einen Detektivroman oder die »mystery story« (eine Rätselgeschichte mit einem Mysterium im Zentrum) auf: Es werden Mysterien präsentiert, die dann nach und nach aufgelöst werden. Diese Art von Geschichte hat eine Reihe typischer Merkmale, wie »falsche Spuren, doppeldeutige oder halbe Antworten, zusätzliche Rätsel usw.« (Niederhoff 1994: 32). Die Anordnung der Informationen in »Jekyll und Hyde« lässt den Leser an vielen Stellen im Dunkeln: So wird diesem zum Beispiel erst einige Seiten nach dem Kapitel mit der Tür klar, dass diese Tür zu Jekylls Haus führt (ebd.).

Das Auf-eine-falsche-Spur-Führen und das Verschleiern der tatsächlichen Spur tauchen an zahlreichen Stellen auf. So wird die Spur, die in Lanyons wissenschaftlichem Streit mit Jekyll liegt, im Kapitel 3 als »Ablenkungsmanöver« (ebd.: 34) Jekylls getarnt, als Utterson diesen auf sein Testament anspricht (25f.). Diese kleinen Hinweise auf die Wahrheit, aber auch falsche Schlussfolgerungen wie die Annahme, Hyde sei ein Erpresser, finden sich in Uttersons gesamter Ermittlung.

Die Geschichte setzt sich aus Bruchstücken von Eindrücken zusammen. Briefe, andere geschriebene Dokumente (wie Jekylls Testament) oder Zeugenberichte (Enfields Geschichte von der Tür oder der Bericht des Dienstmädchens vom Mord an Sir Carew) ergeben langsam ein Ganzes.  

Diese Auflösung ist der Endpunkt, auf den die ganze Geschichte mithilfe von dubiosen Hinweisen und seltsamen Vorkommnissen hinarbeitet. Niederhoff nennt die Erkenntnis zum Schluss die »Pointe der Erzählung« (Niederhoff 1994: 35). In jedem Kapitel wird immer ein Stückchen mehr erzählt, es kommt immer ein Puzzleteil mehr hinzu. Die Beziehung von Jekyll und Hyde, die am Anfang noch überhaupt nicht miteinander in Verbindung gebracht werden können, wird im Laufe der Handlung immer enger. Sie nähern sich mit jedem Kapitel weiter aneinander an, bis sie zum Schluss »eins werden« (ebd.: 37). 

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.