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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Sprache und Stil

Der Text zählt zur englischen Schauerliteratur (engl.: »gothic fiction«) und baut eine sehr dichte Atmosphäre auf. Die Schilderungen Londons sind beklemmend und geheimnisvoll. Vor allem die Natur trägt dabei einen symbolischen Charakter. Oft dominiert die Dunkelheit, es herrschen wechselhafte Lichtverhältnisse mit »Zwielicht« (30) und »Dämmerlicht« (45), vor allem in Soho. Dort ist der Nebel so dick, dass er ganze Straßen bedeckt: »Als große Glocke, dunkel wie Schokolade, senkte sich der Dunst vom Himmel« (30). Gerade Nebel und Dunkelheit funktionieren als Symbole für die Verdeckung der Wahrheit und die mysteriösen Umstände des Rätsels von Jekyll und Hyde.

Neben diesen beiden zentralen Symbolen taucht außerdem der Mond an vielen Stellen auf. Zum Beispiel hängt ein Vollmond in der Nacht des Mordes an Carew am Himmel (28). Der Mond wird auch personifiziert: Als Utterson mit Poole in der letzten Nacht zu Jekyll fährt, scheint ein »bleiche[r] Mond, der auf dem Rücken lag, als hätte der Wind ihn umgeworfen« (48). Der Mond ist ein beliebtes Symbol für Wechsel und Wandel, vor allem in der Lyrik und Romantik. Das ist besonders interessant im Hinblick auf Jekylls häufige Verwandlungen. Die Nacht des Vollmonds trägt außerdem eine besondere, magische, aber im Zuge dessen auch unheimliche Stimmung.

Ein weiteres wichtiges Stilmittel ist die Stille (Miller 2005: 14). Diese zieht sich durch die ganze Geschichte. Niederhoff erklärt, dass die Spannung im Werk unter anderem von einem »Prinzip des Verdrängens und Verschweigens« (Niederhoff 1994: 39) erzeugt wird. Die Figuren sagen meist nicht alles, was sie wissen, und machen nur vage Andeutungen, wie Lanyon oder Jekyll bezüglich ihres Streits. Sie stellen außerdem ungern Fragen und scheuen sich davor, unangenehme Wahrheiten aufzudecken. Das sieht man besonders gut im 1. Kapitel an dem Gespräch Uttersons mit Enfield, der sich nach der Regel »Je verdächtiger etwas aussieht, desto weniger frage ich« (13) richtet. Utterson stimmt ihm zu und auch sein Verhalten in diesem Kapitel kennzeichnet sich durch Heimlichtuerei und Schweigsamkeit. Denn obwohl er weiß, dass die Tür ein Hintereingang zu Jekylls Haus ist, verrät er seinem Freund zuerst nichts davon.

Stevenson schreibt im Stil der Zeit, mit langen, gewundenen Sätzen und in einem gehobenen, sehr formalen Ton. Da die Hauptfiguren viktorianische Gentlemen sind, spiegelt sich dies in ihren Dialogen wider. Ihre Sprache ist ordentlich und höflich und bedient sich der korrekten Anredeformen. So nennen zum Beispiel Enfield und Poole Utterson »Sir« (z. B. . 14; 23). Eine Ausnahme davon bildet Hyde, dem es an Höflichkeit fehlt und dessen Ausdrucksweise von Ungeduld und Unverschämtheit geprägt ist: »›Nichts hat der erzählt!‹, schrie Mr. Hyde und wurde vor Zorn rot. ›Ich hätte nicht geglaubt, dass Sie lügen würden!‹« (21).

Die Novelle beschäftigt sich mit einem Rätsel, das nach und nach aufgelöst wird. Es gibt mehrere Zeugenberichte und Dokumente, die jedoch immer nur einen Teil des Mysteriums beleuchten. Diese langsame Zusammensetzung des Puzzles zu einem ganzen Bild weckt Neugier, ähnlich wie in einem Detektivroman (siehe dazu Kapitel 7. Aufbau des Werkes).

Zum Spannungsaufbau setzt Stevenson außerdem Cliffhanger (aus dem Englischen, zu Deutsch »Klippenhänger«) an den meisten Kapitelenden ein. Das bedeutet, er lässt Kapitel an ihrem Höhepunkt enden, sodass der Leser für die Auflösung das Folgekapitel lesen muss. Ein Beispiel dafür ist Kapitel 5, das mit der Erkenntnis endet, dass Jekyll für Hyde einen Brief fälschte: »›Wie!«, dachte [Utterson]. ›Henry Jekyll der Fälscher für einen Mörder!‹ Und das Blut stockte ihm in den Adern.« (39).

Es gibt drei Erzählerperspektiven: In den ersten acht Kapiteln wird aus der Er-Perspektive des Anwalts Utterson erzählt. Der Leser folgt Uttersons Nachforschungen. Utterson nimmt somit die Rolle des Detektivs ein, der den Fall löst. Er ist jedoch kein klassischer personaler Erzähler, bei dem die subjektive Wahrnehmung im Vordergrund steht. Neben der personalen Perspektive gibt es auch auktoriale Einschübe, also das Auftauchen eines allwissenden Erzählers (Niederhoff 1994: 41): Ein gutes Beispiel hierfür ist der erste Absatz der Geschichte, in dem ein sehr detailliertes Figurenporträt von Utterson gezeichnet wird. Der Erzähler wertet hier auch, so nennt er Utterson zum Beispiel den »letzte[n] gute[n] Einfluss im Leben« (7) vieler seiner Freunde. Auch Beobachterperspektiven werden eingestreut (ebd.: 42), wie in Uttersons Gespräch mit Jekyll über dessen Testament: »Einem scharfen Beobachter wäre nicht entgangen, dass dieses Thema dem Doktor unangenehm war« (25).

Die letzten beiden Kapitel erzählen aus der Sicht von Lanyon und Jekyll in der Ich-Perspektive. Diese wird eingesetzt, um den Leser direkt in den Figuren zu platzieren und zum Schluss die Umstände des Falles genau nachvollziehen zu können. In Lanyons Brief treibt Stevenson damit den Horror auf die Spitze. In Jekylls Bericht wird dessen Motivation deutlich und Sympathie für ihn erzeugt.

Wichtig und interessant an der Vielzahl der Berichte ist, dass mit Ausnahme desjenigen Jekylls keiner davon vollständig ist. Dadurch entsteht, wie schon erwähnt, »der Rätselcharakter der Erzählung« (Niederhoff 1994: 41). Weder Utterson noch Lanyon verfügen über ein komplettes Wissen. Oft handelt es sich nur um eine halbe Wahrheit oder Vermutungen, die sich dann als falsch erweisen (wie z. B. die falsche Annahme der Ermordung Jekylls).

In vielen viktorianischen Horrorgeschichten sind Ich-Erzähler intelligente und angesehene Gelehrte, wie Jekyll und Lanyon. Briefe werden gerne als Erzählmedium benutzt, um Glaubhaftigkeit nahezulegen, wie z. B. auch in Bram Stokers »Dracula«. Diese Techniken verleihen den unheimlichen Ereignissen Authentizität und lassen sie so wie eine real erlebte Geschichte erscheinen.

Außerdem spannend ist die Entscheidung Stevensons, Hyde aus den Erzählperspektiven auszuklammern. Er bleibt still. Der Leser erhält nie eine Schilderung der Ereignisse aus seiner Sicht. Auch dies ist typisch für die Schauerliteratur, die die Sicht des Monsters der Erzählung im Dunkeln lässt. Dadurch entsteht noch mehr Mysterium und Spannung (Halberstam 2003: 131).

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.