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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Kapitel 10

Zusammenfassung

Im letzten Kapitel berichtet Jekyll in seinem Brief an Utterson von seinem Leben und bringt so Licht in die mysteriösen Vorkommnisse.
Henry Jekyll wird von der Gesellschaft als kluger, gutmütiger und ehrenhafter Mann anerkannt, doch hat er eine lasterhafte Seite, die er verbergen muss. Deswegen führt er ein Doppelleben. Beide seiner Seiten sind extrem: Seine gute Seite ist über alle Maße gut. Seine Ausschweifungen sind so schrecklich, dass sie sein Gewissen andauernd quälen.
Jekyll denkt über die Zweigeteiltheit des Menschen nach. Er entdeckt, dass jeder sowohl gute als auch schlechte Züge habe, die ständig miteinander kämpfen. In ihm wächst der Wunsch, dieses Doppelwesen aufzutrennen und jede Seite in einem eigenen Körper unterzubringen. So könnte man den Schmerz vermeiden, den das Gewissen mit sich bringt.
Er beschäftigt sich mit Experimenten, bei denen er Wirkstoffe entdeckt, die dem bösen Teil seiner Seele zu einer eigenen Gestalt verhelfen. Um dabei nicht die Orientierung zu verlieren, lässt er den Spiegel in sein Arbeitszimmer bringen. Zuerst ist seine böse Seite unterentwickelt, auch wenn ihn die Verwandlung begeistert, nachdem die Schmerzen des Prozesses durchgestanden sind. Edward Hyde ist durch und durch böse und erlaubt es Jekyll, sich seinen dunkelsten Wünschen hinzugeben.
Der Trank selbst jedoch, so erklärt Jekyll, sei ein Mittel dazu, das Verborgene in sich zum Vorschein zu bringen. Daher kann sich Hyde durch eine erneute Einnahme zurück in Jekyll verwandeln. Allerdings ist es Jekyll nicht gelungen, seine gute Seite durch und durch gut zu machen und ihm bleiben seine lasterhaften Neigungen erhalten.
Hyde funktioniert also als ein Deckmantel für diese Neigungen. Jekyll ist damit vor Verdächtigungen und den Konsequenzen seiner Handlungen geschützt. Er räumt Hyde alle Freiheiten in seinem Haus ein und setzt das Testament auf. Außerdem eröffnet er ein Bankkonto in Hydes Namen und neigt seine Handschrift etwas nach links, um die Täuschung perfekt zu machen
An einem Morgen im August wacht Jekyll als Hyde auf, ohne dass er dies geplant hat. Die dunkle Seite beginnt nun, immer mehr die Oberhand über die gute Seite zu gewinnen, sodass es für Jekyll immer schwerer wird, in seinen eigenen Körper zurückzukehren. Er entscheidet sich, die Verwandlungen zu stoppen und Jekyll zu bleiben.
Zwei Monate lang hält er sich streng an sein Verbot und führt ein normales Leben. Doch dann überkommt ihn erneut das Bedürfnis nach Schlechtheit und so schluckt er den Trank erneut. In dieser Nacht passiert der Mord an Carew, denn der lange eingesperrte Hyde kann sich nicht zügeln und schlägt in blinder Raserei auf den Mann ein – dafür gibt es keinen besonderen Grund außer seine jetzt übersteigerte Lust, Böses zu tun.
Jekyll bereut das Verbrechen und entsagt Hyde erneut. Zwei Monate später gibt er allerdings wieder der Versuchung nach und zerstört damit das Gleichgewicht seiner Seele. An einem Januartag im Regent’s Park verwandelt er sich in Hyde, ohne es zu wollen. Um sich zurückzuverwandeln, benötigt er die Mittel aus seinem Arbeitszimmer, weshalb er seinen Freund Dr. Lanyon per Brief um Hilfe bittet. Nun kehrt sich die Situation um: Hyde muss den Trank schlucken, um zu Jekyll zu werden. Hyde treibt eine große Angst vor dem Galgen an, die ihn dazu bringt, dies immer wieder zu tun.
Hydes Kraft übertrifft die des Doktors mittlerweile, weshalb sich Jekyll, geplagt von Entsetzen und Reue, in seinem Arbeitszimmer zurückzieht. Er verbringt kaum noch Zeit in seinem eigentlichen Körper, sondern ist gefangen in seiner dunklen Seite. Das Salz, das Poole liefert, bringt keinen brauchbaren Trank hervor. Deshalb vermutet Jekyll, dass sein erster Vorrat unrein gewesen ist und dass der Trank nur aus diesem Grund wirken konnte.
Ihm ist mittlerweile klar, dass Henry Jekyll sterben und Edward Hyde die Oberhand gewinnen wird, sobald die Wirkung des letzten Trankes nachlässt. Mit diesem düsteren Bekenntnis endet die Geschichte.

Analyse

Wie im vorangegangenen Kapitel gibt es hier einen Brief in Ich-Perspektive. Und wie bei Lanyon ist sein Schreiber ein hochgestellter Mann, was dem Textstück Glaubhaftigkeit verleiht und den Horror verstärkt (vgl. Analyse zu Kapitel 9 und 8. Sprache und Stil).
Nachdem Lanyons Aufzeichnungen die zentrale Frage (Wer ist Hyde?) beantwortet haben, erklärt das Kapitel 10 »die Psychologie und Motivation der Hauptfigur(en)« (Niederhoff 1994: 47). In der Literaturwissenschaft gibt es allerdings eine Debatte darüber, ob Jekyll tatsächlich als glaubwürdiger Erzähler gelten kann oder ob er vielleicht auch nur eine begrenzte Perspektive darstellt (ebd.: 47f.).
Nach Niederhoff hat die Novelle eine wichtige, sinnbildliche Ebene (ebd.: 29). Sie zeigt auf, dass »der Mensch«, wie Jekyll sagt, »in Wahrheit nicht einer, sondern in Wahrheit zwei« (73) ist (vgl. 9. Interpretationsansätze). Diese Aussage steht in der Mitte des gesamten Geständnisses Jekylls. Man kann die ganze Novelle als allegorische Darstellung lesen, die in den Figuren Jekyll und Hyde die abstrakten Vorstellungen von Gut und Böse bildhaft veranschaulicht.
Jekyll schildert, wie er immer mehr den Bezug zu sich selbst verliert. Das wird an den verschiedenen Bezeichnungen deutlich, die er sich bzw. Hyde gibt (Niederhoff 1994: 54f.: Er wechselt zwischen »er«, »ich« und »es«. Gerade zum Schluss des Berichtes wechselt Jekyll von »er« zu »es«: Er spürt, dass das Geschöpf »fester mit ihm verbunden war als eine Ehefrau […], dass es gefangen lag in seinem Fleisch, wo er es murren hörte und spürte, wie es darum rang, geboren zu werden« (91). Das ist ein verzweifelter Versuch Jekylls, Hyde von sich zu distanzieren (Niederhoff 1994: 55).
Mit dem letzten Satz (vgl. 5. Zitate und Textstellen) beendet Jekyll die Darstellung seines Lebens. Man kann diesen Satz also als Ende seiner Biografie verstehen, aber auch als Ende seines Lebens als Henry Jekyll.
In dem Satz spiegelt sich außerdem der Grundkonflikt der Novelle wider (Niederhoff 1994: 56f.): Jekyll will nicht akzeptieren, dass sein guter und sein schlechter Teil zusammengehören. Das ist der fatale Irrtum der Hauptfigur und ihre wahre Tragödie. Jekyll setzt seine letzte Verwandlung mit seinem Tod gleich. Wie Niederhoff argumentiert, ignoriert er dadurch den Zusammenhang zwischen ihm und Hyde. Er schreibt: „Dies ist meine wahre Todesstunde, und was danach kommt, betrifft einen anderen als mich.“ (93). Hyde ist für Jekyll etwas »Fremdes« und er glaubt bis zum Schluss »Jekyll sein zu können, ohne Hyde zu sein.« (Niederhoff 1994: 57)

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.