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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Kapitel 3

Zusammenfassung

Es vergehen zwei Wochen, bis Utterson Jekyll wiedersieht. Jekyll lädt ihn und einige andere Männer zu einem Dinnerabend ein. Utterson pflegt die Gewohnheit, nach solchen Treffen oft noch zu bleiben, auch wenn die anderen Gäste bereits gegangen sind. Meist wird er von den Gastgebern sehr geschätzt und seine ruhige, unaufdringliche Anwesenheit hilft ihnen, den Abend ausklingen zu lassen.
Bei Dr. Jekyll wartet Utterson also erneut, bis die anderen Gäste gegangen sind, um Jekyll auf das Testament anzusprechen. Jekyll ist das Thema sichtlich unangenehm. Er erwähnt Lanyon, der offenbar genauso erschüttert über das Testament war wie Utterson, und das Zerwürfnis, nach dem sich die beiden Freunde aktuell nicht sehen. Jedoch wird auch hier nicht genauer erklärt, wobei es sich bei dem Streit handelt – der Leser erfährt nur, dass es um eine wissenschaftliche Frage geht, bei der Lanyon sich in den Augen Jekylls sehr sturköpfig verhalten hat.
Utterson teilt ihm sein Unbehagen und seine Zweifel in Bezug auf Hyde mit. Daraufhin enthüllt Jekyll, dass er sich in einer schwierigen Lage befindet, über die er nicht sprechen kann. Denn das würde nicht helfen.
Utterson bietet ihm dennoch seine Hilfe an und erinnert ihn daran, dass er ein vertrauenswürdiger Mensch ist. Doch Jekyll lässt sich nicht überzeugen. Er ist Utterson für seine Sorge und Freundschaft dankbar, aber er meint, dass die Sache nicht allzu schlimm sei. Er könnte Hyde loswerden, wann immer er möchte.
Außerdem ruft er Utterson ins Gedächtnis, dass sie ausgemacht hatten, nicht mehr über das Testament zu sprechen, und macht deutlich, dass er das Thema nicht weiter diskutieren will.
Zum Schluss nimmt er Utterson noch ein Versprechen ab: Da es sich bei Hyde um eine wichtige Person in seinem Leben handle, will er, dass der Anwalt sich um die Erfüllung des Testaments bemüht und Hyde hilft, wenn Jekyll nicht mehr da sein sollte.

Analyse

Im letzten Kapitel ließ Hyde Utterson sein Gesicht sehen. Nun erfährt der Leser, wie Jekyll aussieht – das ist wichtig, da sich Stevenson der Physiognomie bedient, einer Pseudowissenschaft, die im 19. Jahrhundert sehr beliebt war. In der Physiognomie erkennt man den Charakter eines Menschen an seinem Aussehen – nach dem Motto, jemand, der schlecht aussieht, muss auch schlecht sein. Das passte zu den viktorianischen Wertvorstellungen, die Aussehen und Ruf schätzten.
Mit der Industrialisierung erlebte auch die Wissenschaft im 19. Jahrhundert einen Aufschwung. Im Zuge dessen gab es viele neue Methoden, die man eher der pseudowissenschaftlichen/esoterischen Ecke zuordnen kann: z. B. Hypnose, Spiritismus (Geisterbeschwörung) oder auch die Grafologie, die Lehre von der Handschrift als Ausdruck des Charakters, die in Kapitel 5 der Novelle vorkommt (Scholz 1993: 9).
Jekylls/Hydes Aussehen ist, ähnlich wie sein Haus, stellvertretend für seine zweigeteilte Persönlichkeit zu sehen. Auf der einen Seite gibt es den »bleich[en] und zwergenhaft[en]« Hyde, der missgestaltet wirkt. Auf der anderen den »groß[en], gut gebaut[en]« (25) Jekyll, dessen Haut glatt und Ruf lupenrein ist.
Hydes Aussehen weicht von dem eines normalen Menschen ab, auch wenn keine der Figuren wirklich sagen kann, warum das so ist. In Theater- oder Filmadaptionen der Novelle wird er oft mit vorstehender, breiter Stirn dargestellt, krummen und herausstehenden Zähnen und buschigen Augenbrauen – einem Affen sehr ähnlich (Linehan 2003: 175–179).
Im 19. Jahrhundert war die Evolutionstheorie von Charles Darwin im Gespräch – die Gesellschaft beschäftigte sich intensiv mit diesem Konzept (vgl. 6. Historischer Hintergrund und Epoche). In postdarwinistischen Theorien fragte man sich, ob der Mensch den Schritt auch zurück zum Affen machen könnte und studierte z. B. die Gehirne von Verbrechern. Cesare Lombroso veröffentlichte die dazu bekannteste Theorie, nach der das Verbrechergehirn eine ähnliche Größe und Form habe wie das eines Affen (Gould 1996: 133). Gerade diese Angst vor einem Rückschritt (dieser Rückschritt wird in der Fachsprache auch »Atavismus« genannt) trieb die viktorianische Bevölkerung um.
Erzählerisch wird außerdem Stevensons Geschick im Auslegen von Spuren deutlich. Die Novelle ist wie eine Detektivgeschichte angelegt, bei der eine Wahrheit auf eine bestimmte Art »verrätselt« wird (vgl. 7. Aufbau des Werkes). Im Gespräch mit Jekyll legt der Erzähler Utterson den Fokus auf Hyde und weist Jekylls Erwähnung des Streits mit Lanyon als Ablenkungsmanöver ab – dabei liegt genau darin die wahre Spur (Niederhoff 1994: 33f.)

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.