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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Kapitel 1

Zusammenfassung

Die Geschichte beginnt mit einer Vorstellung des Rechtsanwalts Gabriel John Utterson. Er wird als ein ruhiger und langweiliger, aber auch bescheidener und rechtschaffener Charakter beschrieben, der jedoch seinen Freunden gegenüber oft Nachsicht zeigt. Sonntags pflegt er die Angewohnheit, mit seinem entfernten Verwandten, dem Geschäftsmann Richard Enfield, Spaziergänge durch die Stadt zu machen.
Beide schätzen diese Ausflüge sehr und verzichten ungern auf sie, obwohl die Männer nicht besonders viel gemeinsam haben und deswegen dabei meistens schweigen. Eines Sonntags führt sie ihre Route in eine schmale Seitenstraße voller herausgeputzter Schaufensterfassaden in einem belebten Londoner Viertel.
Hinter dem Durchgang zu einem Innenhof entdecken sie ein vernachlässigt wirkendes Gebäude, das nicht zu der gepflegten Umgebung zu passen scheint. Als sie an der Tür vorbeigehen, deutet Enfield mit seinem Gehstock auf sie und erinnert sich an eine Geschichte, die ihm zu der Tür einfällt.
Er erzählt Utterson von einer merkwürdigen Begegnung mit einem gewissen Mr. Hyde an einem sehr frühen Wintermorgen. Enfield habe beobachtet, wie Mr. Hyde in der Nähe des Hauses mit einem kleinen Mädchen zusammengestoßen sei, das aus einer Seitenstraße hervorgerannt kam. Es sei zu Boden gestürzt und statt ihm zu helfen, sei Mr. Hyde einfach auf das Mädchen getreten und weitergegangen.
Daraufhin sei Enfield Hyde gefolgt und habe ihn zurück zum Tatort gebracht, wo sich die entsetzten Angehörigen des Mädchens und ein Arzt um es versammelt hatten. Alle vereinte eine unerklärliche Abscheu vor Mr. Hyde.
Der Arzt und Enfield hätten Hyde mit Rufmord aufgrund dieser Angelegenheit gedroht, woraufhin er eine Summe von hundert Pfund als Schadensersatz für die Familie des Kindes anbot. Er hätte den Arzt, den Vater des Mädchens und Enfield zu dem Haus mit der Tür geführt. Er sei darin verschwunden und mit einem Scheck über die abgemachte Summe wieder herausgekommen. Dieser Scheck sei mit einem Namen unterschrieben gewesen, der zu einer bekannten und anständigen Person Londons gehört. Obwohl Enfield deswegen zuerst vermutet habe, dass er gefälscht sein könnte, konnte der Scheck auf der Bank eingelöst werden.
Enfield ist jedoch der Auffassung, dass der Aussteller des Schecks nicht in dem Haus mit der Tür wohnt. Auf die Nachfrage Uttersons ist es ihm außerdem nicht möglich, Hyde genauer zu beschreiben – er weiß nur, dass sein Anblick bei ihm ein großes Unbehagen verursacht hat und dass Hyde einen Schlüssel zu dem Haus mit der Tür besitzt.
Der mysteriöse Aussteller des Schecks bleibt im ersten Kapitel noch unbenannt. Utterson enthüllt, dass er seinen Namen kennt und aus diesem Grund während der Erzählungen seines Freundes nicht genauer nachgehakt hat. Die beiden einigen sich darauf, über das Gesprochene Stillschweigen zu bewahren.

Analyse

Vor die Erzählung stellt Stevenson eine Widmung an seine Cousine Katharine de Mattos, die selbst unter dem Pseudonym »Theodor Hertz-Garten« literarische Texte veröffentlichte und mit ihm eine enge Freundschaft pflegte (Reclam 2022: 95).
Diese Widmung ist eine angepasste Form von Stevensons Gedicht »Ave«. Die erste der vier Zeilen spielt auf die biblische Aussage »Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen« an. Damit ist Jekyll gemeint, der irrtümlich versucht, sein Wesen in Gut und Böse aufzuteilen (McNally/Florescu 2001: 133f.). Mit dem »Land im Norden«, deren »Kinder« sie immer »bleiben« werden (5), meint Stevenson dann das schottische Erbe, das er mit seiner Cousine teilt (McNally/Florescu 2001: 134).
Der Beginn der Geschichte baut Spannung auf, denn von dem Mysterium wird noch nicht besonders viel preisgegeben. Ähnlich wie bei einem Detektivroman gibt es nur vage Hinweise, die dem Leser zuerst noch nichts sagen. Die Geschichte wird umso spannender, da der Leser und die Figuren nicht gleich viel wissen – die Figuren verheimlichen oft Dinge. In dieser Szene verschweigt Utterson sein Wissen darüber, dass die Tür zu Jekylls Haus gehört. Auch Enfield verhält sich zurückhaltend, denn er verschweigt Utterson den Namen des Scheckausstellers und reagiert überrascht, als ihm klar wird, dass Utterson ihn kennt.
Utterson und Enfield scheinen die Sache nicht breittreten zu wollen, sondern sind sehr bedacht mit ihren Worten. Diese Stille erzeugt Spannung. Sie ist eines der häufigen Stilmittel der Novelle (Miller 2005: 14). Dinge werden nicht ausgesprochen, Fragen nicht gestellt, und wenn die Figuren doch einmal über Hyde sprechen, tun sie es hinter vorgehaltener Hand.
Niederhoff nennt das ein »Prinzip des Verdrängens und Verschweigens« (Niederhoff 1994: 39). Auch Edward Hyde trägt zu dieser Stille bei, denn niemand ist in der Lage, ihn zu beschreiben – so hüllt auch er sich in Schweigen. Die Sprache versagt da, wo Hyde ist. (Miller 2005: 17).
Dieses Verhalten passt zur Viktorianischen Zeit, in der die Geschichte spielt. Die Menschen zu dieser Zeit folgten strengen sozialen und moralischen Regeln und unterdrückten oft ihre wahren Gedanken oder Gefühle. Es war wichtiger, anständig zu sein, als ehrlich (Houghton 1957: 146). Utterson und Enfield stellen das Aufrechterhalten von Jekylls gutem Ruf über die Wahrheit. Die Heimlichkeiten und auch Enfields Grundsatz »Je verdächtiger etwas aussieht, desto weniger frage ich« (13) sind typisch viktorianische Verhaltensmuster.
Im Zentrum von Enfields Erzählung steht die Gefühllosigkeit Hydes angesichts eines Kindes. Die Beteiligten sind so schockiert, da man sich gerade einem Kind gegenüber normalerweise liebevoller verhält. Allerdings könnte auch mehr damit gemeint sein: Manche Kritiker sehen in dem Niedertrampeln eine Metapher für sexuelle Gewalt oder eine Vergewaltigung (Hopkins 1886: 101). Da aber andere, wie Niederhoff, meinen, dass es hier lediglich um das »Fehlen des Guten« (Niederhoff 1994: 51) in Hyde geht, das die Szene verdeutlichen soll, kann man sich über diese Interpretation streiten.

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.