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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Interpretation

Zu der Novelle gibt es viele verschiedene Interpretationsansätze. Dabei steht eine zentrale Frage im Mittelpunkt: Wer ist Hyde?

Interpretationen kreisen um Themen der Zeit wie Wissenschaft, Evolution oder Alkohol- und Drogenabhängigkeit, den »Doppelgänger« (beliebt in der Schauerliteratur), Religion oder Heuchelei.

Die Dualität des Menschen

Die Dualität der menschlichen Natur ist das zentrale Thema der Novelle. Dabei handelt es sich um die Idee, dass jeder Mensch Gutes und Böses in sich trägt. Stevenson vertritt die These, dass es einen »Hyde« in jedem von uns gibt.

Diese Dualität findet sich in jeder Figur der Novelle. Obwohl sie sich bemühen, beherrscht und anständig zu sein, hat Utterson dennoch eine Vorliebe für Wein und Theater, Enfield geht nachts dubiosen Geschäften nach und Lanyon hat eine laute, extrovertierte Art.

Zwei Seiten hat auch die Umgebung der Szenen. Stevensons London ist ein Zusammenspiel aus Licht und Schatten und ständig wechselnden Lichtverhältnissen. Hell und Dunkel werden dabei als Synonyme für Gut und Böse verwendet: Lanyons Sprechzimmer ist »hell« (66), genau wie Jekylls Diele (22). Hyde hingegen ist »finster« (11) und im Augenblick der Verwandlung wird sein Gesicht »schwarz« (70).

Jekylls Haus ist das wichtigste Symbol für seine Zweigeteiltheit. Er hat eine helle, einladende Seite und eine dunkle, verkommene, die durch die beiden entgegengesetzten Türen dargestellt werden.

Jekylls Experiment setzt genau im Herzen dieses Themas an: Er kann die Dualität nicht akzeptieren, sondern will sie im Interesse der ganzen Menschheit aufheben. Dabei übersieht er, dass die Dualität ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins ist. Ohne beide Seiten scheint ein menschliches Leben nicht zu funktionieren, denn am Ende muss Jekyll aufgrund der Auftrennung seiner Persönlichkeit sterben. Hyde wird als etwas »Unorganisches« (91) beschrieben, etwas nicht Menschliches und folglich Totes (ebd.).

Spannend sind die beiden entgegengesetzten Thesen zur Dualität in der Novelle: Jekyll stellt fest, dass der Mensch »in Wahrheit zwei ist« (73) und handelt in diesem Glauben. Am Ende von Uttersons Ermittlungen findet der Leser jedoch heraus, dass die zwei Männer in Wahrheit einer sind. Diese Erkenntnis bezeichnet Chesterton als die wahre Bedeutung der Novelle (Chesterton 1927: 183). 

Sexualität in der viktorianischen Gesellschaft

Stevenson lebte in der viktorianischen Gesellschaft und deswegen zeigt »Jekyll und Hyde« ein klares Bild der Werte und Lebensumstände der Menschen zu dieser Zeit. Vor allem Sexualität war damals ein Tabuthema. Das führte dazu, dass die Menschen ihre natürlichen Bedürfnisse unterdrückten oder zumindest nach außen hin diesen Anschein wahrten.

Dieses Thema wirft ein interessantes Licht auf die Frage nach Jekylls mysteriösen nächtlichen Aktivitäten. Was genau man unter diesen Handlungen verstehen kann, wird von Stevenson nämlich nicht beantwortet. Gerade im Hinblick auf die viktorianische Sexualmoral führte das zur häufigen Vermutung, dass es sich bei Jekylls »Ausschweifungen« (72) um sexuelle Abenteuer handelt (Linehan 2003: 204).

Wie sich diese gestalten, also ob das geheime Vergnügen einfach nur die Auslebung von Sexualität, eine Neigung zu Sadismus oder vielleicht Homosexualität ist, bleibt Interpretationssache (ebd.: 204f.).

Auch Stevensons Wortwahl passt zu dieser Interpretation. Jekyll spricht von »würdelos[en]« (79) »Vergnügungen« (83) und »Ausschweifungen« (72), von »Versuchung« (86) und von sich selbst als »Sünder« (Ebd.). Er verspürt »Schamgefühl« (72).

Hyde könnte also für Jekylls unterdrückte Sexualität stehen. Dafür und nach Linehan und Nabokov auch für die Homosexualität spricht z. B. die Tatsache, dass unter den Hauptfiguren der Novelle keine Frauen sind. Die Protagonisten sind alle etwas ältere Junggesellen. Die wenigen Frauen, die vorkommen, sind nur namenlose Randcharaktere (ebd. 205).  

Dadurch entsteht Kritik an der viktorianischen Gesellschaft, die Sexualität als etwas Böses ansieht. Nach Stevenson selbst ist es nämlich nicht das Nachgeben gegenüber der Verführung, das das Unglück heraufbeschwört, sondern Jekylls Heuchelei und sein falsches Selbstbild (ebd.: 206). 

Bezüge zur Psychoanalyse 

Der Fokus der Novelle liegt auf der Persönlichkeit eines Menschen – gerade im letzten Kapitel beschäftigt sie sich intensiv mit dessen Psyche. Viele Literaturwissenschaftler sehen hier einen Zusammenhang mit Sigmund Freuds Theorien über das menschliche Erleben und Verhalten. 

Freuds Psychoanalyse wurde zwar erst im frühen 20. Jahrhundert bekannt, aber es finden sich in »Jekyll und Hyde« trotzdem einige seiner Vorstellungen. Jekyll ist ein klassischer ›Freudscher‹ Fall: Eine Person, die gefangen ist zwischen dem unbewussten Selbst (das sogenannte »Es«) und den Bedürfnissen des übergeordneten Egos (das »Über-Ich«) (McNally/Florescu 2001: 134). Auf der einen Seite hat er bestimmte Bedürfnisse (das »Es« in Form von Hyde), auf der anderen sieht er sich genötigt, diese zu unterbinden (das »Über-Ich« in Form von Jekyll). 

Nach Freud kommt es z. B. zu Gewaltausbrüchen, wenn sexuelle Bedürfnisse unterdrückt werden. Das passt zu Hyde, der oft als Jekylls unterdrückte Sexualität interpretiert wird. Auch scheint er immer stärker zu werden, je mehr Jekyll ihm entsagen will. Jekyll, der gefangen ist zwischen dem, was die Gesellschaft von ihm erwartet und dem, der er wirklich ist (ebd.).

Das unterdrückte Selbst, meint Freud, spaltet sich als Trauma ab und kann sich auch verselbstständigen. Trauma handelt dann wie ein fremder Körper und wird vom eigenen Körper als Geheimnis betrachtet, bis es in der Therapie aufgelöst werden kann (Halberstam 1995: 129).

Hyde ist ein Sinnbild des Unterbewussten und des Unterdrückten. Wie das verdrängte Trauma sucht er Jekyll immer wieder heim und entwickelt ein immer stärkeres Eigenleben. Hyde gewinnt gewöhnlich in den Momenten die Oberhand, in denen Jekyll sich entspannt und seine Vernunft ruht. Seine zweite Verwandlung passiert, als Jekyll sich im Park ausruht, und später verwandelt er sich im Schlaf und erwacht als Hyde. Jekylls Vernunft und seine Gefühle kämpfen in seinem Inneren einen erbitterten Kampf (McNally/Florescu 2001: 134f.).

Auch in dieser Interpretation ist es die Verdrängung und Heuchelei Jekylls, die in der Kritik steht. Denn nur durch diese kann Hyde überhaupt erst entstehen. 

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.