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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Kapitel 5

Zusammenfassung

Am späten Nachmittag sucht Utterson erneut Henry Jekyll auf. Diesmal wird er von ihm in seinem Arbeitszimmer im Laboratorium empfangen – dem fensterlosen alten Bau, an dessen Tür Hyde immer gesichtet wurde. Jekyll hat es einst von einem Chirurgen gekauft. Poole führt Utterson durch einen alten Hörsaal, in dem Jekyll für gewöhnlich chemische Experimente durchführt, über einige Stufen am Ende zu einer Tür. Diese führt in Jekylls Arbeitszimmer, wo der Doktor schon auf Utterson wartet.
Er sitzt am Feuer und wirkt kränklich. Als Utterson ihn auf Hydes Verbrechen anspricht, erwidert Jekyll, dass er ein für alle Mal mit Hyde fertig ist. Er versichert Utterson, dass man nie wieder von ihm hören wird.
Anschließend bittet er Utterson um Hilfe: Er hat einen Brief erhalten und ist sich unschlüssig, ob er diesen der Polizei zeigen soll. Der Brief ist von Hyde, der schreibt, dass er geflohen ist und Jekyll sich nicht um ihn sorgen solle. Jekyll überlässt das Schriftstück und die Entscheidung, den Brief an die Polizei weiterzugeben, Utterson. Als dieser beim Hinausgehen den Butler nach dem Postboten fragt, weiß Poole jedoch keine Antwort. Mit der Post sei nichts gekommen.
Aufgrund dieser mysteriösen Umstände sowie der Gefahr, Jekyll in einen Skandal zu ziehen, sucht sich Utterson Rat bei seinem Kanzleivorsteher Mr. Guest. Utterson vertraut Mr. Guest und erhofft sich aufgrund dessen Erfahrung als Gutachter von Handschriften eine hilfreiche Bemerkung zu dem Brief.
Mit einer Flasche alten Weins ausgerüstet, lädt er Mr. Guest am Abend zu sich ein. Noch immer hängt Nebel über der Stadt. Nach der Bitte, über die Sache Stillschweigen zu bewahren, zeigt Utterson Guest den Brief. Guest erklärt, dass die Handschrift nicht darauf hindeutet, dass der Mörder wahnsinnig gewesen sei.
Als der Diener mit einer Mitteilung Dr. Jekylls ins Zimmer kommt, vergleicht Guest die Handschriften von Jekyll und Hyde. Er stellt fest, dass sie sich in fast allen Punkten gleichen, jedoch unterschiedlich geneigt sind. Als er Utterson später am Abend verlässt, schließt dieser den Brief erschüttert von dieser Nachricht in seinen Safe.

Analyse

Dass der Mord ein Wendepunkt in der Entwicklung Jekylls Experimentes war, wird jetzt sehr deutlich. Der Moment, in dem Jekyll Utterson in seiner Wohnung begrüßt, ist entscheidend: Jekyll »streckte bloß eine kalte Hand aus und hieß [Utterson] mit veränderter Stimme willkommen« (35). McNally und Florescu fühlen sich hier an Graf Dracula erinnert, der Jonathan Harker ganz ähnlich in seinem Schloss in Empfang nimmt (McNally/Florescu 2001: 19). Zum Vergleich: »[Der Graf] ergriff meine Hand und drückte sie [...]; dabei war die Hand so kalt wie Eis, mehr wie die eines Toten als eines Lebenden.« (Stoker 2021: 26).
Im Zuge der Stille in der Geschichte muss man auch die Stimmen der Figuren genauer beachten. Oft haben sie nämlich eine Bedeutung: Jekylls veränderte Stimme in dieser Szene deutet z. B. auf seine vorangegangene Verwandlung in Hyde hin und ist außerdem ein Indiz für seinen Schock (ebd.: 19f.).
Jekyll zeigt sich in diesem Kapitel sehr emotional: »Ich habe eine Lektion gelernt – o Gott, Utterson, was für eine Lektion habe ich gelernt!«, ruft er verzweifelt aus (37). Damit fällt er immer mehr aus dem Muster des beherrschten, viktorianischen Gentlemans. Statt die Fassade zu wahren, gibt er seinen Gefühlen nach.
Die Veränderung Jekylls spiegelt sich ebenfalls in den Räumlichkeiten wider, in denen er Utterson empfängt. Wieder dient das Haus als Symbol für seine gespaltene Persönlichkeit. Dieses Mal sind sie im Laboratorium auf der Rückseite von Jekylls Haus – eigentlich die Seite, in der Hyde immer gesehen wird. Utterson hat ein »Gefühl der Befremdung«, denn der Hörsaal ist unordentlich, »marode«, »öde« und »still« (34). Er hat keine Fenster, sondern nur ein trübes Oberlicht. Damit bewegt sich Jekyll immer weiter weg von seiner guten Seite und rückt näher an Hyde heran.
Als Utterson Mr. Guest zu sich einlädt, trinken sie Wein. Getränke spielen in der Novelle eine wichtige Rolle. Der Wein wird auch an anderen Stellen erwähnt, wie z. B. bei der Beschreibung Uttersons im ersten Kapitel, der eine »Schwäche für guten Wein« habe, diesen aber nur selten trinke (7). Dieser Wein ist ein »Parallel- und Gegenmotiv zu Jekylls Mixtur« (Niederhoff 1994: 44). Der verschlossene Utterson erlebt wie Jekyll eine Verwandlung durch ein bestimmtes Getränk; jedoch bringt ihn der Wein dazu, seine gesellige Seite auszuleben (ebd.: 45).
Jekylls Trank hat finstere Konsequenzen. Er verwandelt sich durch ihn in ein Monster und diese Tatsache berauscht ihn im Augenblick der Verwandlung »wie Wein« (76). Wie Wein ist der Trank rot. Seine Abhängigkeit von ihm und sein Scheitern, ihm zu entsagen, erinnern an Drogen- bzw. Alkoholsucht: Er trinkt sein Gemisch, um aus der Verantwortung in eine Welt der Sucht und des Exzesses zu fliehen (Reed 2006: 1f.).
Im viktorianischen London war das Trinken von Alkohol durchaus üblich. Auch das Experimentieren mit oder Einnehmen von Drogen war in der Oberschicht beliebt, so war z. B. ein täglicher Konsum von Laudanum (eine Lösung von Opium mit roter Farbe) unter anderem als Schmerzmittel nicht ungewöhnlich (McNally/Florescu 2001: 138f.).

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.