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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Historischer Hintergrund und Epoche

Stevenson veröffentlichte »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« im Jahr 1886, als Königin Victoria das Britische Weltreich regierte. Es war die Zeit der Industriellen Revolution, die den Bau von großen Fabriken zur Massenproduktion von Eisen, Textilien, Papier und Chemikalien nach sich zog. Dadurch mussten viele kleine Betriebe schließen und die Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit zu Massen in die Städte (Kirby 2017: 20).

Damals war London mit vier Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt und galt als das wirtschaftliche und soziale Zentrum der Nation. Die Gegensätze zwischen West und East End allerdings waren groß: Während man im West End Regierungsgebäude und kulturelle Einrichtungen wie Theater und Museen fand, versank das East End in Armut. Hier lebten Menschen unter katastrophalen Bedingungen in den sogenannten »slums«, also in Elendsvierteln (Walkowitz 2003: 141–144).

Die wohlhabenden Menschen im Viktorianischen Zeitalter richteten sich nach einem strengen moralischen und sozialen Code. Dabei waren vor allem Ruf, Aussehen und Religion sehr wichtig. Es war jedoch kaum möglich, diese hohen Standards zu befolgen und so kennzeichnete die Epoche auch eine gewisse Scheinheiligkeit (Houghton 2003: 146–149).

Das 19. Jahrhundert war außerdem von den Erkenntnissen der Evolutionstheorie geprägt. 1859 erschien Charles Darwins »Über die Entstehung der Arten« (im englischen Original »The Origin of Species«) und trat einen heftigen gesellschaftlichen Diskurs los (Scholz 1993: 4). Es wuchs Angst vor einer Umkehrung der Evolution und damit der Degeneration der Gesellschaft: Denn wenn der Mensch aus dem Affen entstanden ist, schien es genauso möglich, dass er sich wieder zum Affen zurückentwickelt (ebd.: 4f.). Gerade Verbrecher sollten angeblich besondere körperliche Merkmale aufweisen, die an die Körper von Affen erinnern, wie z. B. ein größeres und affenähnlich geformtes Gehirn (Gould 1996: 133).

Es gab Studien zur Degeneration in Verbrechergehirnen: Die bekannteste Theorie dazu stammt von Cesare Lombroso, der der Ansicht war, man könne ein kriminelles Gehirn von einem nicht-kriminellen Gehirn aufgrund von äußeren Merkmalen unterscheiden, denn das kriminelle Gehirn erinnere in Größe und Form an das eines Affen

Vorbild und Inspiration für »Jekyll und Hyde« war der schottische Verbrecher William Brodie. Er lebte Mitte des 18. Jahrhunderts in Edinburgh und führte ein Doppelleben, das an das von Jekyll erinnert: Bei Tag war er ein talentierter Tischler und ein angesehenes Mitglied der Handwerkergilde und des Stadtrats. Bei Nacht jedoch nutzte er sein handwerkliches Geschick aus, um eine Reihe von Einbrüchen zu begehen. 1788 wurde ihm schließlich für seine Verbrechen der Prozess gemacht und er wurde hingerichtet (McNally/Florescu 2001: 25–66). Stevenson verfasste 1880 das Drama »Deacon Brodie«, das das Thema erstmals aufnimmt (Reclam 2022: 105).

Die ersten Szenen der Geschichte kamen Stevenson im Traum, die erste Version verfasste er in drei Tagen. Jedoch kritisierte seine Frau Fanny diese Version scharf: Ihrer Meinung nach sollte die Geschichte eher wie ein Gleichnis angelegt werden. Stevenson verbrannte das Manuskript und schrieb die Geschichte um, erneut in drei Tagen (Balfour 2003: 77ff.).

Die Geschichte zählt zur Gattung der Novelle, was man an der Kürze erkennen kann: Sie lässt sich mit ihren 93 Seiten in einem Zug durchlesen. Typisch für die Novelle geht es um »Unerhörtes, Dramatisches«, in Szene gesetzt durch »Spannungskurven und Wendepunkte« (Füllmann 2010: 10).

Außerdem fügt sich Stevensons Geschichte in die Tradition der englischen Schauerliteratur (engl.: »gothic fiction«) ein. Dieses Genre erfreute sich im 19. Jahrhundert großer Beliebtheit. Es ist darauf angelegt, beim Leser Schrecken auszulösen und spielt mit der Sensationslust der Menschen. Die Themen bewegen sich im Bereich der Phantastik und erzählen oft von übernatürlichen, unheimlichen Begebenheiten (Halberstam 2003: 128–131).

Häufig standen Monster im Zentrum dieser Geschichten, wie in Mary Shelleys »Frankenstein« oder Bram Stokers »Dracula«. Gerade diese Werke dienten als Inspiration für Stevenson. In »Dracula« z. B. wird, wie in »Jekyll und Hyde«, aus der Sicht von mehreren Personen und in Form von Briefen erzählt, was den Eindruck von Authentizität und Vollständigkeit erweckt. Es entsteht eine Ähnlichkeit zu einem Gerichtsprozess, bei dem viele Zeugen nacheinander auftreten. Diese Erzähltechnik wurde gerne von Autoren der Schauerliteratur benutzt und geht zurück auf Wilkie Collins’ Roman »Die Frau in Weiß« von 1860 (ebd.: 130f.).

Außerdem fällt eine Ähnlichkeit zur viktorianischen Detektivgeschichte auf, die vor allem durch Edgar Allan Poe und später Arthur Conan Doyle beeinflusst wurde. Die Lösung eines Rätsels durch den »Detektiv« Utterson, aber auch die neblige Londoner Atmosphäre erinnern stark an Sherlock Holmes. Da der erste Holmes-Band, »Eine Studie in Scharlachrot«, erst im Folgejahr herauskam, wird im Literaturbetrieb manchmal argumentiert, Stevenson habe die Detektivgeschichte mit »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« mitbegründet (Hamblock 2022: 101f). 

Veröffentlicht am 27. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 27. April 2023.