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Aus dem Leben eines Taugenichts

Interpretation

Körperkomik und hohe Minne

Der Bezug auf die zeitgenössischen und romantischen literarischen Programme erfolgt im »Taugenichts« weitgehend in parodistischer, also kritischer bis ablehnender Perspektive. Fragt man nach literarischen Vorbildern und Mustern, die in die Erzählung positiv konnotiert eingebaut werden, trifft man auf ältere und älteste Literatur.

Eichendorff zeigt sich dem barocken Schelmenroman (Grimmelshausen) verpflichtet und dessen sonderlichem Ableger, dem Ende des 17. Jahrhunderts erschienenen »Schelmuffsky« Von hierher übernimmt er die erzählerische Grundeinstellung und in Anlehnung an diese Vorbilder gestaltet er das Verhältnis, das der Taugenichts zu seiner eigenen Körperlichkeit hat. Es war in dem alten, durch die rhetorische Tugend der Angemessenheit regierten, literarischen System allein dem niederen Stilregister und allein Personen niederen Standes vorbehalten, Körperlichkeit in einer anderen als idealisierten Weise zu thematisieren.

Der Titel, den Eichendorff zunächst vorgesehen hatte (»Der neue Troubadour«) und einige Wendungen aus dem zweiten Lied »von einer vielschönen Fraue« (462) verweisen auf die mittelalterliche Minnedichtung. Diese beansprucht einen hohen Stil, sie richtet sich an verheiratete, adlige Frauen und reinigt die meist aussichtslose, in der Entfernung ausgelebte Liebe von allen körperlichen Affekten, von aller Triebhaftigkeit.

Wenn diese beiden Vorbilder gleichermaßen geltend gemacht werden sollen, muss der Protagonist in Eichendorffs Werk »Aus dem Leben eines Taugenichts« eigentlich eine gespaltene Person sein – und so ist es auch. Er ist der Held niederen Standes, der auf dem Kutschbock (und auch sonst gelegentlich) einschläft, der sich den Fuß verrenkt, ungeniert zulangt, wenn es gutes Essen gibt, der im Schilf sitzt »wie ein Rohrdommel« (eine Reiherart), den es mitunter graust und der, »um es kommoder zu haben«, einen alten Sonnenschirm flickt und über sich hält »wie ein chinesisches Lusthaus« (474).

Zugleich aber findet er, sobald er sie auf der Landstraße trifft, in Aurelie eine Orientierung, die ihn durch alle Versuchungen hindurch trägt und leitet: Die Versuchungen einerseits, ein philisterhaftes Leben zu führen (als Gärtner, als Zolleinnehmer, als Schwiegersohn eines reichen Bauern), und die erotischen Versuchungen andererseits, denen er nur so lange nachgeht, wie er meint, sie rührten von Aurelie her. So empfänglich er für erotische Reize in der oberflächlichen, ersten Begegnung erscheint (immer charakterisiert er die jungen Frauen, die er trifft, als hübsch, als anziehend – vgl. etwa die neue Kammerjungfer auf dem Postschiff oder die Dienerin in dem Bergschloss), so undenkbar ist letztlich, dass er irgendwo anders, als bei Aurelie, Ernst macht. Wie zart er in diesen Dingen denkt, offenbart sich etwa, wenn er im Bergschloss die Tür zu der Kammerdienerin schließt, damit sie, in verführerischer Stellung schlafend, nicht wissen muss, dass er sie so gesehen hat (ihre Indiskretion rührt dabei nur daher, dass sie ihn für die verkleidete Flora hält).

Man halte gegen solche Stellen einmal folgende Stelle aus dem »Schelmuffsky«:

    1. O Sapperment! wie fiel mir das Mensche, die Charmante, um den Halß, da Sie von den Verstecken hörete! Sie stackte mir der Tebel hohl mer Ihre Zunge eine gantze halbe Elle lang in mein Maul, so lieb hatte Sie mich, und druckte mir ein Spanisch Creutze über das andere, daß ich auch manchmahl nicht anders dachte, Himmel und Erden läge auf mir, vor solcher Liebes-Vergnügung, welche mir das Mensche erzeigte. Wie Sie nun die Liebes-Regungen durch Ihre allzu grossen Caressen bey mir gantz Schamloß gemacht hatte und ich der Tebel hohlmer selbst nicht wuste, was ich thate, so gab Sie hernach Freyens bey mir vor und sagte: Ich solte Sie nehmen! (Schelmuffsky 35 f.)

Das Künstlertum des Taugenichts

Positiver Fix- und Angelpunkt des »Taugenichts« ist neben der reinen Liebe, die der Protagonist zu Aurelie hegt, sein Geigenspiel und sein Liedersingen.

Er verfügt über ein mehr oder weniger festes, überschaubares Repertoir an Liedern, das er, wenn er dazu Lust hat, insgesamt durchspielen kann. So singt er, nachdem er die Weinflasche zugesandt bekommen hat, »alle [seine] Lieder, die [er] nur wußte« (456), und auch in dem römischen Garten spielt er »voll Vergnügen alle [seine] Lieder durch, die [er] damals in den schönen Sommernächten im Schloßgarten, oder auf der Bank vor dem Zollhause gespielt hatte« (523).

Das Liedersingen ist als unmittelbarer, naturhafter Teil seiner Persönlichkeit und kaum als angelernte Fertigkeit zu begreifen. Er verbessert sich nicht. Möglich, dass er hier und da ein neues Lied aufschnappt, dass er ein anderes vergisst – das Repertoire wird immer dieselben, durch das Gedächtnis vorgegebenen Ausmaße behalten.

Der Taugenichts spielt vor allem dann, wenn er glücklich ist, und er gerät darüber in eine sich seiner Umwelt mitteilende Selbstvergessenheit, die ihn offenbar anziehend macht, die jedenfalls wiederholt zum Ausgangspunkt einer Begegnung wird (mit den beiden Damen im Reisewagen, mit dem Geistlichen auf dem Postschiff). Bewusster agiert er, wenn er in einer bereits versammelten Gesellschaft die Geige hervorholt und zu spielen beginnt, zum Tanz animierend (Kapitel 3 und 8). Auch hier hat das Spiel eine Geselligkeit befördernde Wirkung.

Ein problematisches Verhältnis zu der momentan um ihn versammelten Gesellschaft gibt es einzig am Ende von Kapitel 1, bei der Überfahrt über den Gartenteich: Denn hier allein spielt der Taugenichts nicht aus eigenem, spontanem Antrieb, sondern er wird von Rosette und der Gräfin aufgefordert, das nur für sich gesungene Liebeslied öffentlich und in Anwesenheit derjenigen Frau vorzutragen, an die es heimlich adressiert ist. Nur hier hat das musikalische Spiel eine negative Wirkung.

Es gibt also für das Künstlertum des Taugenichts eine Bedrohung durch eine zu enge gesellschaftliche Einbindung.

Flora musiziert auf eine ähnliche Weise wie der Taugenichts und ihr Singen wird viel stärker profiliert als das Aurelies: Von diesem Gesichtspunkt her passt sie besser zu ihm. Der Portier hingegen wird parodistisch als Berufs- und Hofmusiker dargestellt, der jeder künstlerischen Spontanität, jeder Anmut entbehrt.

Veröffentlicht am 26. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. September 2023.