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Aus dem Leben eines Taugenichts

Kapitel 7

Zusammenfassung

Auf seiner Flucht erfährt der Taugenichts, dass er nur wenige Meilen von Rom entfernt ist. Von dieser Stadt hat er schon als Kind geträumt und in der Nacht sieht er sie fern unter sich im Mondschein liegen. Über eine Heide, unter der, wie es heißt, die Frau Venus begraben liege, kommt er an die Stadtgrenze.

Ziellos durch die Straßen gehend, hört er tief aus einem Garten Gitarrenspiel und den Gesang Aurelies: Sie singt ein italienisches Lied, das sie oft im Wiener Schloss am offenen Fenster gesungen hat. Der Taugenichts, von Sehnsucht nach der alten Zeit gepackt, dringt in den Garten ein. Eine schlanke, weiße Gestalt sieht ihm von fern her zu und verschwindet rasch im Haus. Er hat sich, als er über das Gartentor gesprungen ist, den Fuß verrenkt und gelangt erst zum Haus, als Tür und Fenster schon verschlossen sind. Auf sein Klopfen meint er, drinnen ein Flüstern und Kichern zu hören, und einmal kommt es ihm so vor, als wenn zwei helle Augen aus den Jalousien blickten.

In der wieder eingetretenen Stille singt er alle seine Lieder, um sich zu erkennen zu geben, doch nichts rührt sich mehr. Er legt sich auf der Schwelle schlafen, und als er am Morgen durch die Jalousie in das Haus hineinsieht, sieht er alles in großer Ordnung und so, als sei das Zimmer unbewohnt und verlassen. Ein Grausen befällt ihn und er läuft davon. Oben auf dem Gartentor sieht er die Stadt unter sich funkeln und blitzen.

Nun weiß er nicht, wo er sich hinwenden soll. Er wäscht sich an einem Springbrunnen singend das Gesicht und wird von einem jungen Deutschen angesprochen. Der Maler lädt ihn zum Frühstück ein und nimmt sich vor, ihn zu malen. Er bringt ihn zu sich in eine unordentliche Dachkammer. Der Taugenichts soll ihm für einen Hirten Modell sitzen, den er für eine »Anbetung der Hirten« benötigt, doch der Taugenichts hat Schwierigkeiten stillzuhalten. Wieder aufgestanden, besieht er sich die herumstehenden Gemälde. Wegen zweien, die ihm besonders gefallen, erkundigt er sich nach dem Maler: Sie sind von Leonardo da Vinci und Guido Reni, die der Taugenichts zu kennen vorgibt, mit den beiden Malern verwechselnd, mit denen er nach Italien gekommen ist.

So erkennt der Maler ihn als denjenigen, den eine Gräfin aus Deutschland in ganz Rom gesucht hat, und die der Maler nur bei einer Freundin von ihr einige Male gesehen hat. Er fragt den Taugenichts, ob er die Person, die auf einem anderen Gemälde abgemalt ist, kenne, und tatsächlich – sein Gast erkennt darin seine Geliebte. Freudig stürzt er aus dem Haus, und der Maler kann ihm kaum noch nachrufen, er solle am Abend wiederkommen, damit sie mehr erführen.

Analyse

Die unsichere räumliche und zeitliche Beschaffenheit der Welt, in welcher der Taugenichts sich bewegt, wird zu Beginn des Kapitels abermals kenntlich. Wie lang ist eigentlich die Reise vom Bergschloss nach Rom gewesen? Der erste Satz hebt an: »Ich war Tag und Nacht eilig fortgegangen, […].« (521) Bedeutet das: genau einen Tag und eine Nacht? Oder ist es eine summative Wendung mit der Bedeutung: »ohne zu rasten«? Der Anfangspunkt der Bewegung liegt in der Nacht, der Endpunkt auch wieder (»Die Nacht war schon wieder lange hereingebrochen, und der Mond schien prächtig, als ich endlich auf einem Hügel aus dem Walde heraustrat, […].« – 521). Das Minimum der Reisedauer wären also die vierundzwanzig Stunden von der einen zur nächsten Nacht.

Nun herrschte von dem Bergschloss her »überall eine weite, einsame Aussicht, eine Bergkoppe hinter der andern, so weit das Auge reichte« (513). Das klingt nicht so, als ob Rom nur eine Tagesreise weit entfernt gelegen hätte – also, sagen wir, dreißig Kilometer, die man von einer Bergspitze schonmal überblicken kann. Nicht die Wahrscheinlichkeit also zeichnet für die räumlichen und zeitlichen Verhältnisse verantwortlich, sondern die poetische Notwendigkeit, nach der das Bergschloss weit entlegen und ohne Anschluss an die übrige Welt erscheinen musste, solange der Taugenichts darin gefangen war. Sobald er sich von seinem Bann befreit hat, ist er wieder in der eiligen Reisebewegung begriffen, die ihn aus Wien hergebracht hatte, und die Rom, die nächste Etappe, unversehens in die Nähe rückt.

Wie sieht Rom eigentlich aus? Der Taugenichts stellte es sich als Kind vor »wie die ziehenden Wolken über mir, mit wundersamen Bergen und Abgründen am blauen Meer, und goldnen Toren und hohen glänzenden Türmen, von denen Engel in goldenen Gewändern sangen.« (521) Als er sie in der Nacht unter sich liegen sieht, vergleicht er die Stadt mit einem eingeschlafenen Löwen, den die darum herum gelegenen Berge wie dunkle Riesen bewachen (522). Er nähert sich ihr, nachdem er eine einsame Heide durchquert hat, weiter an, doch die sich steigernde Deutlichkeit der Wahrnehmung führt nur wieder in das erste, das kindliche Traumbild zurück:

    Denn die Stadt stieg immer deutlicher und prächtiger vor mir herauf, und die hohen Burgen und Tore und goldenen Kuppeln glänzten so herrlich im hellen Mondschein, als ständen wirklich die Engel in goldenen Gewändern auf den Zinnen und sängen durch die stille Nacht herüber. (522)

Es gibt – so könnte man das Ausbleiben einer Ersetzung poetischer Vorstellungen durch realistischere Wahrnehmung interpretieren – keinen Ausgang aus der poetischen Beschaffenheit der Welt. Auch Aurelies marienhaftes Wesen erschien erst im poetischen Vergleich, erst in der Spiegelung auf dem Wasser so, wie es den Taugenichts tatsächlich berührt.

Zunächst wird in Rom eine Konstellation variiert, die aus den ersten beiden Kapiteln bereits wohlvertraut ist. Eine räumlich entrückte Frauengestalt wird vom Helden mit seiner Geliebten identifiziert. Das (wieder einmal fälschliche) Erkennen läuft in der Hauptsache über das Gehör und wird von dem Gesichtssinn nur bestätigend ergänzt. Die Frau kann sich seiner Annäherung entziehen und die Kommunikation bleibt einseitig und zweideutig: Er selbst gibt, ohne Antwort zu erhalten, all die Lieder zum Besten, die sie mit ihm in Verbindung bringen müsste; und auf sein Klopfen hört er von drinnen ein Flüstern und Kichern. Die durch die Jalousien hervorfunkelnden zwei hellen Augen erinnern natürlich an den Blick der Kammerjungfer im ersten Kapitel und dieser Umstand spricht gegen die Annahme des Taugenichts, hier habe er wirklich Aurelie gefunden.

Die Verlassenheit des Hauses am nächsten Morgen erfüllt ihn mit Grausen und er läuft davon – dies ein Motiv aus dem Aufenthalt auf dem Bergschloss, wo ihn dasselbe Gefühl angesichts der Avancen des blassen Studenten überkam. Dort hatte es sich als eine heilsame Abstoßung erwiesen, ein Wieder-in-Bewegung-Setzen, das den Taugenichts aus der trägen Befangenheit löste, in der er sich zu verlieren drohte.

Schließlich – so wie er vor dem Haus mutig und laut alle seine Lieder durchspielt, das erinnert an sein Spiel vor dem Wiener Schloss, nachdem die Fliege und sein Niesen Aurelie von dem Fenster vertrieben hatten, (vgl. 458), und das eigentlich nur noch die Gräfin entgegennimmt.

Wenn also das Wiedererkennen der Stimme für den ersten Leser den Ausschlag geben, und er an Aurelies Vorhandensein glauben mag; so mischt der Autor doch viele motivische Wiederaufnahmen in die Szene, die aus Konstellationen stammen, in denen es keinen direkten Kontakt zwischen dem Helden und seiner Geliebten gab.

Überhaupt scheint es, als ob der motivische Vorrat schon vollends durchschritten wäre und auch in der neuen Stadt nichts Neues mehr geschehen könnte. Denn so wie der Taugenichts bei seiner ersten Fahrt dank seines unbefangenen Gesanges die Bekanntschaft der Gräfin und Aurelies machte, so bringt ihm sein Singen am Brunnen jetzt die Bekanntschaft des deutschen Malers zuwege, der ihn auf eine andere, indirektere Spur seiner Geliebten bringt.

Dieser Maler immerhin, seine Tätigkeit und der Ortstyp seines Zuhauses – die unordentliche Künstler-Dachkammer – sind etwas Neues. Das heißt, sie gehören in eine bisher unbeachtet gebliebene Reihe von Textelementen, die »Aus dem Leben eines Taugenichts« als ein spätromantisches, die Verfahren der Romantik bereits reflektierendes und mitunter parodierendes Werk ausweisen.

Bei der Kahnfahrt erhofft sich der zierliche junge Herr von der Darbietung des Taugenichts das authentische Erleben des Inbegriffs der deutschen Nation (vgl. 462). Motive der Schauerromantik und ihre spezifische Funktionalisierung sind im Abschnitt zu dem fünften und sechsten Kapitel besprochen worden. Als der Held auf der Schwelle zu dem Haus, in dem Aurelie verschwunden ist, einschläft, träumt er »von himmelblauen Blumen« (524) – eine Anspielung auf die frühromantischen Träume des Heinrich von Ofterdingen in Novalis‘ gleichnamigem Roman.

Der Maler nun ist ein Nazarener – ein Deutscher, der sich in Italien vor allem auf die christliche Malerei Raffaels, Leonardo da Vincis und auch Guido Renis zu besinnen sucht. Zentraler Text dieser romantischen Auffassung von Malerei sind die »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« (1797) von Wilhelm Heinrich Wackenrode, in der dem Bildmotiv der »Anbetung der Hirten« eine zentrale Rolle zukommt. Wie nun der von Juckreiz geplagte, zuckende, Grimassen schneidende Taugenichts in das Bild versetzt wird – das entbehrt nicht eines parodistischen Reizes. Ähnlich gelagert ist natürlich die Bekanntschaft, die der unbedachte Held mit den ehrfürchtig angebeteten Malern Reni und da Vinci zu haben behauptet.

Zu notieren bleibt noch das schwarze Kleid, das Aurelie auf dem Bild trägt, das der Maler schließlich vorzeigt, und das den hastigen Aufbruch des Taugenichts hervorruft. Im Anschauen versetzt dieser die Aurelie auf dem Bild in die Landschaft des Wiener Schlosses und diese ausdrückliche Wirkung der Einbildungskraft (»Je länger ich hinsah, je mehr kam es mir vor, als wäre es […]« – 528) mag die Identifikation der Dargestellten mit Aurelie wieder in eine Perspektive leichten Zweifels rücken.

Jedenfalls bekommt der Leser keine Möglichkeit dargeboten, den überhandnehmenden Eindruck des Protagonisten anhand glaubwürdigerer Angaben zu überprüfen. Das schwarze Kleid ist auffällig, weil sie, mit Ausnahme des Jäger-Habits, sonst immer in Weiß gekleidet war. Bedenkt man aber, dass die weiße Farbe ihre marienhafte Reinheit symbolisiert, und dass Aurelies Bild jetzt in einem Kontext erscheint, in dem die Marienverehrung der Nazarener parodiert wird, macht es wiederum Sinn, ihre Darstellung von den sie umgebenden Marienbildern abzugrenzen.

Veröffentlicht am 24. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. September 2023.