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Aus dem Leben eines Taugenichts

Kapitel 3

Zusammenfassung

Gerade aufgebrochen, wird der Taugenichts sich seiner eigenen Orientierungslosigkeit und der Weite der Welt bewusst. Er fragt einen stattlich gekleideten Bauern nach dem Weg nach Italien und bekommt eine unwirsche, ablehnende Antwort. In sein Dorf umkehren will er nicht und als er sich erinnert, was der Portier ihm von Italien erzählt hat, setzt er mit neuem Mut und ohne weitere Orientierung seinen Weg fort.

In einem an der Straße gelegenen Baumgarten mit guter Aussicht in die weite Landschaft ruht er sich aus und schläft – mit den Gedanken bei seiner Geliebten und bei der heimatlichen Mühle – bald ein. Er träumt von einer Begegnung mit seiner Geliebten an eben dieser Stelle, dann aber sind sie bei der verlassenen Mühle, wo sie, besonders gut zu ihm, immerzu das Lied singt, das sie frühmorgens im Schloss am Fenster gesungen hat. Die einsetzende Mühle und ein zunehmendes Sausen verändern die Szenerie bedrohlich – in Wirklichkeit der Bauer von eben, der, nun ohne seinen Sonntagsstaat, den Taugenichts aus seinem Garten vertreiben will. Dessen Versuche, seine innegehabten Ämter geltend zu machen, fruchten nichts, und als der Bauer, ihn dumm anblaffend, eine hässliche, unheimliche Gestalt gewinnt, flieht der Taugenichts ängstlich davon.

Seine Flucht treibt ihn in einen Wald von der Landstraße ab und er geht auf immer unscheinbareren Pfaden in das Gebirge. Wenn er die friedliche Natur und die Waldeinsamkeit zunächst auch genießt, überkommen ihn doch bald Müdigkeit und Hunger, und nach langem Umherirren und Umherstolpern findet er erst gegen Abend in einem Wiesental einen im Gras liegenden Hirten auf der Jenseite eines Flüsschens, den er nach dem Weg zum nächsten Dorf fragen kann. Weitermarschierend, kommt er nach Sonnenuntergang an einen weiten, grünen Platz, mit einer Linde in der Mitte und einem Wirtshaus, mit lärmenden Kindern und vor dem Wirtshaus um einen Tisch sitzendem und beieinander plaudernden Bauernvolk.

Spontan zum Tanz aufspielend versetzt der Taugenichts die ganze Gesellschaft in Bewegung. Ein Bauernbursche will damit großtun, ihm für sein Spiel ein Silberstück zu geben, wird aber abgewiesen. Ein hübsches Mädchen hingegen bietet ihm auf eine kokette Art ein Glas Wein an, das er bis auf den Grund austrinkt. Als das improvisierte Fest endet und die Leute nach Hause gehen, blickt sich das Mädchen andeutungsvoll nach ihm um und er kommt mit ihr in ein kurzes Gespräch, worin sich zeigt, dass sie einen reichen Vater hat. Sie schenkt ihm eine Rose und lobt sein Spiel – wiewohl sie das Kopfwackeln dabei stört, das er als seinem Virtuosentum zugehörig verteidigt.

Ein Gepolter vom Wirtshaus her unterbricht ihr Gespräch, denn ein betrunkener, offenbar die Zeche nicht bezahlender Feldscher wurde zur Tür hinausgeworfen. Er schimpft laut vor sich hin, geht auf den Taugenichts los, als er ihn erblickt, und dann, als dieser ausweicht, in die Finsternis davon. Allein auf dem Platz bedenkt der Taugenichts, dass er das Mädchen heiraten und dabei sein Glück machen könnte, er denkt an die Mühle und an das Schloss, und ihn überkommt wieder das Gefühl von der Weite der Welt und seiner Einsamkeit darin.

Dabei hört er zwei Reiter herankommen, die er für Räuber hält. Er versucht noch, auf die Linde zu klettern und sich zu verstecken, doch seine Beine baumeln von dem ersten Ast herab und werden entdeckt. Einer der Reiter gibt an, die beiden hätten sich verirrt; er zwingt den Taugenichts mit vorgehaltener Pistole, ihnen den Weg nach B. zu zeigen, obwohl der Taugenichts angibt, diesen Weg selbst nicht zu kennen.

Die Nacht hindurch führt er sie ziellos durch den Wald, doch im Morgengrauen schöpft er neuen Mut und pfeift auf einem freien Waldplatz herum, als sei er selbst ein Räuber, der seinen Kumpanen Signale gibt. Doch in dem Morgenlicht erkennt einer der Reiter den Taugenichts als den Gärtner und Einnehmer vom Schloss. Er bietet ihm an, als Bedienter bei ihnen zu arbeiten, und als sie sich darüber verständigen, dass sie mit Italien das gleiche Ziel haben, packt sie die Freude.

Sie sehen in der Ferne den Kirchturm von B. und machen ein reichhaltiges Picknick, wobei dem Taugenichts die beiden Reiter als die Maler Leonhard und Guido vorgestellt werden. Während Guido – in Wirklichkeit Flora, die Tochter der Gräfin vom Schloss bei Wien – anmutig ein Lied singt, schläft der Taugenichts ein und als er erwacht, hat sich Guido über ihn gebeugt. Leonhard scheint verdrießlich, fasst aber auch neuen Mut, als der Taugenichts aufgesprungen ist, und anstoßend auf eine glückliche Ankunft brechen sie auf.

Analyse

Kapitel 3 und 4 sind Reisekapitel. Das dritte Kapitel steht insofern einzig in der Erzählung da, als der Held sich in ihm unabhängig vom ersten Aufenthaltsort und seinen Bewohnern bewegt. Schon am Ende des Kapitels hat das Schloss, von dem er fortgegangen ist, ihn in Gestalt der beiden Reiter gleichsam wieder eingeholt.

Der Held eines Märchens kann sich nicht im offenen Raum bewegen, ohne dass ihm nicht sogleich etwas Bedeutendes zustieße, dass er nicht sogleich von einer Helferfigur auf den richtigen Weg gebracht, oder von einer notleidenden Figur von seinem ersten Weg abgelenkt und seiner eigentlichen Bestimmung nähergebracht würde. Diese Notwendigkeit der Führung des Helden durch ein Ereignis oder eine Figur drückt sich umgekehrt in der Orientierungslosigkeit und Verlassenheit aus, die den Helden befällt, wenn der erste Impuls des In-die-Welt-Gehens nicht mehr wirkt und er der neuen Führung noch entbehrt.

Konkret ist außerdem an eine Anleihe beim »Schelmuffsky« Christian Reuters zu denken. Dort heißt es gleich nach dem Aufbruch des Helden:

    Wie ich nun vor das Thor kam, o sapperment! wie kam mir alles so weitläufftig in der Welt vor! Da wuste ich nun der Tebel hohl mer nicht, ob ich gegen Abend oder gegen der Sonnen Niedergang zu marchiren sollte; hatte wol 10 mal in Willens, wieder umzukehren und bey meiner Frau Mutter zu bleiben, wenn ich solches nicht so lästerlich verschworen gehabt, nicht eher wieder zu ihr zu kommen, bis daß ich ein brav Kerl geworden wäre. Doch hätte ich mich endlich auch nicht groß an das Verschweren gekehret, weil ich sonst wohl eher was verschworen und es nicht gehalten hatte, sondern würde unfehlbar wieder zu meiner Fr. Mutter gewandert seyn, wann nicht ein Graf auf einen Schellen-Schlitten wäre qver Feld ein nach mir zu gefahren kommen und mich gefraget: wie ich so da in Gedanken stünde? (Schelmuffsky, 21)

Im ersten Kapitel von »Aus dem Leben eines Taugenichts« ist der Wagen der Gräfin und ihres Kammermädchens an den Taugenichts herangefahren, noch während er das Lied sang, in dem sich seine Lust am Wandern das erste Mal artikulierte. In diesem dritten Kapitel braucht es viele Zwischenschritte, bis er mit Leonhard und Guido (Flora) die richtigen Führer nach Italien findet. Dabei geht der Weg zunehmend in die Irre.

Der Bauer, der von Italien nichts wissen will und den Taugenichts aus seinem Baumgarten vertreibt, setzt eine Fluchtbewegung in Gang, die den Helden von der Landstraße weg ins waldige Gebirge treibt. Das blinde Fortlaufen dient entgegen jeder Wahrscheinlichkeit zu einem vollständigen Wechsel der Szenerie: »Als ich endlich wieder still hielt um Atem zu schöpfen, war der Garten und das ganze Tal nicht mehr zu sehen, und ich stand in einem schönen Walde« (491) – so als wäre es möglich, über eine so weite Strecke blindlings zu laufen. In dem Wald weicht die erste Wanderlust bald den in der Irre dringend werdenden körperlichen Bedürfnissen. Der in einem Wiesental im Gras liegende Hirte ist der erste nützliche Wegweiser – dank ihm gerät der Taugenichts zu der Wirtshauswiese, wo ihn nach dem Tanz und der Heimkehr der Bauern und des Bauernmädchens, das mit ihm angebändelt hatte, die beiden Reiter Leonhard und Guido (Flora) finden.

Mit ihnen ändert sich noch einmal die Bewegungsform: Sie nennen ein Ziel, zu dem der Taugenichts sie führen soll, und zwingen ihn, diese Führung zu übernehmen, obgleich er bekennt, den Weg gar nicht zu kennen. Die Märchenlogik greift aber auch in diesem Fall, und am frühen Morgen sehen sie den Kirchturm von B. in der Nähe, obgleich der Taugenichts nur »den ersten besten Weg« genommen hatte, »der an dem Wirtshause vorüber vom Dorfe abführte.« (497)

So verwickelt die räumlichen Veränderungen auch sind, in der Zeit umfasst das dritte Kapitel nicht mehr als einen Tag und eine Nacht.

Es gibt einige deutliche literarische Reminiszenzen. »Nach Italien, wo die Pomeranzen wachsen« – das ist natürlich das Lied der Mignon in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn | Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, […]?« (Lehrjahre 145) Auch der Traum, in dem die verschiedenen Elemente der Erzählung bedeutsam durcheinander gemischt werden, hat sein Vorbild in den »Lehrjahren« (vgl. Lehrjahre 425 f.). Dort gibt es außerdem eine Waldlichtung, auf der die Theatertruppe zuerst feiert und dann überfallen wird (vgl. Lehrjahre 223 f.), und über Wilhelm beugt sich Mignon (vgl. Lehrjahre 224 f.) ähnlich wie Flora über den schlafenden Taugenichts.

Ferner wäre an den überstürzten Aufbruch aus den ihm eng gewordenen Weimarer Verhältnissen zu denken, den Goethe in der »Italienischen Reise« schildert (»Früh drei Uhr stahl ich mich aus Carlsbad, weil man mich sonst nicht forgelassen hätte.« – Italienische Reise 11). Die Ballade »Der Sänger« – auch aus den »Lehrjahren« (Lehrjahre 129 f.) – wird, jetzt erotisch konnotiert, auf der Wirtshauswiese ausagiert.

Wenn der Taugenichts den Bauern, der ihn wegen seines Geigenspiels mit Geld entlohnen will, zurückweist, den Wein des Mädchens aber annimmt, muss er, als sie ihre Werbung fortsetzt, feststellen, dass auch mit ihr sich einzulassen das Ende seines freien Spiels und seiner freien Lebensweise bedeuten würde. Zum Tausch bekäme er »Hammel und Schweine, Puter und fette Gänse mit Äpfeln gestopft« (495) – es ist die erotisch-sinnliche Versuchung in neuem, etwas derberem Gewand, der er in Gestalt der Gräfin und ihrer Kammerjungfer schon im Schloss begegnet war.

Sonst dominieren die abweisenden, den Helden ab- und fortstoßenden Elemente: der Bauer zweimal, dann der Feldscher, dessen wüster Auftritt das Gespräch zwischen dem Helden und dem Bauernmädchen stört, und auch die beiden Reiter zunächst. Erst in dem Moment, als der Held sich dadurch, dass er das Verhalten eines Räubers simuliert, von ihnen loszumachen sucht, wird das Verhältnis zwischen ihm und den beiden Flüchtigen eines der Anziehung. Neutral erscheint in diesem dynamischen Kräftefeld allein der auf der Wiese faulenzende Hirte: Seine Lebensform anzunehmen kommt dem Taugenichts merkwürdigerweise nicht in den Sinn und der zwischen ihnen dahinfließende Bach verhindert jede entschiedene Annäherung.

Veröffentlicht am 24. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. September 2023.