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Aus dem Leben eines Taugenichts

Kapitel 1

Zusammenfassung

Zum Frühlingsbeginn wird der Taugenichts, der sich im Sonnenschein auf der Türschwelle der väterlichen Mühle den Schlaf aus den Augen reibt, von seinem Vater aufgefordert, fortzugehen und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Der Taugenichts ist einverstanden, weil er ohnehin mit dem Gedanken umging, auf Reisen zu gehen. Mit der Geige und einigen Groschen im Gepäck, die der Vater ihm noch mitgibt, bricht er auf und zieht fröhlich an denen vorbei, die im Dorf zurückbleiben und ihrer gewohnten Arbeit nachgehen. Auf der Landstraße spielt und singt er ein Lied, das von Aufbruch und Gottvertrauen handelt.

Während er singt, nähert sich ihm ein Reisewagen, in dem zwei – wie er meint – vornehme Damen sitzen und ihm zuhören. Besonders die jüngere der beiden gefällt ihm. Die Ältere spricht ihn an und fragt nach seinem Reiseziel, das er selbst nicht kennt. Spontan behauptet er, nach Wien zu gehen, worauf er eingeladen wird, auf dem Wagen mitzufahren, da auch die Damen dieses Ziel hätten. Neben dem Jubel über die schnelle Fahrt überkommt ihn am Mittag beim Gedanken an die heimatliche Mühle auch Wehmut und er schläft gedankenvoll auf dem Wagentritt ein.

Als er aufwacht, steht der Wagen vor einem Schloss bei W., die Damen sind bereits ausgestiegen und die Pferde abgespannt. Er betritt das Schloss und hört es aus einem oberen Fenster lachen, in der Vorhalle aber begegnet er dem respekteinflößenden Portier, der ihn nach dem Grund seines Erscheinens fragt, mehreren Dienern und einer Kammerjungfer, die ihm Arbeit als Gärtnerbursche anbietet. Da er sein Geld beim Herumtanzen auf dem Wagen verloren hat, nimmt er die Arbeit an und wird von dem mürrischen, viele Ratschläge gebenden Gärtner zu seinem Arbeitsplatz geführt.

Als Gärtnerbursche hat der Taugenichts ein gutes Auskommen, nur die Arbeit stört ihn etwas. Sowie er Gelegenheit dazu bekommt, treibt er Müßiggang und denkt über die schöne junge Frau nach, mit der er gerne wie ein Kavalier im Garten herumgegangen wäre und die er manchmal beobachtet, wenn sie mit der Gitarre oder einem Buch im Garten spazieren geht. Einmal singt er in der Nähe eines Lusthauses für sich ein Liebeslied, sieht durch die Jalousien des Hauses zwei junge Augen funkeln und geht rasch davon; am Abend – ein Sonnabend – bringt die Kammerjungfer ihm eine flasche Wein von der gnädigen Frau.

In der kommenden Woche macht er es sich zur Gewohnheit, früh aufzustehen und dann die Herrlichkeiten des Gartens zu genießen, außerdem verbirgt er sich unter dem Fenster der schönen Frau hinter einem blühenden Strauch und beobachtet sie, die verschlafen ans Fenster tritt, ihre Haare flicht, zur Gitarre singt oder sich mit den Blumen beschäftigt. Einmal muss er wegen einer Fliege, die ihm in die Nase gerät, niesen; die Frau entdeckt ihn hinter dem Strauch und er geht aus Scham viele Tage nicht mehr dorthin. Als er es doch wieder wagt, bleibt das Fenster mehrere Tage hintereinander geschlossen, und nun fasst er sich ein Herz und geht jeden Morgen, ohne sich zu verstecken, vor den Fenstern seinen Weg. Doch nur die andere Dame sieht und grüßt er an einem anderen Fenster und meint, nur einmal die schöne junge Frau bei ihr hinter der Gardine versteckt gesehen zu haben.

Nach einer längeren Zeit, in der sie weder im Garten noch am Fenster erschienen ist, und die er entsprechend verdrossen zubringt, befindet er sich an einem Sonntagnachmittag allein im Garten, als die übrigen Burschen zu den Tanzböden der nahen Vorstadt ziehen. Am Abend sitzt er in einem auf dem Weiher des Gartens angebundenen Kahn, als eine Gruppe junger Herren und Damen durchs Grüne zum Weiher zieht, darunter auch die beiden Damen, die er kennt. Die ältere bittet ihn, sie zu dem anderen Ufer zu fahren, und so steigen alle ein.

Auf dem Wasser bittet sie ihn, etwas zu singen. Er sträubt sich, weil er meint, nichts der Gesellschaft Angemessenes vortragen zu können. Das Kammermädchen erinnert ihn an sein schon im Garten gesungenes Liebeslied, und auf einen Blick der jungen Dame singt er dessen vier Strophen. Dabei wird ihm weh ums Herz, weil er sich seiner Liebe bewusst wird, zugleich wird er von den Herren heimlich verspottet und von der älteren Dame freundlich angeblickt. Als die Gesellschaft ausgestiegen ist, wirft er sich in das Gras und weint.

Analyse

Der Beginn der Erzählung versetzt den Leser an einen bestimmten Punkt innerhalb vertrauter, stets wiederkehrender Abläufe. Das Rad brauste »schon wieder« (446) recht lustig, »schon wieder« (ebd.) sonnt sich der Taugenichts, anstatt zu arbeiten; er soll »auch einmal« (ebd.) hinaus in die Welt gehen und sich sein Brot selbst verdienen; »kurz vorher« war dem Erzähler dies selbst eingefallen, denn er hatte den Goldammer »nun […] wieder« rufen hören, was die reisenden Handwerker den Bauern zurufen mochten, von denen sie keine Beschäftigung mehr brauchten.

Wenn der Erzähler mit dem Austritt aus dem Elternhaus eine eigene, selbstverantwortete Existenz beginnt, so tut er das in völligem Einklang mit den jahreszeitlichen und den sozialen Abläufen. Weil dem Leser über seine Kindheit und Jugend nichts berichtet wird, bietet sich eine synekdochische Ersetzung an: Der Schlaf, aus dem er gerade erwacht ist, steht als letzter Teil des Lebens in der Mühle für die gesamte, dort verbrachte Zeit – oder, als Vergleich formuliert: So wie er aus dem Schlaf erwacht ist und auf der Türschwelle in die Welt hinaussieht, so tritt er aus dem behüteten Dasein in der Mühle hinaus in das Erwachsenenleben. Alle Umstände dienen dazu, den radikalen biographischen Schnitt leicht und selbstverständlich erscheinen zu lassen. Der Vater wirft ihn hinaus – aber eigentlich wollte der Taugenichts selbst auf Reisen gehen.
Der Erzähleingang realisiert ein archetypisches, literarisches Muster. Dessen zum Beleg nur zwei Zitate:

    Nun geschah es, daß der Vater einmal zu ihm sprach »hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, und mußt auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie sich dein Bruder Mühe gibt, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.« »Ei, Vater«, antwortete er, »ich will gerne was lernen; […].« (Grimm, 34)

So heißt es zu Beginn des »Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Am Ende des ersten Kapitels von Christian Reuters (1665-nach 1712) Roman »Schelmuffskys wahrhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande« (1696/97) – kurz: »Schelmuffsky« – heißt es:

    Lieber Sohn Schelmuffsky, du kömmst nun alle sachte zu bessern Verstande, und wirst auch fein groß dabey! Sage nur, was ich noch mit dir anfangen soll, weil du gantz und gar keine Lust zu nirgends zu hast, und nur einen Tag und alle Tage nichts anders thust, als daß du mir die Leute in der Nachbarschafft mit deinen Blase-Rohre zum Feinde machst, u. mich in Ungelegenheit bringest?« Ich antwortete aber meiner Fr. Mutter hierauf wieder, und sagte: »Fr. Mutter weiß sie was? ich will her seyn und fremde Länder und Städte besehen! Vielleicht werde ich durch mein Reisen ein berühmter Kerl, daß hernach, wenn ich wiederkomme, iedweder den Hut vor mir muß unter den Arm nehmen, wenn er mit mir reden will. (Schelmuffsky 19)

Die Zeit, die der Held allein und ohne die Verwicklung unterwegs ist, die ihn zum glücklichen Ziel der Erzählung bringen wird, ist auf ein Minimum reduziert. Er wird – wie ein Heiliger – mit seinem Attribut, der Geige, ausgestattet. Er grenzt sich von den Daheimgebliebenen, die ihrer gewohnten Arbeit nachgehen, in froher Munterkeit ab, so als enthöbe ihn die begonnene Wanderschaft von der Notwendigkeit, zu arbeiten (448: »Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte«).

Er hat ein wenig Geld mitbekommen, das er bei der ersten Gelegenheit verlieren wird (vgl. 452) und gibt seinem frohen Sinn in einem vierstrophigen Lied Ausdruck, das die Wanderschaft als ein Mittel preist, Gott in der Schöpfung näherzukommen und die Gewähr für den eigenen Schutz in der Fürsorge sieht, die Gott seiner Schöpfung zuwendet. Dabei paraphrasiert Eichendorff in volksliedhaftem Ton die erste Strophe des berühmten Chorals von Paul Gerhardt (1607-1676) »Befiehl du deine Wege«, in der es heißt:

    Befiehl du deine wege /
    Und was dein hertze kränckt /
    Der allertreusten pflege
    Deß / der den himmel lenckt /
    Der wolcken / lufft und winden /
    Gibt wege / lauf und bahn /
    Der wird auch wege finden /
    Da dein fuß gehen kan. (Gerhardt, 82)

Noch während der Taugenichts sein Lied singt, nähert sich der Reisewagen mit den beiden von dem Gesang angezogenen Damen, bei denen es sich um Aurelie, die eigentlich keine Dame, sondern ein Kammermädchen ist, und die Gräfin handelt. So präzise die beiden Figuren sich aber mit dem Kenntnisstand der gesamten Erzählung im Kommentar bezeichnen lassen, so unbestimmt und schwer zu greifen erscheinen sie in deren Verlauf. Hierzu ein kleiner Exkurs:

Ein bestimmendes Charakteristikum des »Taugenichts« ist die beinahe ausschließliche Verwendung von Appellativen, also Gattungsnamen, zur Bezeichnung einzelner Figuren und räumlicher Begebenheiten. Der Mangel an Eigennamen trägt erheblich zum Charme der Erzählung und zu der Verwirrung bei, die den Leser während der Erstlektüre gewiss befällt, und selbst bei der Zweit- oder Drittlektüre noch befallen mag. Soll der Kommentar das zu dieser Verwirrung maßgeblich beitragende Verfahren nicht einfach reproduzieren, bedarf es hinsichtlich des Personals also einer geordneten Übersicht und eindeutiger Bezeichnungen.

Die rhetorische Figur, die zur Vermeidung der Benutzung des Eigennamens angewandt wird, heißt Antonomasie. Dabei wird der Eigenname durch ein Appellativ oder eine bestimmte Eigenschaft der betroffenen Person ersetzt.

Der Erzähler wird von seinem Vater zu Beginn als Taugenichts beschimpft und macht sich diese Bezeichnung in einer charakteristischen Wendung zu eigen (vgl. 446). Eichendorff setzte sie in den Titel, wiewohl er die Erzählung in einer früheren Fassung mit »Der neue Troubadour« überschrieben hatte: Hätte sich dieser Titel durchgesetzt, würde der Erzähler wohl allenthalben der »Troubadour« genannt, so wie er jetzt der »Taugenichts« genannt wird. Auf dem Schloss bei W. (Wien) dient ein neutraleres Appellativ zu seiner Bezeichnung – dort heißt er nach seiner zweiten Stelle »der […] Einnehmer« (482; vgl. auch 498, wo Leonhard den Erzähler wiedererkennt: »Wahrhaftig, das ist der Gärtner, wollt‘ sagen: Einnehmer vom Schloß!«; noch am Ende sagt Leonhard: »O teuerster Herr Einnehmer und Bräutigam!« – 555).

So funktionieren auch die Benennungen des Portiers, des Gärtners und des alten Einnehmers. Voraussetzung dieses Verfahrens ist, dass es nur einen Vertreter der jeweiligen Berufsgruppe zu bezeichnen gilt; sobald diese Voraussetzung nicht mehr gegeben ist, wie bei den »zwei vornehme[n] Damen« (448), die den Erzähler auf das Schloss mitnehmen, bietet sich eine komparativen Bezeichnung an: Es gibt »die ältere« (450) und »[d]ie jüngere« (ebd.), »die liebe schöne Frau« (458) und »die andere Dame« (ebd.), »die ältere von den schönen Damen« (460) und »[d]ie schöne Frau« (464). Wie man sieht, gewinnt das Paar, nachdem zu Beginn beide Frauen nach demselben Kriterium voneinander differenziert wurden (die jüngere/die ältere), rasch einen Schwerpunkt bei der jüngeren: Sie ist die Eine – bald ohne Vergleich »die schöne Frau« –, die ältere ist die Andere, zu deren Bezeichnung weiterhin Comparativa gebraucht werden. Während die Schönheit der Einen keiner näheren Beschreibung bedarf, kann die Andere genauer angesehen werden: »Sie war wahrhaftig recht schön rot und dick und gar prächtig und hoffärtig anzusehen, wie eine Tulipane.« (458) Auch interagiert die Andere viel öfter mit dem Erzähler als die Eine.

Diese flüchtige Konvention zur Bezeichnung der beiden Frauen funktioniert nur so lange, wie keine weiteren Damen auftreten. Für die jüngere Dame bietet sich bald ein anderer, funktionaler Zusammenhang an: Sie wird diejenige, die der Erzähler liebt, und eine Benennung könnte sich daran orientieren. Tatsächlich findet der Erzähler eine eigene Bezeichnungskonvention auch außerhalb der Paarung mit der Älteren aus dem Wagen, wenn er sie »meine[ ] schöne Fraue« nennt (516), dabei die Apostrophe aus dem Lied aufgreifend, das er im Garten und im Kahn gesungen hat (454, 462). Die ungewöhnliche Form erinnert an das mittelhochdeutsche »frouwe« und ruft so – wie schon der verworfene Titel des »neuen Troubadour« – den Minnesang als Kontext auf.

Aurelie ist, wie gesagt, nicht adlig, sondern das Kammermädchen der anderen, älteren Dame und tatsächlichen Gräfin. Sie ist Waise und die Nichte des Portiers, der sie als Kind auf das Schloss gebracht hat. Ihr Name wird erst im sechsten Kapitel enthüllt, denn der Brief, den der Erzähler an sich adressiert wähnt, der aber eigentlich an Flora gerichtet ist, ist mit »Aurelie« unterschrieben (516). Für einen Kommentar ist der Eigenname immer die beste Option; darüber sollte aber nicht in Vergessenheit geraten, wie diskret er in der Erzählung platziert ist, und dass der Erzähler seinen Gebrauch zugunsten der genannten Appellative konsequent vermeidet. Wenn die jüngere der beiden Damen Aurelie heißt, kann die Standesbezeichnung, die der Taugenichts fälschlich beiden zukommen lässt, an der älteren haften bleiben (die Gräfin).

Der Schlaf, der den Taugenichts im Wagen überkommt, trennt ihn von den beiden Frauen, die nämlich ohne ihn das Schloss schon betreten haben, als er aufwacht (und ihn vielleicht vom Fenster her beobachten – vgl. 452). Ohne ihre Protektion muss er sich in der Vorhalle dem furchteinflößenden Portier (in dem man Goethe dargestellt sehen kann – vgl. Eberhardt 138-145), der Dienerschar, der Kammerjungfer und dem Gärtner stellen (in derselben Auslegung Schiller – vgl. Eberhardt 148-151).

Sobald der Erzähler die neue Anstellung als Gärtnerbursche angetreten hat – sobald er »im Brote« (454) ist –, kann die Darstellungsform wechseln. Vorbereitet wird dieser Wechsel durch eine erste Bezugnahme auf den zeitlichen Abstand von Erzählung und Geschichte: Der Taugenichts hat die Lehren des Gärtners inzwischen »wieder vergessen« – 454. Wurde bisher szenisch und singulativ erzählt, herrscht im folgenden Absatz raffendes und iteratives Erzählen vor; das heißt, es wird einmal gesagt, was viele Male geschehen ist (»täglich«, »alle Tage«, »So oft der Gärtner […]«, »Oder ich legte mich an schwülen Nachmittagen […]«, »und da geschah es denn oft« – alles 454). Der Übergang in das singulative Erzählen erfolgt durch die konventionelle Markierung: »So sang ich auch einmal […]. Da seh‘ ich […].« (454), und es folgt bis zum Ende des Kapitels die gemeinhin übliche Alternation raffender und szenischer, singulativer und iterativer Passagen, mit einer längeren Szene zum Schluss (460-464).

Was dabei für die Handlung geschieht, ist schwerer zu sagen, als es zunächst den Anschein hat. Fokuspunkt des neuen Gärtnerburschen ist Aurelie, doch gerade die Abwesenheit von Handlung, also von kausal aufeinander zu beziehenden Ereignissen, ist das bestimmende Merkmal seiner am Ende glücklichen Liebesgeschichte. Die auf ein Minimum reduzierte Interaktion mit ihr wird dabei durch die Interaktion mit anderen weiblichen Figuren gleichsam substituiert. Der Irrtum des Taugenichts hinsichtlich des Standes seiner Geliebten sorgt von vornherein für die dazu nötigen Verwechslungen.

Als Gärtnerbursche kann er Aurelie gelegentlich und ohne Kontakt aufnehmen zu müssen beobachten (454) – das ist die Ausgangslage. Seiner gleichsam religiösen Verehrung gibt er in einem Lied Ausdruck und sieht singend aus dem »dunkelkühlen Lusthaus […] zwei schöne junge frische Auge hervorfunkeln« (455 f.) – das sind die Augen nicht Aurelies, sondern der Kammerjungfer, die später im Kahn die Fortsetzung des Liedes wünscht (462).

An demselben Abend bringt ihm dieselbe von der »schöne[n] gnädige[n] Frau« (456) eine Flasche Wein. Der Taugenichts, und mit ihm wohl der Leser, muss glauben, dies sei eine Reaktion Aurelies auf den flüchtigen Kontakt im Garten, in Wirklichkeit kann der Wein nur von der Gräfin kommen, denn nur sie würde die Kammerjungfer als gnädige Frau bezeichnen. Der Taugenichts, dadurch ermutigt, intensiviert seine einseitige Beobachtung, indem er sich früh morgens hinter einem Busch unter dem Fenster Aurelies versteckt. Die ihm in die Nase kriechende Fliege und sein Niesen haben zur Folge, dass Aurelie sich dieser Beobachtungsmöglichkeit entzieht, und wenn sich der Taugenichts nach einer Weile schamhaften Rückzugs erneut vorwagt, kann er nur die Gräfin grüßen, die »[e]ine Strecke weiter« (458) am Fenster steht. Der einzige Blick Aurelies, den er von hinter der Gardine her einmal zu erhaschen meint, erinnert an den Blick von hinter den Jalousien des Lusthauses her und bestätigt so unterschwellig die Annahme, auch dabei habe es sich um Aurelie gehandelt.

In der Schlussszene des ersten Kapitels, bei der Kahnfahrt, werden alle bisher entwickelten Verhältnisse zusammengeführt. Die Gräfin initiiert die gemeinsame Bootsfahrt, die Kammerjungfer regt ihn zur Darbietung des Liedes »von einer viel schönen Fraue« (462) an und Aurelie, interagierend mit ihm nur durch einen einzigen Blick, stellt sich seiner andächtigen Beobachtung dar. Er wird von der Gräfin und der Kammerjungfer dazu herausgefordert, sich in seiner Verliebtheit zu exponieren, fasst den Mut aus dem Blick Aurelies und wird von den Herren, während er singt, verspottet. Der Gefühlsausbruch, mit dem das Kapitel endet, setzt sich entsprechend aus »Scham« und »Schmerz« (464) zusammen – Scham wegen der Bloßstellung, Schmerz, weil ihm gerade in der Begegnung die Distanz bewusst wird, die, wie er meint, seine Geliebte und ihn für immer trennen muss.

Die Verwechslungen des Taugenichts und die unklaren Figurenbezeichnungen, die er auch in der Retrospektive noch verwendet, kommen einer allegorischen Auslegung der Geschichte entgegen. Welche Attribute können sicher Aurelie zugeordnet werden? Sie geht im Garten spazieren, beschäftigt sich mit einem Buch, ihrer Gitarre oder mit Blumen und flicht ihre Haare; sie trägt morgens ein schneeweißes Kleid und zieht »so still, groß und freundlich wie ein Engelsbild« (454) durch den Garten. Am sprechendsten ist die Beschreibung von ihr im Kahn:

    Die schöne Frau welche eine Lilie in der Hand hielt, saß dicht am Bord des Schiffleins und sah stillächelnd in die klaren Wellen hinunter, die sie mit der Lilie berührte, so daß ihr ganzes Bild zwischen den widerscheinenden Wolken und Bäumen im Wasser noch einmal zu sehen war, wie ein Engel, der leise durch den tiefen blauen Himmelsgrund zieht. (462)

Die Spiegelung versetzt Aurelie gleichsam aus der gemischten Gesellschaft des Kahns hinaus und setzt sie vor Grund, vor den sie eigentlich gehört: Dort erscheint sie, mit den Attributen der Lilie, des klaren Wassers, des tiefen Himmelblaus, als marienhafte Figur.

Im Gegenzug fallen alle venerischen, sinnlich-erotischen Motive auf die Kontakte mit der Kammerjungfer oder der Gräfin. Das betrifft das Zwielicht des »dunkelkühle[n] Lusthaus[es]« (454), den Wein, den die Gräfin ihm schickt und die rauschhafte Nacht, die er damit erlebt (vgl. 456) sowie die oben zitierte Beschreibung der Gräfin.

Nun ist es ein gängiges Märchenmotiv, dass der Held die guten von den verderblichen Spielarten der Liebe zu scheiden erst lernen muss. Was vordergründig eine Sache des Verstands zu sein scheint – er müsste bloß über die Identität Aurelies aufgeklärt werden –, stellt sich dem Interpreten so als innerer Läuterungsprozess dar. Zwar empfängt der Held gleich zu Beginn das reine Bild seiner marienhaften Geliebten, doch erotische Versuchungen anderer Herkunft werden darübergeblendet und drohen es zu überlagern.

Veröffentlicht am 24. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. September 2023.