Skip to main content

Aus dem Leben eines Taugenichts

Kapitel 8

Zusammenfassung

Der Taugenichts kann in der belebten Stadt den Garten nicht finden, in dem er gestern Nacht Aurelie hatte singen hören. In der Mittagshitze erstirbt das Leben auf den Straßen, und er schläft vor einem großen Haus im Schatten des Balkons ein, träumend von der grünen Wiese in seinem Heimatdorf. Von einem hohen Fenster herabgefallene Blumen, die er noch in seinen Traum einbaute, wecken ihn und er schimpft mit einem dort in seinem Käfig kreischenden Papagei, bis der Maler ihn anspricht und einlädt, vor die Stadt in einen Garten mitzugehen, in dem mehrere Landsleute sich versammelten und vielleicht über die gesuchte Gräfin Auskunft geben könnten.

Als sie dort eintreffen, wird gerade vor der um einen runden Tisch versammelten Gesellschaft in einer Laube ein Bild des Malers Johann Erdmann Hummel nachgestellt, das E. T. A. Hoffmann zu Beginn seiner Erzählung »Die Fermate« beschrieben hat. Dabei spielt eine Frau Gitarre, ein Mann schlägt den Takt, und eine andere Frau hält in einem Triller den Abschluss einer langen Kadenz zurück.

Die Darbietung wird aber durch den stürmischen Auftritt eines Mädchens und eines jungen Mannes gestört, der dem Mädchen eifersüchtige Vorhaltungen wegen eines Zettels macht, den es verborgen hält. Es rettet sich an die Brust des Taugenichts, und als die allgemeine Aufmerksamkeit anders gebunden wird, flüstert sie ihm ins Ohr, sie erleide das alles für ihn, den Einnehmer, für den der Zettel bestimmt sei, und der sich zur bestimmten Stunde an dem angegebenen Ort einfinden solle. Jetzt erst erkennt der Taugenichts in ihr die Kammerjungfer der Gräfin vom Wiener Schloss.

Die Gesellschaft hat sich indes wieder gefangen, der Taugenichts empfindet eine ähnliche Freude wie damals, als er von der Kammerjungfer den Wein gebracht bekommen hat, und wie damals fängt er an, auf seiner Geige zu spielen. So beginnt ein allgemeiner Tanz, bei dem auch er schließlich mitspringt. Als die Übrigen müde zu werden beginnen, gemahnt die Kammerjungfer ihn, kurz bevor sie verschwindet, noch an den Zettel und das Stelldichein mit der schönen jungen Gräfin um elf Uhr. Er will eigentlich aufbrechen, wird aber von dem Maler zum Dableiben überredet.

Nur der Maler und der junge Mann, der mit der Kammerjungfer hereingestürzt war, und der ebenfalls ein Maler mit Namen Eckbrecht ist, sind übrig geblieben. Sie unterhalten sich, und der junge Maler scherzt mit dem Wirtshausmädchen, lehrt sie ein Lied auf der Gitarre und sie singen im Wechsel. Als sie weggerufen wird, singt er allein weiter, bis er wegen des immer wieder nötigen Stimmens zornig wird. Der andere Maler ist unterdes eingeschlafen, und Eckbrecht hält dem Taugenichts nun einen Vortrag über Genies, denn er erklärt ihn für ein solches, wie er und der andere Maler auch eines sei. Gegen zehn Uhr läuft der Taugenichts, dem es vor diesen Reden graute, davon, ist rasch wieder fröhlich und hört bald die Maler hinter ihm herabkommen.

Er findet den Garten der vorangegangenen Nacht wieder und hört den gleichen Gesang, doch noch sind alle Zugänge verschlossen, und er möchte nicht gewaltsam in den Garten eindringen. So wartet er an dem Springbrunnen auf dem Platz, bis er eine Gestalt in eben dem weißen Mantel zur Gartentür gehen sieht, den der Maler Eckbrecht angehabt hat. Um seine Geliebte fürchtend, geht er ihm nach, sieht in dem Gartenhaus die Frau mit der Gitarre ahnungslos auf einem Faulbettchen liegen und die Gestalt in dem weißen Mantel sich langsam anschleichen. Er bricht sich einen Ast ab, schreit Alarm, die Gestalt rennt davon, und der Taugenichts stolpert, bevor er sie erreichen kann: Es ist die Kammerjungfer, der der Maler den weißen Mantel vor dem Gartentor gegen die Kälte umgelegt hatte. Die aus dem Gartenhaus heraustretende Frau entpuppt sich als eine imposante, dem Taugenichts unbekannte Dame.

Das Alarmschreien hat einen allgemeinen Tumult erregt, die Leute nähern sich, die Dame geht in das Lusthaus zurück und die Kammerjungfer bringt ihn durch das Gartentürchen rechtzeitig hinaus, dabei über ihn schimpfend: Die Gräfin habe ihm Blumen aus dem Fenster zugeworfen, habe Arien gesungen und sei nun so bitter enttäuscht worden. Als der Taugenichts einwendet, er habe mit der deutschen Gräfin gerechnet, sagt die Kammerjungfer, diese sei mitsamt seiner verwirrten Liebschaft lange schon wieder in Deutschland. Dem Tumult entkommen, fühlt er mit einem Mal seine Verlassenheit und entschließt, Italien, das ihn nur enttäuscht habe, zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren.

Analyse

Der römische Aufenthalt des Taugenichts umfasst nur etwa vierundzwanzig Stunden. Die Kapitelgruppe endet damit, dass der Held »zum Tore hinaus[wandert]« (541). Im Übergang zum nächsten Kapitel gibt es das erste Mal eine markante Aussparung in der Erzählung: Es setzt mit einem Lied ein, das der Held auf einem hohen Berg singt, »wo man zum ersten mal nach Österreich hineinsehen kann« (541).

Somit bildet das Ende des achten Kapitels auch das Ende einer bis zum Beginn der Erzählung zurückreichenden Periode aussparungslosen Erzählens. Dadurch verfestigt sich der Eindruck, hier liege der eigentliche Wendepunkt in der Reise des Taugenichts, hier beginne die Rückkehr. Tatsächlich berichtet der Erzähler von seinem Entschluss, »dem falschen Italien mit seinen verrückten Malern, Pomeranzen und Kammerjungfern auf ewig den Rücken zu kehren« (541) so, als habe er nicht eigentlich vom Bergschloss aufbrechend schon zu Aurelie nach Wien zurückreisen wollen.

Wieder unterliegt er in Rom einer schon vom Wiener Aufenthalt her bekannten Täuschung. Die neue Herrin der Kammerjungfer, welche noch nach Abreise der deutschen Gräfin in Rom gebliebenen ist, verfolgt ihn mit erotischen Absichten; er glaubt, es handele sich um Aurelie und wird seines Irrtums erst Inne, als er zum geforderten Stelldichein schon erschienen ist. Er muss ihre Aufmerksamkeit durch sein Eindringen in den Garten und sein Singen dort erregt haben und wird offenbar von da an verfolgt.

Die über ihm verstreuten Blumen könnten als eine vorbereitende Gabe mit dem Wein verglichen werden, den er als Gartenbursche geschickt bekommt. Auch jetzt kündigt ihm die Kammerjungfer, wie und wo ihre Herrin ihn erwarte, vorbereitend an und die zweite Szene in dem Garten entspricht natürlich der Birnbaumszene aus dem zweiten Kapitel – man vergleiche etwa, in beiden Fällen, die erotische Frustration der jeweiligen Gräfin:

    Dabei fächelte sie sich mit der Larve in einem fort und blies die Luft von sich. Bei dem hellen Mondschein konnt‘ ich deutlich erkennen, wie ihr die Flechsen am Halse ordentlich aufgeschwollen waren; sie sah ganz erbost aus und ziegelrot im Gesichte. […] Und hiermit steckte sie die Larve schnell vor und ging wütend mit der Kammerjungfer nach dem Schlosse zu fort. (484)

    Da blickte mich die Dame noch einmal an, als wenn sie mich mit feurigen Kugeln durchbohren wollte, wandte sich dann rasch nach dem Zimmer zurück, während sie dabei stolz und gezwungen auflachte, und schmiß mir die Türe vor der Nase zu. (540)

Auch den imposanten, majestätischen Schönheits-Typus teilen die beiden Gräfinnen.

Die Unterschiede sind ebenso offensichtlich: Die Blumengabe rechnet der Taugenichts dem Zufall zu und nicht seiner Geliebten, die Kammerjungfer hat eine eigene Liebesgeschichte mit dem wilden Maler und der Taugenichts muss bei dem Ren­dez­vous, weil er seine Geliebte bedroht glaubt, aus der Deckung. So erregt er selbst den Tumult, der die Heimlichkeit der Szene aufhebt und ihn zur Flucht zwingt – und der den Vivat-Rufen des Hoffestes aus dem zweiten Kapitel an die Seite zu stellen ist.

Besonders reizend ist die Täuschung dieses Mal, weil die deutsche Gräfin und Aurelie tatsächlich in Rom waren – nur eben etwas früher (vgl. 540, 559).

In der ersten Kapitelhälfte wird abseits der erotischen Verwirrungen des Helden der parodistische Charakter der Erzählung auf einen Höhepunkt zugetrieben. So bildet die exakte Quellenangabe der Hoffmannschen Bildbeschreibung aus dem Munde eines der in dem Garten außerhalb Roms versammelten Deutschen einen nahezu schrillen Kontrast zu der sonst allgegenwärtigen märchenhaften Stilisierung der Erzählung, mit der sich eigentlich eine Datierung der Handlungszeit nicht verträgt:

    »Barbar!« rief ihm einer von dem runden Tische zu, »du rennst da mitten in das sinnreiche Tableau von der schönen Beschreibung hinein, welche der selige Hoffmann, Seite 347 des ›Frauentaschenbuchs für 1816‹, von dem schönsten Hummelschen Bilde gibt, das im Herbst 1814 auf der Berliner Kunstausstellung zu sehen war!« (531)

Die Passage bei Hoffmann lautet folgendermaßen:

    Hummels heitres lebenskräftiges Bild, die Gesellschaft in einer italienischen Lokanda, ist bekannt worden durch die Berliner Kunstausstellung im Herbst 1814, auf der es sich befand, Aug‘ und Gemüt‘ gar Vieler erlustigend. – Eine üppig verwachsene Laube – ein mit Wein und Früchten besetzter Tisch – an demselben zwei italienische Frauen einander gegenüber sitzend – die eine singt, die andere spielt Chitarra – zwischen beiden hinterwärts stehend ein Abbate, der den Musikdirektor macht. Mit aufgehobener Battuta paßt er auf den Moment, wenn Signora die Cadenz, in der sie mit himmelwärts gerichtetem Blick begriffen, endigen wird im langen Trillo; dann schlägt er nieder, und die Chitarristin greift keck den Dominanten-Akord. – Der Abbate ist voll Bewunderung – voll seligen Genusses – und dabei ängstlich gespannt. – Nicht um der Welt willen möchte er den richtigen Niederschlag verpassen. Kaum wagt er zu athmen. Jedem Bienchen, jedem Mücklein möchte er Maul und Flügel verbinden, damit nichts sumse. Um so mehr ist ihm der geschäftige Wirth fatal, der den bestellten Wein gerade jezt im wichtigsten höchsten Moment herbeiträgt. – Aussicht in einen Laubgang, den glänzende Streiflichter durchbrechen. – Dort hält ein Reiter, aus der Lokanda wird ihm ein frischer Trunk auf’s Pferd gericht. – (Hoffmann, 302)

Es ist ersichtlich, welch parodistisches Potenzial der doppelte Medienwechsel entfaltet. Das Ende der gesanglich improvisierten Kadenz, während derer der Dirigent seiner Aufgabe überhoben bleibt und die Virtuosität des Solisten sich voll entfalten soll, ist, am Ende eines Musikstückes, ein von festen Erwartungen geprägter Moment. Jeder weiß, dass und wie das Stück sogleich enden wird, und gerade weil der Solist durch seine Improvisation nur die letzten Akkorde noch hinauszögert, kann er sich der vollen Aufmerksamkeit der Zuhörer gewiss sein. Ähnlich markant auf eine Auflösung drängen sonst Witze.

Tableaux Vivants nun – Lebende Bilder – zielen darauf, mit echten Personen und Requisiten ein Gemälde oder eine literarische Szene im Stillstand und stumm vorzuführen. Was für das Gemälde Hummels kein Problem ist, ja woraus es seinen Reiz bezieht – denn das Gemälde zeigt als Gemälde ohnehin nur einen Moment; was Hoffmann durch seine Beschreibung von dem Wünschen und Befürchtungen des Abbate genüsslich intensivieren kann: das spannungsvolle Anhalten der harmonischen Fortschreitung in einem Triller – das ist im Medium des Tableau Vivant ein Ding der Unmöglichkeit und der Lächerlichkeit und mit einer gewissen Folgerichtigkeit wird die Sängerin durch das hereinstürmende Paar unterbrochen:

    Der erschrockene Musikdirektor blieb mit seinem aufgehobenen Stabe wie ein versteinerter Zauberer stehen, obgleich die Sängerin schon längst den langen Triller plötzlich abgeschnappt hatte, und zornig aufgestanden war. (531)

Parodiert wird freilich auch die deutsche Italienliebhaberei – denn was erlebt der Taugenichts eigentlich in Rom? Er erlebt, wie Deutsche ›am Originalschauplatz‹ die Beschreibung eines deutschen Autors von einem Bild umsetzen, das ein deutscher Maler von einer römischen Szene gemalt hat.

Das Geigenspiel und der darauf einsetzende Tanz der versammelten Gesellschaft erinnern an das Wirtshausfest zum Ende des dritten Kapitels.

Und der Maler Eckbrecht erweist sich als zweifelhafter Anhänger des Geniekults (vgl. 536 f.): Auch davor graut es dem Taugenichts.

Veröffentlicht am 24. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. September 2023.