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Aus dem Leben eines Taugenichts

Rezeption und Kritik

Eine erste Besprechung der neuen Erzählung gab es in der ›Vossischen Zeitung‹ am 31. Mai 1826. Eichendorff hat sie eigenhändig abgeschrieben, und sie gab den Tenor aller weiteren Kritiken vor:

    In dem so eben (Berlin, in der Vereinsbuchhandlung) ausgegebenen Werke: »Aus dem Leben eines Taugenichts und Das Marmorbild. Zwei Novellen, nebst einem Anhange von Liedern und Romanzen von Joseph Freiherrn von Eichendorff« hat besonders die erste Novelle, die den größten Theil des Bandes füllt, etwas höchst Originelles. Die Idee, wie ein von der Natur zur Romantik begabter Charakter, der alle äußere Bildung entbehrt, die Menschen, die Kunst und überhaupt die Welt ansieht, ist ungemein ansprechend und humoristisch durchgeführt und in der Einfachheit des Ganzen entwickelt sich wahrhafte Poesie. Wenn der komische Roman überhaupt in der Deutschen Litteratur etwas Seltenes ist, so darf dieser schon deshalb auf ein »Willkommen!« rechnen; mehr aber noch, weil offenbar ein bedeutsamer Gedanke zum Gunde liegt, ohne daß er auf irgend eine Weise aufdringlich wird; und weil zugleich durch die schlichte Schilderung (der sogenannte Taugenichts erzählt selbst) bedeutender Gemüthszustände nicht bloß für einen Theil der Leser, sondern für alle gesorgt ist. Wie wir hören, hat dieser Roman in der hiesigen litterarischen Gesellschaft, die eine große Zahl unserer besten Aesthetiker in sich faßt, Sensation gemacht. (797)

Wenige kritische Stimmen konnten dem unmittelbaren Ruhm der Erzählung nicht gefährlich werden – »Der Taugenichts taugt auch gar nichts, und hat nicht einen Fetzen von jener göttlichen Bettelhaftigkeit der Tagediebe bey Shakespeare und Cervantes, es fehlt ihm alles, was man Humor nennt.« So schreibt Wolfgang Menzel in Cottas ›Literaturblatt‹ am 8. 8. 1826, antwortend auf das Lob von Daniel Leßmann im ›Gesellschafter‹ vom 4. 8. 1826, in dem dieser schrieb: »Ich bin in meinem Leben mit unterschiedlichen Taugenichtsen zusammen getroffen, habe aber bisher noch keinen gefunden, der in der Tat bei einer so echten Taugenichtserei doch so viel taugte […]« (alles auf S. 789 der verwendeten Ausgabe).

Die Herren, die der Taugenichts im Kahn über den Weiher setzt, meinen, wenn er singt, der National-Seele nahezukommen. Sie sind dabei durchaus parodistisch akzentuiert. Ende des 19. Jahrhunderts wird die ganze Erzählung als Allegorie des deutschen Nationalcharakters gesehen. Bekannt geworden ist vor allem der Ausspruch Theodor Fontanes:

    […] der Taugenichts ist after all nicht mehr und nicht weniger als eine Verkörperung des deutschen Gemüths, die liebenswürdige Type nicht eines Standes bloß, sondern einer ganzen Nation. Kein andres Volk hat solch Buch. (798)

Wie sehr die Erzählung Anfang des 20. Jahrhunderts Allgemeingut geworden war, zeigen die Überlegungen, mit denen Thomas Mann, in den »Betrachtungen eines Unpolitischen«, sein Kapitel »Über die Tugend« einleitet:

    So eröffne ich dieses Kapitel mit der Betrachtung eines alten, deutschen […] Buches, das der Tugend, wie ich sie verstehe und wie sie heute durchaus verstanden werden muß, der politischen Tugend also, in einem wahrhaft liederlichen Grade enträt: nämlich so, daß es nicht nur nichts davon wissen will (das wäre noch keine Willenlosigkeit), sondern tatsächlich rein garnichts davon weiß und sich also auf eine heute schlechthin verblüffende Weise im Stande politischer Unschuld und Ruchlosigkeit befindet: ich meine den »Taugenichts«, Joseph von Eichendorffs wundersam hoch und frei und lieblich erträumte Novelle, die wir alle in unserer Jugend gelesen haben, und von der uns allen all die Zeit her ein feiner Saitenschlag und Glockenklang im Herzen nachgeschwungen hat. (Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, 372)

Die Erzählung ist das mit Abstand bekannteste Werk Eichendorffs und in alle Weltsprachen übersetzt worden.

Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung hat sich um die Identifikation der literarischen Quellen und Muster bemüht sowie um eine Ausbuchstabierung des »bedeutsame[n] Gedanke[n]«, von dem in der ersten Kritik in der ›Vossischen Zeitung‹ die Rede ist.

So entwickelte Otto Eberhardt in seiner 2000 erschienenen Monographie »Eichendorffs Taugenichts: Untersuchungen zum poetischen Verfahren Eichendorffs« eine doppelte Interpretation, indem er die Novelle zum einen als poetische Literaturkritik auffasst, in der alle bedeutenden, zeitgenössischen literarischen Programme und Personen wie in einem Schlüsselroman dargestellt sind (der Portier = Goethe, der Gärtner = Schiller, Leonhard = Brentano etc.), zum anderen aber als Allegorie auf den religiös perspektivierten Lebensweg schlechthin, auf dem der Protagonist Versuchungen ausgesetzt ist, die ihn in eine größere Distanz zu Gott bringen.

Thomas Manns Novelle »Tonio Kröger« (1903) kann als Kontrafaktur des »Taugenichts« verstanden werden. Von Gottfried Keller gibt es ein »Der Taugenichts« übertiteltes Gedicht, in dem der Sohn einer Bettlerfamilie statt Pfennigen nur eine Blume zu seinen Eltern bringt, deshalb geprügelt wird und weint.

»Aus dem Leben eines Taugenichts« ist mehrfach verfilmt worden und zudem Bestandteil des Bildungskanons.

Veröffentlicht am 26. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 26. September 2023.