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Aus dem Leben eines Taugenichts

Kapitel 6

Zusammenfassung

Am nächsten Morgen erwacht der Taugenichts orientierungslos in seinem Zimmer. Ihm ist es, als habe er von einem Schloss im Mondschein geträumt, von einer alten Hexe und ihrer blassen Tochter. Aufgestanden entdeckt er eine nur angelehnte Tapetentüre: Dahinter sieht er das Dienstmädchen des letzten Abends schlafen und schließt die Tür zu, damit sie sich, erwacht, nicht schämen möge.

Als er einen Waldvogel singen hört, nimmt er seine Geige und geht über viele dunkle Gänge hinaus. Dort ist ein verwilderter Terrassen- und Ziergarten, der teilweise den profanen Bedürfnissen der Haushälter dient. Beim Herumspazieren trifft er auf einen schmalen, blassen Jüngling, der laut aus einem Buch liest, sich mit dem Taugenichts nicht verständigen kann und schließlich davonläuft. Als die Sonne aufgeht, spielt der Taugenichts vor Lust auf seiner Geige. Die Haushälterin erscheint oben auf der Terrasse sowie alle anderen Schlossbewohner, und alle wundern sich wegen des munteren Spiels.

Von einer Weiterfahrt ist auf dem Schloss – zur Verwunderung des Taugenichts – nicht die Rede. Von einer Magd erfährt er, es gehöre einem reichen Grafen. In Wirklichkeit gehört es Graf Leonhard, und der Taugenichts wird für die als Mann verkleidete Flora gehalten. So erklärt sich auch die Verblüffung und die Belustigung der Mägde, wenn der Gast Tabak und Wein verlangt.

Einige Male meint er, nachts vor seinem Fenster Gitarrenklänge zu hören; als er einmal hinaussieht und ruft, kommen sie nicht wieder. Der blasse Junge stellt sich als Schüler und Verwandter der alten Haushälterin heraus, der hier seine Ferien verbringt. Der Taugenichts wird bei der reichen Bedienung immer fauler, legt sich im Garten ins Gras, schläft dabei ein, und der blasse Junge geht oft in weiten Kreisen um ihn herum und murmelt dabei aus seinem Buch.

An einem Nachmittag weckt das von fernher klingende Posthorn die Sehnsucht des Taugenichts nach seiner Heimat und er singt, auf einem Baumwipfel sitzend, ein altes Lied. Die Haushälterin bringt ihm einen Brief, der mit der Postkutsche gekommen ist, und dessen Absender er richtig Aurelie zuordnet, weil er ihre Handschrift kennt. Darin fordert sie Flora auf, zurückzukehren, denn es sei nun alles gut und alle Hindernisse seien beseitigt. Sie vermisse sie sehr. Der Taugenichts bezieht das Schreiben jedoch auf sich und wähnt sich geliebt. Voll Freude arrangiert er am Abend ein Abendessen im Garten.

Alle Schlossbewohner zeigen sich guter Stimmung und der blasse Student tanzt emsig mit ihm – er hat sich offenbar in Flora, für die er den Taugenichts hält, verliebt. Als die Haushälterin sich nach dem Inhalt des Briefs erkundigt, deutet der Taugenichts nur an, dass er fortwolle. Die Haushälter besprechen sich untereinander, die Tafel wird aufgehoben, und am Abend sieht er sie unter seinem Fenster: die Alte hat ein langes Messer in der Hand. Er bereitet sich auf einen Kampf in seinem Zimmer vor, doch wird er am Ende nur eingesperrt.

Nach einer Weile hört er wieder den Gitarrenklang unter seinem Fenster. Er klettert ungeschickt zum Studenten hinunter und flieht mit ihm aus dem Garten. Draußen im Wald geht der Student vor ihm auf die Knie und macht Liebeserklärungen, die der Taugenichts nicht versteht. Verschreckt läuft er davon und rettet sich auf eine hohe Tanne, als eine allgemeine Verfolgung vom Schloss her beginnt. Als die Verfolger fort sind, klettert der Taugenichts herab und setzt seine Flucht alleine fort.

Analyse

Die erzählerische Struktur des Kapitels folgt einem geläufigen Schema: Der erste Tag an dem neuen Aufenthaltsort wird bis zu einem gewissen Punkt szenisch und singulativ geschildert, sodass der Leser mit den räumlichen und sozialen Gegebenheiten im Gleichschritt mit dem Protagonisten vertraut gemacht werden kann (511-513).

Der eigentliche, sich über einen nicht näher definierten Zeitraum erstreckende Aufenthalt wird ausschließlich raffend und weitgehend iterativ wiedergegeben (513-515; das einzig singulative Moment ist die Vertreibung der Nachtmusik). In der dritten, längsten Partie gilt wieder die singulative, szenische Einstellung des Kapitelanfangs: Sie betrifft dann schon den letzten Nachmittag und Abend auf dem Schloss und die nächtliche Flucht (515-521).

Tatsächlich ist der Aufenthalt des Taugenichts auf dem Bergschloss so gut wie ereignislos und steht so in einem wirksamen Kontrast zu den eiligen Reisebewegungen der vorangegangenen Kapitel. Das einzige dynamische Moment bildet die zurückhaltende Verliebtheit des blassen Studenten, der den Taugenichts für die verkleidete Flora hält, und das erste, den Taugenichts direkt betreffende Ereignis – das Eintreffen von Aurelies Brief –, löst sogleich den Aufbruch aus.

Das Märchenmotiv, wonach der Protagonist auf dem entlegenen Schloss die Möglichkeit bekommt, seine Freiheit gegen ein unbegrenztes Schwelgen in Essensgenüssen und Faulheit einzutauschen – die Todsünden Gula (= Völlerei) und Acidia (= Trägheit) –, wird tatsächlich ausgeführt. Die erotische Versuchung hingegen wird durch die schlafend beobachtete Magd nur angedeutet – ihr unterliegt der Taugenichts nicht:

    Wenn die wüßte, daß die Tür offen war! sagte ich zu mir selbst und ging in mein Schlafzimmer zurück, während ich hinter mir wieder schloß und verriegelte, damit das Mädchen nicht erschrecken und sich schämen sollte, wenn sie erwachte. (512)

Das mag auch damit zu tun haben, dass der erotische Bereich für die etwas lächerliche Verliebtheit des Studenten in Anspruch genommen wird, womit sich ein allzu frei mit den Mägden umspringender Taugenichts schlecht vertragen hätte.

Alles Unheimliche und Sonderbare, das er erlebt, lässt sich unmittelbar auf die Verwechslung mit Flora zurückführen: die Reaktionen der Alten auf seine Frage nach dem Besitzer des Schlosses und die der Mägde auf seinen Wein- und Tabakgenuss, die »verdrehten Augen« (517) des mit ihm tanzenden Studenten und seine italienischen, für den Helden unverständlichen Liebesschwüre im Wald. Auch die Versuche der Schlossverwalter, ihn an seinem Aufbruch zu hindern, lassen sich mit dem Auftrag, den sie erhalten haben, und einem etwas übertriebenen Diensteifer sicher hinlänglich erklären.

Für den Taugenichts (und wohl auch für den noch nicht über die wahren Verhältnisse aufgeklärten Leser) summiert sich alles zu einer Episode der Schauerliteratur. Die entsprechend ausgebildete Einbildungskraft tut hier – beim Protagonisten – wie dort – beim Leser – ihr Übriges:

    Mich schauderte, denn es fielen mir alle Mordgeschichten ein, die ich in meinem Leben gehört hatte, von Hexen und Räubern, welche Menschen abschlachten, um ihre Herzen zu fressen. (519)

Ziel der Reisebewegung des Helden ist eigentlich Rom. Tatsächlich bricht er aber schon von dem Bergschloss mit dem Vorsatz der Rückkehr nach Deutschland auf, denn er wähnt sich von Aurelie in ihrem Brief dazu aufgefordert. Schon der Klang des Posthorns hatte in ihm – nach einem geläufigen, literarischen Topos – eine entsprechende Sehnsucht geweckt.

Der Brief gibt außerdem Auskunft über den Stand der Handlung, in die der Taugenichts ohne sein Wissen verwickelt worden ist. Der Plan Leonhards und Floras ist offenbar aufgegangen und »alle Hindernisse sind beseitigt« (516), die ihrer Heirat zuerst noch im Wege gestanden hatten. Gewiss entschuldigt der Enthusiasmus den Taugenichts, wenn er übersieht, dass es in seinem Fall keine Hindernisse gegeben hat, auf die Aurelie sich hätte in dieser Weise beziehen können. Und wie hätte der Standesunterschied, den er für das entscheidende Hindernis halten musste, beseitigt werden können? Auch hier bekommt der Leser wieder Gelegenheit, klüger zu sein und mehr zu sehen, als der Protagonist – aber was hilft es ihm? Die Erzählung gewinnt ihre Dynamik nunmal aus dem Überschwang ihres Helden, und dem muss auch der Leser folgen.

Erwähnt sei zuletzt noch die besonders reizvolle Variation des Gartenthemas in dem Kapitel, die viel aus der zeitgenössischen, romantischen Vorliebe für Ruinen gewinnt. Die Figuren aus Buchsbaum gewinnen, weil sie nicht regelmäßig beschnitten und in Form gehalten werden, ein groteskes Aussehen. Zudem werden die ehemals den höfischen Zierat bildenden Elemente für die alltäglichen Bedürfnisse der Schlossverwalter zweckentfremdet:

    »Auf einige zerbrochene Statuen über einer vertrockneten Wasserkunst war gar Wäsche aufgehängt, hin und wieder hatten sie mitten im Garten Kohl gebaut, dann kamen wieder ein paar ordinaire Blumen, alles unordentlich durcheinander, und von hohem wilden Unkraut überwachsen, zwischen dem sich bunte Eidechsen schlängelten.« (513)

Der Schlossgarten bei Wien hingegen war keiner Veränderung unterworfen, der Hausgarten des neuen Zolleinnehmers wurde energisch umgestaltet: vom Nutz- zum Blumengarten. Dann verwilderte er und die letzten Blumen wurden noch einmal geplündert. Hier stehen die zier-, nutz- und blumengärtnerischen Elemente in der spannungslosen Trägheit nebeneinander, welche die hauptsächliche Versuchung darstellt, der der Held auf dem Bergschloss ausgesetzt war und aus der ihn abermals der Gedanke an die geliebte »schöne Frau« (519) rettet.

Veröffentlicht am 24. September 2023. Zuletzt aktualisiert am 24. September 2023.