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Unterm Rad

Interpretation

Autobiographische Elemente

Eine der wichtigsten Fragen bei der Interpretation von Hesses Roman ist wahrscheinlich, wie hoch der Anteil an autobiographischen Elementen ist. Hierüber haben Literaturwissenschaftler bereits jahrzehntelang diskutiert und sind bisher zu keiner eindeutigen Antwort gekommen. Dass der Autor Teile seines eigenen Lebens in »Unterm Rad« verarbeitet hat, kann nicht angezweifelt werden. Hesse selbst sagte über das Werk  »Unterm Rad enthält viel Erlebtes, doch sind die einzelen Erlebnisse teils verändert, teils auf verschiedene Figuren verteilt.« (Vahlbusch, 2009) 

Aufgrund von Zitaten wie diesem bietet es sich an, darüber nachzudenken, wie hoch der Anteil an autobiographischen Elementen des Romans tatsächlich ist, und wo genau sich diese befinden. Manche Literaturwissenschaftler vertreten die Ansicht, »Unterm Rad« sei eine relativ genaue Wiedergabe von Hesses eigenem Leben von 1891 bis 1895 (ebd.). Hesse selbst war von seinen Eltern auf das theologische Seminar in Maulbronn geschickt worden und daraus geflohen, hatte eine Lehre zum Mechaniker begonnen und dann aber – im Gegensatz zu Hans – in den Buchhandel gewechselt (Garland, 1997). Andere (Vahlbusch, 2009) argumentieren, dass »Unterm Rad« komplexer ist als das und nicht einfach als Autobiographie von Hesses Jugendjahren betrachtet werden darf. 

Hans und Hermann: Zwei vermeintliche Gegensätze

Eine beliebte Theorie in der Literaturwissenschaft ist, dass Hesse sich selbst in Hans und Hermann »aufgeteilt« hat. Allgemein konzentrieren sich seine Romane häufig auf zwei zentrale Figuren, die komplett gegensätzlich zueinander sind, sich einerseits zueinander hingezogen fühlen, andererseits aber auch auf ihre Individualität bestehen (Garland, 1997). Diese Tendenz führt im Fall von Hans und Hermann zu der Annahme, dass diese beiden den Verfasser selbst verkörpern sollen. Der Literaturwissenschaftler Heinz Stolte bezeichnete diese Theorie im Jahre 1971 als »Prinzip der polarischen Spaltung« (Vahlbusch, 2009). Andere stimmten ihm zu, dass Hans und Hermann keine literarischen Charaktere mehr, sondern lediglich Allegorien für verschiedene Seiten von Hesses Persönlichkeit seien (ebd.). 

Demnach wird häufig argumentiert, dass die Freundschaft zwischen Hermann und Hans den Lebenskonflikt darstellt, den Hesse selbst erlebt hat (Patzer, 2013). Die beiden Jungen sind starke Gegensätze, wie in »Unterm Rad« an vielerlei Stellen hervorgehoben wird:

    Es gab auch ungleiche Paare. Für das ungleichste galten Hermann Heilner und Hans Giebenrath, der Leichtsinnige und der Gewissenhafte, der Dichter und der Streber. Man zählte zwar beide zu den Gescheiten und Begabtesten, aber Heilner genoß den halb spöttisch gemeinten Ruf eines Genies, während der andere im Geruch des Musterknaben stand. (S. 78)

Hermann verkörpert Freiheit und Kunst, Hans steht für Disziplin. Hermann rebelliert gegen das bestehende System und den daraus hervorgehenden Leistungsdruck, Hans fügt sich. Hermann schafft es, dem System durch seine (wenn auch nicht ganz nach Plan verlaufende) Flucht zu entkommen, Hans wird den Erwartungen von Schule und Vater erliegen und »unters Rad« kommen. 

Mit ihrer Gegensätzlichkeit könnten Hans und Hermann tatsächlich alternative Versionen des Autors darstellen, insbesondere da die Figur Hermann Heilner den gleichen Vornamen und die gleichen Initialen trägt wie Hermann Hesse (Patzer, 2013.). Hesse selbst allerdings betonte, dass er und Hermann nicht die gleiche Person seien. Im Jahre 1908 sagte er über einen möglichen Zusammenhang zwischen ihm und der Figur Hermann: »Ihre Frage wegen des Heilner kann ich im großen Ganzen mit Ja beantworten, wenn auch hier wie überall zwischen erlebter Wirklichkeit und Dichtung manche Unterschiede, ja Gegensätze bestehen.« (Vahlbusch, 2009) 

Die Frage nach der Schuld an Hans’ Tragödie

Im Laufe des Romans verschlechtert sich Hans’ Zustand drastisch. Das betrifft nicht nur seine stetig miserabler werdenden Noten und seine zunehmende soziale Isolation sowohl im Seminar als auch später in seinem Heimatort, sondern auch seinen gesundheitlichen Zustand. Zu Anfang der Geschichte wird Hans lediglich von leichten Kopfschmerzen beim Lernen geplagt, die gelegentlich auftreten. Zum Ende hin überwältigt ihn eine schier endlose Müdigkeit und er verliert sich in Träumen, die teilweise an Wahnvorstellungen grenzen. 

Die Verschlechterung von Hans’ gesundheitlichem Zustand spaltet die Kritiker: Manche sehen sie als Beweis, dass Hans einfach nicht für das Schulsystem geschaffen sei (Vahlbusch, 2009). Andere wiederum sehen sie als Beweis dafür, dass das Schulsystem, in dessen Fängen sich Hans befindet, zu großen Druck auf seine Schüler ausüben würde (ebd.). Während die erste Sichtweise die polemischen Tendenzen des Romans abmildert, untermauert die letztere genau diese Tendenzen. 

Diese Betrachtungen führen direkt zu einer der wichtigsten Fragen des Romans: Wer trägt die Schuld an Hans’ Schicksal? Auch hierüber sind die Meinungen der Kritiker gespalten. Einerseits ließe sich argumentieren, dass es Hans’ ausgeprägter Stolz und sein Ehrgeiz sind, die dazu führen, dass er sich selbst zu viel zumutet und sich folglich überschätzt und übernimmt. In diesem Sinne wäre Hans kein Opfer des Schulsystems (ebd.), sondern seines eigenen Leistungsdenkens und seiner »Ich-Schwäche«, die dafür sorgt, dass er sich von seinem Umfeld so stark beeinflussen lässt (Patzer, 2013). Andererseits könnten es genauso gut die Lehrer, der Vater, der Rektor und der Ephorus sein, die für Hans’ Schicksal verantwortlich sind. In Maulbronn wird seine Individualität unterdrückt; statt mit Milde und Verständnis reagieren die Lehrer beim Seminar auf Hans’ Leiden mit Autorität (ebd.). 

Die Kontroverse, wer Hans »umgebracht« hat, spiegelt sich in seinem Tod wider. Nicht nur wird vom Erzähler bewusst offengelassen, ob es ein Unfall oder Suizid war, auch die Gründe für den potenziellen Suizid werden nicht gegeben. Bei der Beerdigung merkt Schumacher Flaig an, dass es die Lehrer gewesen seien, die Hans in den Tod getrieben hätten. Die Entscheidung, ob Flaig mit seinem Kommentar recht hat, bleibt dem Leser zu überlassen: War es die Schule, die Hans’ Tod herbeiführte, oder war es seine eigene, zu schwache und beeinflussbare Persönlichkeit? Hesses Roman gibt darauf keine eindeutige Antwort. 

Veröffentlicht am 15. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 15. April 2023.