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Unterm Rad

Zitate und Textstellen

  • »In den letzten acht Tagen war die Vergeistigung eklatant geworden. In dem hübschen, zarten Knabengesicht brannten tiefliegende, unruhige Augen mit trüber Glut, auf der schönen Stirn zuckten feine, Geist verratende Falten, und die ohnehin dünnen und hageren Arme und Hände hingen mit einer müden Grazie herab, die an Botticelli erinnerte.«
    – Erzähler, S. 10

    Diese Beobachtung des Erzählers folgt auf einen kurzen Dialog zwischen dem Klassenlehrer von Hans und dem Rektor seiner Schule. Sie unterhalten sich darüber, ob Hans trotz seiner zunehmenden Schwäche durch das Landexamen kommen wird. Der Rektor ist zuversichtlich und missinterpretiert Hans’ kränkliches Aussehen hocherfreut als begrüßenswerte »Vergeistigung«. Der Erzähler nimmt diesen Gedanken ironisch auf: Er beschreibt Hans’ zunehmende Schwäche und Müdigkeit, die eigentlich besorgniserregend sein sollten, in eleganten und schönen Worten, die eigentlich überhaupt nicht dazu passen. Seine Müdigkeit wird zur »müden Grazie«, die an ein Gemälde der Renaissance erinnert, und seine frühen Falten – Hans ist 14 Jahre alt – verraten angeblich »Geist«. Diese Sätze weisen einen eindeutig ironischen Unterton auf und dienen als gutes Beispiel für die Ironie, die sich durch den gesamten Text zieht.

  • »›Durchfallen?!‹ Der Geistliche blieb ganz erschrocken stehen. ›Durchfallen ist einfach unmöglich. Einfach unmöglich. Sind das Gedanken!‹«
    – Der Stadtpfarrer zu Hans, S. 13

    Mit diesen Worten reagiert der Stadtpfarrer, bei dem Hans auch Unterricht nimmt, auf Hans’ Bedenken, das Landexamen nicht zu bestehen – er hält dies für ausgeschlossen. Die Reaktion des Stadtpfarrers bringt deutlich zum Ausdruck, welch großer Druck von Schule, Dorf und Vater auf Hans ausgeübt wird, und erklärt, weshalb der Junge so verbissen auf das Examen hinarbeitet. Er darf unter keinen Umständen durchfallen.

  • »Da hatte ihn eine freche, selige Ahnung ergriffen, daß er wirklich etwas anderes und Besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie vielleicht einmal aus entrückter Höhe überlegen herabsehen dürfe.«
    – Erzähler, S. 16

    Am Abend vor der Abreise zum Examen sitzt Hans in seinem Zimmer und erinnert sich an all die Mühen der letzten Jahre. Ihn erfasst ein gewisser Stolz, so viel und intensiv gelernt zu haben. Er fühlt sich seinen gleichaltrigen Klassenkameraden weit überlegen. Dieser Stolz ist sehr charakteristisch für Hans und wird es bis zum Ende des Romans bleiben. (Sogar bei der Wahl seiner Lehre wird es später für Hans eine Rolle spielen, dass die Zunft der Mechaniker das größte Ansehen unter den handwerklichen Zünften genießt.)

  • »Er hatte sie überholt, sie standen jetzt unter ihm. Sie hatten ihn genug geplagt, weil er außer August keine Freundschaften und an ihren Raufereien und Spielen keine rechte Freude gehabt hatte. So, nun konnten sie ihm nachsehen, die Dackel, die Dickköpfe. Er verachtete sie so sehr, daß er einen Augenblick zu pfeifen aufhörte, um den Mund zu verziehen.«
    – Erzähler über Hans S. 37

    Hans ist vom Examen nach Hause zurückgekehrt und hat erfahren, dass er als Zweitbester bestanden hat. Sein bereits vorhandener Stolz vergrößert sich noch einmal deutlich und er fühlt sich seinen ehemaligen Klassenkameraden nun noch ein wenig weiter überlegen. Er beginnt, sie regelrecht zu verachten.

  • »Mit diesem gesteigerten Arbeitsfieber und Erkenntnisdurst traf dann ein stolzes Selbstgefühl zusammen, als lägen Schule und Lehrer und Lehrjahre schon längst hinter ihm und als schreite er schon eine eigene Bahn, der Höhe des Wissens und Könnens entgegen.«
    – Erzähler über Hans S. 47

    Hans hat eigentlich seine Ferien ohne Lernen verbringen wollen, konnte allerdings das Angebot des Stadtpfarrers, ihn mit zusätzlichem Unterricht auf das Seminar vorzubereiten, nicht ausschlagen. In dieser Passage beschreibt der Erzähler, wie Hans’ anfängliche Missmut über das Lernen in den Ferien in Begeisterung umschlägt. Das Studienmaterial übt einen regelrechten Sog auf ihn aus, denn es bringt ihm Wissen und Fähigkeiten bei, die ihn weit über alle anderen stellen.

  • »Dem Rektor war es ein inniges Vergnügen gewesen, diesen von ihm geweckten, schönen Ehrgeiz zu leiten und wachsen zu sehen. Man sage nicht, Schulmeister haben kein Herz und seien verknöcherte und entseelte Pedanten!«
    – Erzähler, S. 49

    In diesen Sätzen liegt, wie so oft in Hesses Roman, wieder eine sarkastische Note. In den Zeilen zuvor wurden die gesundheitlichen Folgen beschrieben, die Hans durch sein vieles Lernen mit davonträgt: Er schläft schlecht, hat Kopfschmerzen. Sein Ehrgeiz schadet ihm ganz eindeutig. Indem Hesses Erzähler den Rektor für Hans’ Ehrgeiz mitverantwortlich macht, lobt er ihn nicht – er kritisiert ihn. Der Rektor wird damit genau zu dem, was er vorgibt, nicht zu sein: ein entseelter Pedant.

  • »Es war etwas in ihm, etwas Wildes, Regelloses, Kulturloses, das mußte erst zerbrochen werden, eine gefährliche Flamme, die mußte erst gelöscht und ausgetreten werden. Der Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares, Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß, so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend beendigt.«
    – Erzähler, S. 48f.

    Hier beschreibt Hesses Erzähler in ironischer Sprache die Aufgaben der Schule. Schüler seien gefährliche Flammen, die von ihren Lehrern ausgelöscht werden und dann zu einem »nützlichen Gliede der Gesellschaft« gemacht werden müssten. In diesen Worten liegt eine deutliche Kritik an den strikten und gnadenlosen Vorgehensweisen der Schule. Auch Hans wird an ihren gewaltvollen Praktiken leiden, bzw. leidet bereits an ihnen.

  • »Die Regierung, auf deren Kosten die Seminaristen leben und studieren dürfen, hat hierdurch dafür gesorgt, daß ihre Zöglinge eines besonderen Geistes Kinder werden, an welchem sie später jederzeit erkannt werden können — eine feine und sichere Art der Brandmarkung und ein sinniges Symbol der freiwilligen Leibeigenschaft.«
    – Erzähler, S. 57

    Diese Sätze stehen in der anfänglichen Beschreibung des Klosters in Maulbronn. Hier betont Hesses Erzähler wieder einmal die Starrheit und Strenge des Schulsystems, und wieder verpackt in Ironie. Schüler werden nicht zu freien Geistern erzogen, sondern zu Sklaven, zu »Leibeigenen« der Regierung. Auch aus Hans soll ein solcher gemacht werden.

  • »›Da lesen wir Homer,‹ höhnte er weiter, ›wie wenn die Odyssee ein Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird.‹«
    – Hermann Heilner, S. 73

    Mit diesen Worten kritisiert Hermann Heilner in einem seiner ersten Zusammentreffen mit Hans den Unterricht des Seminars. Er sei zu fantasielos, zu steif, rege nicht zum Denken an. Das meint Hermann auch damit, wenn er sagt, die Odyssee werde im Seminar wie ein Kochbuch gelesen: Bei einem Kochbuch muss den darin niedergeschriebenen Anweisungen genau gefolgt und nicht davon abgewichen werden. Genauso, darf der Leser vermuten, verhält es sich mit dem strengen Unterricht des Seminars, der Schüler nicht zum freien Denken, sondern zum Gehorchen erzieht.

  • »Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und Biedermänner.«
    – Erzähler, S. 97

    Kurz zuvor hatte Hesses Erzähler beschrieben, wie es den Lehrern im Seminar vor Hermanns freiem Geist, seinem »Genie« graust. Nun verspottet er mit diesen Worten das Ziel der Lehrer, gehorsame Schüler heranzuziehen.

Veröffentlicht am 15. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 15. April 2023.