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Maria Stuart

Historischer Hintergrund und Epoche

»Maria Stuart« ist das fünfte Bühnenwerk Friedrich Schillers und gehört in die literarische Epoche der sogenannten Weimarer Klassik.

Bereits im Winter 1782/83, während der Arbeit an »Kabale und Liebe«, setzt Schiller sich mit dem Stoff um Maria Stuart auseinander, entscheidet sich aber dann doch für den »Don Karlos« als sein nächstes Stück. Nach dem Abschluss des »Don Karlos« folgt eine neunjährige Pause im dramatischen Schaffen Schillers bis zu den Arbeiten am »Wallenstein« in den Jahren 17961799. Gerade von der triumphalen Aufführung von »Wallensteins Tod« nach Jena zurückgekehrt, schreibt er am 26. April 1799 an Goethe: »Indessen habe ich mich an eine Regierungsgeschichte der Königin Elisabeth gemacht und den Prozess der Maria Stuart zu studieren angefangen. Ein paar tragische Hauptmotive haben sich mir gleich dargeboten und mir großen Glauben an diesen Stoff gegeben, der unstreitig sehr viel dankbare Seiten hat. Besonders scheint er sich zu der Euripidischen Methode, welche in der vollständigsten Darstellung des Zustandes besteht, zu qualifizieren, denn ich sehe eine Möglichkeit, den ganzen Gerichtsgang zugleich mit allem Politischen auf die Seite zu bringen und die Tragödie mit der Verurteilung anzufangen.« Ende Juni desselben Jahres ist der erste Akt fertig, kurz vor Weihnachten der dritte, das gesamte Stück vollendet Schiller am 9. Juni 1800. Die Uraufführung folgt am 14. Juni bei einer Dauer von dreieinhalb Stunden ohne große Pausen – für die Zeitgenossen ungewöhnlich lang. Insgesamt taxiert Schiller die Arbeitszeit, die er auf das Stück nach Abzug der Zeit, die er mit anderen Dingen beschäftigt war, verwendet hat, auf siebeneinhalb Monate (Brief an Körner vom 28. Juli 1800).

Die »Weimarer Klassik« ist eine Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts, in dem das liberale Bürgertum einen kulturellen Ausgleich für die misslungene politische Verwirklichung seiner Ideale suchte. Das Jahrzehnt der intensiven Zusammenarbeit von Schiller und Goethe um 1800 herum, von 1794 bis zum Tod Schillers im Jahr 1805, wurde etwas hochtrabend auf eine Ebene gestellt mit dem französischen Klassizismus unter Ludwig XIV., dem siglo de oro der Spanier, dem Zeitalter Dantes, Boccaccios und Petrarcas in Italien und der elisabethanischen Literatur Englands. Aus europäischer Perspektive handelt es sich bei der Literatur und dem ästhetischen Programm der »Weimarer Klassik« um ein Sonderphänomen innerhalb der europäischen Romantik.

Schiller reagiert in seinen theoretischen Überlegungen zur Kunstautonomie und zur Funktion der Kunst auf elementare Erfahrungen der Moderne. Die Gesellschaft habe sich im Zuge der immer differenzierteren Arbeitsteilung zersplittert und biete dem Individuum keine Erfahrung von Ganzheit und Totalität mehr an. Die autonome, also keinem anderen Funktionsbereich der Gesellschaft mehr unterworfene Kunstsphäre ermögliche es dem modernen Individuum, dennoch so etwas wie Totalität zu erfahren. Dies Erlebnis diene einerseits zur Kompensation der tatsächlich erlebten Entfremdung. Andererseits bestehe die Möglichkeit, dass aus der Erfahrung der Kunstfreiheit heraus Impulse für die Gestaltung einer gesellschaftlichen Freiheit gegeben werden, in denen das Individuum in seiner Ganzheit wieder einen Platz finden kann.

Besonderer Austragungsort für dieses ästhetische Programm ist die Theaterbühne. Goethe und Schiller machen es sich zur Aufgabe, Wahrheit und Schönheit zu Prinzipien der Theaterarbeit zu machen – entgegen etwa der Ausrichtung auf das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums oder die Eigenarten der jeweiligen Schauspieler. Schillers »Wallenstein« ging in Weimar als erstes in diese Richtung – und wurde ein Erfolg. »Maria Stuart«, nur knapp ein Jahr nach dem »Wallenstein« uraufgeführt, sollte in exemplarischer Weise das ästhetische Programm Schillers verwirklichen. Aus dieser Funktion lässt sich die Formstrenge des Stücks erklären und das Zurücktreten inhaltlicher Auseinandersetzungen, wie sie noch den »Wallenstein« geprägt hatten.

Mit dem Sterben Maria Stuarts hat sich Schiller einen der großen geschichtlichen Stoffe europäischer Literatur ausgesucht. Bis zu seiner Bearbeitung zählt man ganze 55 Maria-Stuart-Dramen, das erste entsteht bereits sechs Jahre nach ihrem Tod im Jahr 1593. Im Vordergrund steht zunächst Maria als katholische Märtyrerin, dann im protestantischen Raum die politische Dimension. Erst im klassischen französischen Drama tritt der erotische Aspekt in den Vordergrund.

Schiller arbeitet jedoch weniger auf der Grundlage der literarischen Tradition als anhand eines gründlichen Studiums historischer Quellen. Gleichwohl vereinigt er viele bisher nur einzeln ausgeführte Tendenzen des Stoffes. Bei ihm gibt es eine erotische und eine politische und eine konfessionelle Dimension, Maria ist sowohl die sinnliche, verführende Frau als auch die getrost in den Tod gehende Dulderin. Im Umgang mit den historischen Quellen zeigt Schiller einerseits ein großes Maß an Genauigkeit und Detailfreude, andererseits verschiebt er große Stoffmassen mühelos, wenn es dem ästhetischen, dramaturgischen Zweck dient. Zu einer Begegnung Elisabeths und Marias ist es in Wirklichkeit nicht gekommen, obgleich Maria darum bat. Die Figur Mortimers ist aus verschiedenen Versatzstücken der Historie zusammengesetzt, die zur Zeit der Hinrichtung agierende Verschwörung eine Fiktion. Weitere erfundene Elemente sind Leicesters Liebesbeziehung zu Maria und der Widerruf des Schreibers Kurl.

Charakteristisch für Schillers Umgang mit der Geschichte ist ein vielleicht als kleiner Fehler zu bewertendes Detail. Maria erscheint bei Schiller jünger, als sie tatsächlich war (nämlich fünfundvierzig Jahre alt). Die historische Maria hatte zur Zeit ihrer Haft bereits einen Sohn, und blickt man auf die Maria des Stücks insgesamt, scheint diese Mutterrolle bei ihr ausgeschlossen. Schließlich bedenkt sie auch vor ihrer Enthauptung, wenn sie an alle Welt letzte Grüße sendet, ihren Sohn nicht. Tatsächlich erwähnt sie ihn aber im ersten Akt gegenüber Burleigh (V. 700).

Ein anderes Beispiel: Historisch korrekt und im Detail den Quellen entnommen sind die Umstände der Vorbereitungen zu einer Ehe zwischen Elisabeth und dem Bruder des französischen Königs – nur der Zeitpunkt stimmt nicht. In Wirklichkeit fand die Brautwerbung einige Jahre früher statt, war Frankreich zur Zeit der Hinrichtung Maria Stuarts bereits mit Spanien gegen England verbunden.

Und ein letztes Beispiel: Historisch überliefert ist der Wunsch Elisabeths nach einem ihre Jungfräulichkeit bezeugenden Grabstein. Wenn sie jedoch in derselben Szene fürchtet, in der Ehe mit der Jungfräulichkeit auch ihre Freiheit zu verlieren, weil sie als Frau ihrem Ehemann sich unterzuordnen habe wie jede andere verheiratete Frau, spricht sie aus der Perspektive der bürgerlichen Kleinfamilie des späten achtzehnten Jahrhunderts.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.