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Maria Stuart

II, 5-9

Zusammenfassung

(II/5)
Elisabeth beauftragt Mortimer mit der heimlichen Ermordung Marias, die dieser bis zum nächsten Neumond zu erledigen verspricht. Sie weiß, dass Paulet sich diesem Auftrag verweigert hat, und zeigt sich ebenso entschlossen zur Beseitigung Marias wie besorgt um ihren Ruf. Sie hatte sich von dem Gerichtsverfahren Deckung versprochen und sieht nun, dass die Vollstreckung des Urteils wiederum in ihrer alleinigen Verantwortung liegt und ihren Ruf bedroht. Sie schmeichelt Mortimer und macht ihm vage, erotisch gefärbte Versprechungen.

(II/6)
Mortimer rekapituliert im Monolog seine Position. Elisabeths Versprechungen reizen ihn nicht, er stellt sie in scharfem Kontrast den erotischen Reizen Marias gegenüber. Er macht sich bereit, ihren Brief an Leicester zu übergeben und äußert gegenüber diesem Auftrag heftigen Widerwillen: Er allein will Maria retten und dafür den Lohn erhalten.

(II/7)
Paulet forscht seinen Neffen Mortimer wegen der Unterredung mit Elisabeth aus. Er fürchtet, sie könne ihn mit dem Mord Marias beauftragt haben und sieht seine Furcht bestätigt, als Leicester ankündigt, Mortimer allein solle Maria beaufsichtigen. Paulet warnt Mortimer, Elisabeth werde, sollte er den Auftrag ausführen, sich an ihm rächen, um den eigenen Ruf zu schützen.

(II/8)
Das Aufeinandertreffen von Mortimer und Leicester endet im offenen Streit um das rechte Mittel, Maria zu befreien. Beide geben sich erst nach behutsamen Vorbemerkungen als Verschworene zu erkennen. Leicester klagt über die vergebliche, zehn Jahre lange Werbung um Elisabeth, die nun einem jungen Franzosen zur Frau gegeben werden soll. Er hatte Maria einmal aus Ehrgeiz ausgeschlagen, nun, da sein Ehrgeiz frustriert wurde, wendet er sich ihr wieder zu. Mortimer übergibt Leicester den Brief Marias, in dem diese sich ihm zur Frau verspricht, sollte er sie retten. Mortimer berichtet ihm von dem Mordauftrag, den Elisabeth ihm gegeben hat, und weiht ihn in die eigenen Befreiungspläne ein, vor denen Leicester zurückschreckt. Mortimer wirft ihm Zaghaftigkeit vor und fordert ihn auf, von seinen Mitteln Gebrauch zu machen, Verbündete aufzurufen und Elisabeth gefangen zu setzen. Leicester bleibt bei seinem Plan, die Unterredung zwischen Elisabeth und Maria herbeizuführen. Er ist eigentlich wie Burleigh und Shrewsbury der Ansicht, dass nach einer solchen Unterredung das Urteil nicht mehr vollzogen werden könne. Mortimer weigert sich, die Liebesschwüre Leicesters Maria zu überbringen.

(II/9)
Leicester behauptet, von Elisabeths Schönheit geblendet zu sein, wo er sich wegen ihres unvermuteten Erscheinens in Wirklichkeit erst fassen muss. Er erneuert seine Liebeserklärung gegen sie. Sie führt zu ihrer Entschuldigung die Zwänge ihres Amtes an und gibt ihrem Neid gegenüber Maria Ausdruck, die ihre Weiblichkeit zwanglos habe ausleben können. Sie fragt sich, ob Maria wirklich so schön sei, wie behauptet, und hier kann Leicester einhaken. Er behauptet, Elisabeth sei weit schöner als Maria und schlägt vor, sie solle sich in einer Gegenüberstellung selbst davon überzeugen. Er sieht gerade jetzt eine Gelegenheit dazu, weil die königliche Jagd an Fotheringhay vorbeiführt. Was er vorschlägt, ist ein Arrangement, bei dem Elisabeth Maria zuerst sehen würde und selbst entscheiden könnte, den gegenseitigen Kontakt herzustellen oder nicht. Elisabeth stellt ihre Einwilligung als besondere Gunst gegenüber Leicester dar.

Analyse

Auf die öffentlichen Auftritte der ersten Akthälfte folgen in der zweiten Hälfte lauter heimliche Unterredungen. Noch Mortimer war in der vierten Szene von Elisabeth offiziell wieder am Hof begrüßt worden, er bildet aber, als einziger bei der Königin zurückbleibend, das Scharnier zu den Szenen, für die der Ausschluss bestimmter Zuhörer grundlegend wird. Dass am Hof die geforderte Abgeschlossenheit nur flüchtig, nur unter Gefahr herzustellen ist, zeigen die Szenenübergänge. Paulet errät den Inhalt der Unterredung Mortimers und Elisabeths, und Leicester wird nach dem heftigen Streit mit Mortimer von Elisabeth überrascht. Er zeigt sich einmal mehr als gewandter Hofmann, wenn es ihm gelingt, seinen Schrecken über ihr plötzliches Erscheinen in ein Kompliment umzuwandeln.
Tatsächlich erfolgen die für die Handlung entscheidenden Schritte in der zweiten Akthälfte. Vorgestellt wurden im ersten Akt vier Wege zu den beiden möglichen Handlungszielen der Befreiung Marias oder ihres Todes.

(1) Der von dem Gerichtsverfahren vorgeschriebene Weg führt zu ihrer rechtlich legitimierten Hinrichtung. Als entscheidender Akteur für den letzten Schritt des Verfahrens, die Urteilsvollstreckung, erweist sich Elisabeth. Ihr aber erscheint ihre eigene Verantwortung und Handlungsfreiheit bei diesem Schritt so groß, als hätte es das Gerichtsverfahren gar nicht gegeben, und dies nicht, weil sie wie Maria, Paulet und Shrewsbury seine Legitimität bezweifelte, sondern weil die Urteilsvollstreckung ihr von jedermann als freie Tat zugeschrieben werden wird und diese Zuschreibung ihrem Ruf schaden könnte.

Ich glaubte mich am Ziele schon | Zu sehn, und bin nicht weiter als am Anfang. Ich wollte die Gesetze handeln lassen, | Die eigne Hand vom Blute rein behalten. | Das Urteil ist gesprochen. Was gewinn‘ ich? | Es muß vollzogen werden, Mortimer! | Und ich muß die Vollziehung anbefehlen. | Mich immer trifft der Haß der Tat. Ich muß | Sie eingestehn, und kann den Schein nicht retten. | Das ist das Schlimmste! (V. 1590-1599)

Deutlich wird in diesem Zitat auch, wie richtig Maria lag, wenn sie Burleigh gegenüber den Vorwurf erhob, der Prozess sei »Gaukelspiel« (V. 970), um ihrer einfachen Beseitigung den Anschein rechtlicher Notwendigkeit zu geben.

(2) In der heimlichen Ermordung Marias sieht Elisabeth für sich das Mittel, ihren guten Ruf zu wahren. Dieser Plan ist offenbar nicht neu, denn bereits von Burleighs Vorstoß gegenüber Paulet zeigt sie sich unterrichtet. Dass der Auftrag nun an Mortimer geht, ist für Marias Partei sogar noch günstiger als die Ablehnung Paulets. Denn nun steht fest, dass vorerst niemand anders beauftragt wird. Auf jeden Fall ist also Zeit gewonnen.

(3) Marias Plan, eine Unterredung mit Elisabeth zu erwirken, verwirklicht sich dank der Überredungskunst Leicesters. Elisabeth willigt in die Begegnung nur unter Bedingungen ein, die von ihr keine Zugeständnisse, erst recht nicht die Bereitschaft zur Begnadigung verlangen. Leicester verspricht für ein zunächst einseitiges Wahrnehmungsverhältnis unter der Kontrolle Elisabeths zu sorgen. Seine Argumentation ist widersprüchlich. Einerseits schlägt er ihr vor, die Unterredung als großmütige Tat zur Verbesserung ihres Rufes zu gewähren und Maria dann ermorden zu lassen. Andererseits plant er die Inszenierung einer zufälligen Begegnung, die man kaum Elisabeth wird zurechnen können. Was er ihr jedenfalls in Aussicht stellt, ist ein Triumph über Maria hinsichtlich ihrer Weiblichkeit und Schönheit. Wenn dies nötig gewesen ist, um die Einwilligung von Elisabeth zu erhalten, gibt die Königin sie doch so unter für Maria höchst ungünstigen Vorzeichen. Leicester muss entweder hoffen, dass die Begegnung selbst Elisabeth zum Umdenken und zur Barmherzigkeit bewegen wird, oder dass der öffentliche Druck stark genug sein wird, aus der persönlichen Begegnung die Begnadigung folgen zu lassen.

(4) Die Entschlossenheit Mortimers zur Ausführung seines Plans, Maria gewaltsam zu befreien, ist nicht gemindert worden, aber ein wichtiger Verbündeter ist ihm in Leicester, der jede Verbindung mit der Verschwörung scheut, entgangen. Die erotische Konkurrenz beider droht außerdem den politischen Zusammenschluss zu überlagern.

Der zweite Akt dient der mehr oder weniger linearen Entwicklung der im ersten Akt angelegten Handlungsoptionen. Die Tendenzen sind dabei gegenläufig: Die zu ihrem Tod führenden Optionen erscheinen trotz ihrer Entwicklung weniger gefährlich, die zu ihrer Befreiung führenden Optionen trotz ihrer Entwicklung weniger erfolgversprechend. Der Prozess ist zwar verloren, Elisabeth aber zeigt sich wenig entschlossen, das Verfahren ordnungsgemäß zum Abschluss zu bringen. Die heimliche Ermordung wird zwar gewünscht, beauftragt aber ein Verschworener. Genauso umgekehrt: Elisabeth willigt zwar in die persönliche Begegnung ein, aber nur, wenn daran keine Begnadigung geknüpft ist, und zur Befriedigung ihrer weiblichen Eitelkeit. Mortimer vertraut sich Leicester zwar an, dieser aber distanziert sich von dem gewaltsamen Befreiungsversuch und erweist sich als Mortimers Rivale.

Neben dem Fortgang der Handlung entwickelt der zweite Akt in seiner zweiten Hälfte vor allem die Figur Elisabeths.

Maria war im ersten Akt immer stärker, immer souveräner geworden. Elisabeth erscheint im zweiten Akt zunehmend schwächer. Sie hat den machtvollsten Auftritt zu Beginn in der großen Hoföffentlichkeit gegenüber den französischen Gesandten. Dort beklagt sie den drohenden Verlust ihrer jungfräulichen Freiheit, sie gibt vor, zugunsten ihres Amtes auf ihre Weiblichkeit verzichtet zu haben. So erscheint sie als ein genauer Gegenentwurf zu Maria, die ihre Weiblichkeit trotz ihres königlichen Ranges und in politischer Zuständigkeit voll ausgelebt hat. Das offensichtliche Scheitern des Entwurfs der schottischen Königin gibt Elisabeth recht. Zwar hat sie verzichtet, jetzt aber ist sie in der Position der Stärke. Selbst die Preisgabe ihrer Jungfräulichkeit folgt politischen Notwendigkeiten.

Hinsichtlich der Hinrichtung Marias erschien Elisabeth in der ersten Akthälfte unentschieden. Sie verwarf Burleighs Überlegungen als zu grausam und zeigte sich von dem Brief Marias gerührt. Als sie sich die Plädoyers ihrer Ratgeber vortragen ließ und sich danach zurückzog, wirkte dies, als wöge sie gewissenhaft ab, als sei ein fester, öffentlicher Entschluss bald zu erwarten.

In beiden Belangen trügt der Schein. Der Entschluss, Maria heimlich ermorden zu lassen, ist längst gefasst, nur der geeignete Mörder ist noch nicht gefunden. Wenn Elisabeth zögert, dann, weil sie um ihren Ruf fürchtet. Der Prozess diente allein dazu, die Beseitigung Marias von ihr abzuwälzen, und dazu soll auch ihre Ermordung dienen.

Im politischen Geschäft weiß Elisabeth ihre Weiblichkeit durchaus einzusetzen – genauso kann, um von ihr etwas zu erreichen, ihre Weiblichkeit adressiert werden. Sie hat die Werbung Leicesters zehn Jahre lang gefördert, ohne sie zu belohnen, und Mortimer stellt sie ihre Eroberung als Preis in Aussicht. Die Schönheit Marias und ihre große Wirkung auf Männer kränken ihre Eitelkeit, und es ist diese Kränkung, die Leicester sich zunutze macht, um sein Vorhaben zu erreichen. Am Schluss des Aktes erscheint die entscheidende Frage, ob es zu einer Unterredung zwischen den beiden Kontrahentinnen kommt oder nicht, allein auf der zwischengeschlechtlichen Ebene: Elisabeth gewährt die Unterredung, um den ihr von Leicester in Aussicht gestellten Triumph über Marias Schönheit zu erleben, und sie erklärt diese Einwilligung zum Beweis ihrer Neigung gegenüber Leicester (V. 2070-2072).

In der zweiten Akthälfte findet sich in den Äußerungen Mortimers die erste binnenszenische gereimte Rede (V. 1645 ff.), außerdem zwischen ihm und Leicester die längste Stichomythie (V. 1870-1880). Mortimer hat im sechsten Auftritt den ersten Monolog des Dramas.

Das klassizistische Verbot der leeren Bühne führt im zweiten Akt zu einer besonderen Verteilung der Auf- und Abgänge. So profilieren sich Figuren, die auf der Bühne bleiben und eine Neugruppierung des Personals um sich herum ermöglichen. Diese Funktion haben zu Beginn Kent und Davison. Elisabeths Abgang überdauert auf der Bühne einzig Mortimer. Leicester bleibt, nachdem Mortimer abgegangen ist – auf ihn trifft wieder Elisabeth. Es ist die höfische Intrigensphäre, die im zweiten Akt die zeitweilige Abwesenheit Elisabeths, der unbestrittenen Hauptfigur des Aktes, bedingt. Marias Auftritt im ersten Akt kennt ein kurzes Vor- und Nachspiel (Szenen I/1 und 8), jedoch keine Unterbrechung.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.