Maria Stuart
IV, 1-4
Zusammenfassung
(IV/1)
Der französische Botschafter Graf Aubespine wird von Leicester und Kent darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein katholischer Franzose der Attentäter war.
(IV/2)
Burleigh lässt Davison den Hinrichtungsbefehl für Maria ausfertigen, der von Elisabeth nur noch unterschrieben werden müsste. Burleigh verweist Graf Aubespine des Landes. Elisabeth habe bereits beschlossen, das Bündnis mit Frankreich aufzukündigen, da in Aubespines Haus der Attentäter verkehrt habe. Man habe ein Waffenarsenal gefunden, das Volk habe das Haus gestürmt.
(IV/3)
Burleigh gibt Leicester gegenüber zu verstehen, dass er auch ihn für einen Verschworenen hält. Sie wollen die Auseinandersetzung vor dem Thron austragen.
(IV/4)
Leicester bedenkt allein seine ausweglose Situation. Mortimer kommt zu ihm und wird zunächst abgewiesen. Er möchte Leicester warnen: Bei einer erneuten Durchsuchung des Gefängnisses Marias wurde ein angefangener Brief an Leicester gefunden, der diesen als Geliebten Marias ausweist. Der Brief sei in der Hand Burleighs. Mortimer möchte nach Schottland fliehen. Leicester beschließt, zur eigenen Rettung Mortimer der Wache auszuliefern. Daraufhin erdolcht sich Mortimer.
Analyse
Mit dem Scheitern der beiden Pläne zur Befreiung Marias im dritten Akt steht der Ausgang der Handlung fest. Offen ist nur noch, unter welchen Umständen sie zu Tode kommen wird. An der Grenze zum vierten Akt gibt es also einen Wechsel von der Ob- zur Wie-Spannung. Zu klären steht im vierten Akt, wie es zur Unterzeichnung des Hinrichtungsbefehls kommt, und im fünften Akt, wie Maria in den Tod geht und in welchem Zustand die siegreiche Partei Elisabeths zurückbleibt.
Den beiden Möglichkeiten der Befreiung hatten in den ersten beiden Akten zwei Möglichkeiten der Beseitigung Marias entsprochen: die heimliche Ermordung und die offizielle Hinrichtung. Auch zwischen diesen beiden Möglichkeiten scheint zu Beginn des vierten Akts die Wahl getroffen, denn mit dem verfrühten und missglückten Streich Sauvages ist der Fall eingetreten, für den der vermittelnde Leicester im Staatsrat die unverzügliche Urteilsvollstreckung vorgesehen hatte. Auf eine heimliche Ermordung muss nicht mehr zurückgegriffen werden, wenn die Gefahr, die Maria selbst als Gefangene für die Königin bedeutet, so deutlich vor Augen steht. Burleigh, ohnehin die treibende Kraft in Elisabeths Partei, setzt mit seinen ersten Worten die Perspektive (V. 2648-2652). Die Eile, die er anmahnt, dürfte von seiner Furcht herrühren, das beschriebene Momentum zu verpassen. Dramaturgisch schärft seine Ungeduld das Profil der Spannung erzeugenden, retardierenden Momente, die noch kommen.
Wie im zweiten Akt hat Maria im vierten Akt keinen Auftritt. Abgewickelt werden an dieser Stelle aber die Folgen, die die katastrophalen Wendungen des dritten Akts für ihre Partei haben. Betroffen sind der französische Gesandte Aubespine, Mortimer, Leicester und Shrewsbury.
Aubespine schützt sein Status als französischer Gesandter. Mortimer muss mit dem Tod rechnen, Leicester ebenfalls, Shrewsbury war in keine Verschwörung involviert, er hatte nur im Rat für Maria gesprochen. Während Mortimer außer der Flucht kaum Mittel hat, Haft und Verurteilung zu entgehen, und während Shrewsbury allein wegen seiner Meinung keine Verfolgung fürchten muss, ist Leicesters Stellung kompliziert und machtvoll genug, um ihm Möglichkeiten an die Hand zu geben, seinen Fall noch zu verhindern.
Wie am Ende des dritten Akts geschieht viel abseits der Bühne. Die Informationen darüber erhält der Zuschauer wieder nur mittelbar. Sie sind hauptsächlich deshalb wichtig, um einzuschätzen, wie drückend die Beweislast gegen die Verschworenen wirklich ist.
So hat man in der Tasche von Sauvage einen Pass gefunden, den Aubespine ihm ausgestellt hat (V. 2674 f.) – das ist, wie Aubespine herausstellt (V. 2676 f.), erst ein Indiz und noch kein Beweis. Das Volk hat sein Hotel gestürmt, dabei wurde ein Waffenarsenal gefunden (V. 2687-2689). Weiter hat man von den geheimen Versammlungen bei Aubespine Kenntnis erlangt und weiß, dass Sauvage unter den Versammelten war (V. 2763-2766). Wieder wurde Marias Zimmer auf Schloss Fotheringhay durchsucht, dabei hat man einen von Maria begonnenen Brief an Leicester gefunden, aus dem ihre geheime Übereinkunft, ja ihr Verlöbnis ersichtlich wird (V. 2779-2784).
Mit der verzögerten Bekanntgabe dieses zu Beginn des Akts schon geltenden Sachstands erreicht Schiller eine in dem Stück beispiellose Beschleunigung der Handlung. Die ersten Worte Aubespines wirken wie eine unmittelbare Reaktion auf das verfehlte Attentat (V. 2642: »Ihr seht mich noch ganz außer mir für Schrecken.«), so als schlösse der vierte Akt unmittelbar an den dritten an. Die Erwartung des Zuschauers richtet sich entsprechend ein. Gegen diesen Eindruck erfährt der Zuschauer nach und nach, was in Wirklichkeit von den zu erwartenden Entwicklungen zwischen dem Ende des dritten und dem Einsatz des vierten Akts schon geschehen ist. Er sieht sich also durch die Bemerkungen Burleighs und Mortimers sprunghaft in einen schon weiter entwickelten Abschnitt der Handlung versetzt. Schiller lenkt selbst die Aufmerksamkeit auf diese gegenüber dem Zuschauer angewandte Technik, wenn er sie auf der Bühne Burleigh gegenüber dem französischen Gesandten auch anwenden lässt. Aubespine, der den direkten Aktanschluss suggeriert hatte, wird, wie der Zuschauer, von den bereits erfolgten Veränderungen in Kenntnis gesetzt. Selbst zur Aufkündigung des diplomatischen Bündnisses mit Frankreich hatte die Königin schon Zeit, und Burleighs Angriff gegen Aubespine, dessen Zeuge wir werden, erweist sich als Schutz gegen die rasende Volkswut.
Konnte die Auseinandersetzung mit Aubespine auch vollständig in der zweiten Szene abgewickelt werden – mit Leicester kann Burleigh den Konflikt in der dritten Szene lediglich eröffnen. Auch legt er seine Beweise noch nicht offen. Beide verschieben die Auseinandersetzung auf ein Treffen im Beisein Elisabeths und Leicester gewinnt Zeit.
Sein verräterischer Versuch, durch die Verhaftung Mortimers Glaubwürdigkeit bei der Königin zurückzugewinnen, ist das erste neu die Handlung wieder öffnende Ereignis – der erste Schritt, der sich dem einfachen Vollzug der aus dem dritten Akt erwachsenen Konsequenzen entgegenzustellen sucht. Wenn Leicesters Fall dadurch verzögert wird, beschleunigt sich derjenige Mortimers. Sein Selbstmord setzt im vierten Akt einen ersten, durch den anschließenden Ortswechsel unterstrichenen Akzent – mithin auch einen Haltepunkt.