Skip to main content

Maria Stuart

Interpretationsansätze

Entleerung der Geschichte

Die historische Bedeutung der Ereignisse, die Schiller in seiner Tragödie darstellt, liegt in der erfolgreichen Abwehr des von katholischer Seite her unternommenen Versuchs, die Reformation in England rückgängig zu machen. Blickt man auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Modernisierungsschübe, die gerade unter der Regentschaft Elisabeths im protestantischen England des späten sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts möglich wurden, erscheint die protestantische klar als die fortschrittlichere Partei, Maria Stuart hingegen als Gallionsfigur reaktionärer Mächte.

Außer dieser gesamteuropäischen Auseinandersetzung gibt es keinen innergesellschaftlichen Konflikt, der in dem Stück dargestellt würde und der sich im Hinblick auf Fort- oder Rückschritt profilieren ließe. Es fehlen Repräsentanten des Bürgertums und des Volks. Das Parlament, das bei der Erbfolgeregelung entscheidender Akteur war – qua Parlamentsbeschluss waren Elizabeth und ihre Schwester Mary 1536 von der Thronfolge ausgeschlossen, qua Parlamentsbeschluss in die Thronfolge 1543 wieder integriert worden –, spielt in der Tragödie keine Rolle. Burleigh, Leicester und Shrewsbury repräsentieren unterschiedliche Prinzipien politischen Handelns, doch werden diese als zeitlose Prinzipien dargestellt und keiner wirkmächtigen geschichtlichen Kraft zugeordnet.

Sucht man doch nach Indikatoren für fortschrittlichere und für reaktionäre Positionen in dem Stück, zeichnet sich die europäische Großwetterlage in Andeutungen zum Vorteil der protestantischen Partei Elisabeths durchaus ab. Gewiss artikuliert Elisabeth das modernere Amtsverständnis: Sie pocht auf strikte Rollentrennung und möchte als Königin, nicht als Frau angesehen werden. Sie opfert ihre Weiblichkeit, um ihrem Amt gerecht zu werden, um es in Freiheit von den üblichen Rollenanforderungen an eine Frau ausüben zu können. Dass sie dabei scheitert, dass die unterdrückte Weiblichkeit an kritischer Stelle doch zum Vorschein kommt und sie unfähig macht, die politische Rationalität zum einzigen Maß ihrer Handlungen zu bestimmen, kann als Ausdruck einer allgemeinen Wahrheit heute nur unter Vorbehalt akzeptiert werden. Dem Entwurf, den sie von einem moderneren, emanzipierten Amtsverständnis liefert, trägt das nichts ab.

Die katholische Seite kann mit derart fortschrittlichen Vorstößen nicht aufwarten. Mortimer lernt von Marias Onkel, dem Kardinal von Guise, »daß grübelnde Vernunft | Den Menschen ewig in der Irre leite« (V. 477 f.). Er wird auf blinden Gehorsam getrimmt und dass er die kirchliche Absolution vorweg erhalten hat, macht ihn fähig, alle Gebote der Moral für nichtig zu halten. Glaubens- und erotischer Eifer gehen einen unheilvollen Bund ein (V. 2817-2820) und die leidenschaftliche Hingerissenheit angesichts Marias droht in Gewalt zu münden wie der Kampf um Englands politisches und religiöses Schicksal (V. 556-560). Mortimer, so wie er im Stück erscheint, rechtfertigt Elisabeth, wenn sie Maria gegenüber beklagt, sie habe in der katholischen Partei einen skrupellosen, alle Regeln und alle Moral missachtenden Gegner (V. 2330-2362).

Maria gehört dieser Partei an, sie bekennt sich noch in ihren Abschiedsgrüßen ausdrücklich zu ihr, und dennoch rückt sie zu ihr in eine gewisse Distanz. Das liegt einerseits an ihrer empörten Zurückweisung Mortimers und seiner Pläne und andererseits an ihrer Egozentrik. Ihr königlicher Rang und ihr Anspruch auf den englischen Thron sind vollständig in ihr Selbstverständnis integriert. Wenn sie diesen Anspruch erhebt und verteidigt, tritt sie zur Verteidigung ihres Rechts und ihrer Würde auf, und nicht als Instrument und Speerspitze einer sie nur benutzenden politischen Partei. Charakteristisch ist, dass sie auf die zuletzt zitierte Klage Elisabeths, die durchaus zu ihrer Entlastung hätte dienen können, nicht eingeht, so als sei sie zu der hier nötigen Abstraktion von sich selbst nicht fähig.

Dabei hatte sie die Fähigkeit, verschiedene Konfliktebenen auseinanderzuhalten und vorgeschobene von tatsächlichen zu unterscheiden, gegenüber Burleigh bewiesen – einem Mann freilich, vor dem sie sich nicht demütigen musste, dem sie stolz gegenübertreten konnte. In diesem Streitgespräch zum Ende des ersten Akts zeigt sie sich am klügsten, hier sind auch ihre Argumente die fortschrittlichsten. Sie pocht auf die saubere Anwendung des Rechts und protestiert gegen seinen Missbrauch zu machtpolitischen Zwecken. Sie bemängelt eine Verletzung der Gewaltenteilung. Die Prinzipien, die sie vertritt, sind eigentlich rechtsstaatliche Prinzipien.

Steht auf der einen Seite des Stückes diese Maria, begegnet freilich im fünften Akt eine Maria, die ihre Hinrichtung für sich entpolitisiert und enthistorisiert. Sie deutet ihren Tod in einen Sühneakt für weit zurückliegende Verbrechen um und bittet Elisabeth um Vergebung, wie sie ihr vergeben will. Der Ausgleich, den sie bei sich angesichts des Todes gefunden hat, entrückt sie aus der politischen und der geschichtlichen Sphäre.

 Selbstbestimmung und höfischer Schein

Nimmt man die Frage nach geschichtlichem Fortschritt und seiner Repräsentation in »Maria Stuart« einmal beiseite, bleiben Figuren übrig, die sich in einem bestimmten sozialen Feld zu behaupten suchen und dabei unterschiedliche Formen der Orientierung wählen.

Zur Wahl steht ein opportunistisches, nur an den aktuellen Begebenheiten orientiertes Verhalten ohne feststehenden, äußeren Bezugspunkt. Eine Figur, die so handelt, geht vollständig in der bestimmenden sozialen Sphäre und ihren Regeln auf.

Möglich ist ferner ein an bestimmten Inhalten orientiertes Verhalten. Inwieweit eine so orientierte Figur sich in der sozialen Sphäre behaupten kann, hängt vom Inhalt ihrer  Orientierung ab, von dessen Vereinbarkeit mit den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten.

Schließlich wäre eine Figur denkbar, die sich weder auf ein inhaltliches Prinzip noch auf die geltenden gesellschaftlichen Regeln festlegen ließe, sondern ihre Identität allein aus sich selbst heraus gewönne. Auf sie passten die mittlerweile in den trivialen Sprachgebrauch herabgesunkenen, tautologischen Formeln der Selbstverwirklichung à la: »Bleib wie du bist«, »Ich bleibe mir selbst treu«, »Ich bin am stärksten, wenn ich einfach ich bleibe« etc.

Diese uns in der Moderne so geläufige Form selbstreflexiver Identität ist in Wirklichkeit Ergebnis desselben Modernisierungsprozesses, auf den Schiller in der oben beschriebenen Weise in seiner ästhetischen Theorie reagiert. Die Autonomie des Individuums nimmt in seinen theoretischen Arbeiten einen wichtigen Stellenwert ein. Für die Bühne entwickelt er das autonome Individuum als neuen Heldentyp.

Die Helden der barocken Märtyrertragödie litten für den christlichen Glauben, die Helden der klassizistischen Tragödie in Frankreich agierten konfligierende, überpersönliche Normen aus und noch die Helden der Dramen Lessings bleiben an die inhaltlichen Werte der bürgerlichen Moral gebunden.

In »Maria Stuart« zeigt Schiller an entscheidenden Stellen die Unabhängigkeit seiner Titelheldin von äußeren Maßstäben. Bereits ihr erster Auftritt setzt den Akzent (V. 154 f.: »Diese Flitter machen | Die Königin nicht aus.«). Wenn Mortimer zur Ermordung seines Ziehvaters bereit ist, sobald der Papst ihm die Absolution dafür erteilt, quält Maria die Ermordung ihres Gatten Darnley trotz der kirchlichen Vergebung: Ihr Gewissen bleibt unabhängige, moralische Instanz. Anders als Elisabeth, die wenigstens nach außen ihre Weiblichkeit verleugnen muss und selbst nicht genau zu wissen scheint, ob das Bild, das sie von sich erschaffen hat, ihr wirklich entspricht, hat Maria die erotischen Verfehlungen ihrer Vergangenheit, die immer öffentlich gewesen sind, in ihr Selbstbild vollständig integriert. So kann sie Elisabeths Schmähungen »vor Zorn glühend, doch mit einer edeln Würde« (Bühnenanweisung vor V. 2421) entgegentreten. Sowohl ihr Widerstreben, Elisabeth zu begegnen (V. 2184 f.: »In blutgen Haß gewendet wider sie | Ist mir das Herz«) als auch das unverhohlene Auskosten ihres Triumphes danach (V. 2455-2457: »O wie mir wohl ist, Hanna! Endlich, endlich | Nach Jahren der Erniedrigung, der Leiden, | Ein Augenblick der Rache, des Triumphs!«) zeugen von einem unmittelbaren, unverstellten Verhältnis zu den eigenen Gefühlen ungeachtet ihres moralischen Werts. Vor ihrem Tod schließlich vernichtet sie durch die Umdeutung der Hinrichtung in ein Abtragen ihrer Gewissenslast die Macht, die sie zu vernichten suchte: Ihre gerettete Autonomie und der schöne Ausgleich ihrer seelischen Kräfte einerseits und ihre juristische und politische Niederlage fallen auseinander.

In dem Stück ist nur Maria ein autonomes Individuum. Leicht lassen sich nun aber für die anderen, oben aufgezählten Formen des Selbstentwurfes die Figuren finden.

Mortimer hat sich einer anderen, religiösen Autorität, die auch im politischen Feld agiert, vollständig unterworfen. Bei ihm deckt sich diese Unterwerfung mit einer Auslieferung an die eigene erotische Triebhaftigkeit. So moralisch zweifelhaft dieser Inhalt der Selbstbindung erscheinen mag, in der Bestätigung seiner gewählten Identität durch seinen Selbstmord bestätigt Mortimer zugleich ganz allgemein die Möglichkeit des Menschen zur freien Selbstfestlegung.

Alle anderen Figuren bleiben ohne die Möglichkeit, die Inhalte, an die sie sich binden, durch den vollen Einsatz ihres Lebens zu bewähren. Mit Einsätzen niedrigeren Werts gehen sie aber doch um. Der ehrenwerte Paulet riskiert, wenn er den Mordauftrag Burleighs ablehnt, bei diesem und bei der Königin in Ungnade zu fallen. Shrewsbury verlässt die Königin, sobald er ihr Handeln für unmenschlich hält, obgleich er die Möglichkeit hätte, als einziger Berater bei ihr zu bleiben. Und als Burleigh den Befehl aus Davisons Hand an sich reißt und zur Ausführung bringt, ohne mit der Königin Rücksprache zu halten, riskiert er, was dann auch eintritt, dass er wie Davison der heuchlerischen Entlastung der Königin geopfert wird.

Leicester repräsentiert den oben zuerst aufgeführten Typus des völlig in den Regeln der sozialen Sphäre aufgehenden Opportunisten. Diese soziale Sphäre ist in dem vorliegenden Stück der absolutistische Hof, seine Regeln betreffen die Herstellung, die Wahrung, die Manipulation oder die Zerstörung des Scheins. Leicester zersplittert in die verschiedenen Versionen seiner selbst, die er den jeweiligen Parteien – Mortimer, Maria, Elisabeth, Burleigh und Shrewsbury – vorspielt, und so rasant und spielerisch wechselt er zwischen ihnen, sobald sein Untergang droht, dass kein fester Bestand seiner Persönlichkeit, kein Grund, auf den er bauen könnte, übrig bleibt. Im fünften Akt erleben wir ihn, wie er vergeblich versucht, die Rolle des mitleidlosen Staatsmannes auszufüllen, die er im vierten Akt zur Strafe von Elisabeth zugewiesen bekommen hatte. Seine Desorientierung drückt sich symbolisch auf der Bühne aus: Er kommt nicht vom Fleck, kann nicht hinunter zur Enthauptung, die andere Tür aber, die er versucht, ist verschlossen. Er bleibt dem Geschehen ausgeliefert, das er selbst mitverursacht hat, und fällt ohnmächtig in sich zusammen.

Anders Elisabeth: »Sie bezwingt sich und steht mit ruhiger Fassung da. Der Vorhang fällt«, heißt es in der letzten Bühnenanweisung. Marias Autonomie lag darin begründet, dass sie an keinen bestimmten Inhalt gebunden war. Elisabeth nun sucht für ihr Amt die unspezifische Freiheit, die Maria als Person schon hat. Ihr Ziel ist es, frei regieren zu können. Während Maria sich noch im Gefängnis als Königin fühlt, bleibt sie an die Rolle der herrschenden Königin gebunden, und diese von ihr als notwendig empfundene Bindung kostet sie wiederum die Freiheit, die sie zu erringen sucht. Sie bleibt abhängig von der außenpolitischen Lage und von der Volksgunst. Sie gewinnt kein freies Verhältnis zu ihrer Triebhaftigkeit, zu ihrer Weiblichkeit, bleibt leicht zu beeinflussen und zögerlich. Vor der eigenen Entscheidung schrickt sie zurück, und dass sie die Verantwortung für Marias Enthauptung auf Davison und Burleigh abzuwälzen sucht, beweist, dass sie sich noch nach Marias Tod nicht traut, wozu diese sie Burleigh gegenüber aufgefordert hat, wenn sie sagte: »Und was sie ist, das wage sie zu scheinen!« (V. 974)

Frauenrollen

Während die geschichtsphilosophische Thematik und die Frage nach der Autonomie des Individuums durch Schillers eigene theoretische Arbeiten als Interpretationsfolien für seine Stücke plausibel gemacht werden und in der Auseinandersetzung mit »Maria Stuart« von Anfang an berücksichtigt wurden, ist es das Verdienst der jüngeren Forschung, einen anderen Aspekt in den Fokus gerückt zu haben, der gleichwohl für das Stück von erheblicher Bedeutung ist.

Maria und Elisabeth sind beide im politischen Feld agierende Frauen. Sie repräsentieren zwei entgegengesetzte Entwürfe, die Ausübung eines sonst Männern vorbehaltenen Amtes und die eigene Weiblichkeit ins Verhältnis zu setzen.

Elisabeth unterdrückt öffentlich ihre Weiblichkeit, um, wie sie sagt, ihr Amt voll ausüben zu können, integriert sie aber verdeckt in das höfische Machtspiel: Sie vermag es, einen Bewerber über zehn Jahre hinzuhalten und lockt mit erotisch gefärbten Versprechungen, um jemanden für einen riskanten Auftrag zu gewinnen.

Maria hingegen hat ihre Weiblichkeit in der politischen Sphäre voll ausgelebt und ihre Macht dadurch verloren.

Die wichtigen Passagen zu dem Thema liegen also aus guten Gründen in Elisabeths Part (vor allem II/2 und II/9). Während Maria den Preis für ihren Entwurf bereits entrichtet hat und zu den entsprechenden Ereignissen in ein reflektiertes Verhältnis treten kann, bedeutet die Konfrontation mit Maria für Elisabeth erstmals eine Konfrontation mit dem Preis, den sie für ihren Machterhalt beständig zahlt.

Tatsächlich wird sie aufgrund der unvollständigen Unterdrückung ihrer Triebhaftigkeit auch im politischen Feld manipulierbar (wie Leicesters taktischer Sieg am Ende des zweiten Akts beweist) und zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit Maria auf der politischen Ebene unfähig (wie die Entgleisung am Ende ihrer Begegnung zeigt). Am Ende des Stückes hat sie keine Aussicht auf menschliches Glück mehr. Dennoch ist sie, gemessen an ihrer eigenen Zielsetzung des Machterhalts und der freien Machtausübung, am Ende erfolgreich, und wenn sie vor dem Fallen des Schlussvorhangs gefasst dasteht, dann wohl aufgrund dieser Übereinstimmung von Zielsetzung und Resultat. Bei ihr kann die menschliche Komponente als Irritation auftreten oder als verstohlene Hoffnung, sie steht niemals im Mittelpunkt.

Es würde sich einmal lohnen, die Untersuchung der Geschlechterproblematik auch auf die männlichen Figuren auszuweiten. Auffällig ist die Abwesenheit eines männlichen Pendants zu Maria. Ihre Liebe zu Leicester wirkt aufgrund der offensichtlichen Unterlegenheit des Höflings beinahe unwahrscheinlich. Ist Leicesters Liebe zu ihr nicht eine weitere seiner im höfischen Spiel auswechselbaren Masken? Shrewsburys Argumentation für Maria scheint von dem Eindruck ihrer Persönlichkeit wenigstens beeinflusst. Die prinzipientreuen Figuren Burleigh und Paulet zeigen sich von ihr ungerührt. Mortimer repräsentiert eine eher düstere, gewaltsame Version des jungen, feurigen Liebhabers, in ihm ist die Möglichkeit einer positiv besetzten, männlichen Sexualität am deutlichsten negiert und es spricht ganz für die Charakterstärke Marias, das sie für ihn, anders als Elisabeth, vollkommen unempfindlich bleibt.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.