Skip to main content

Maria Stuart

IV, 5-12

Zusammenfassung

(IV/5)
Elisabeth hat soeben von Burleigh den in Marias Gefängnis gefundenen Brief an Leicester erhalten. Sie klagt über die Demütigung, die sie bei dem Zusammentreffen mit Maria erlitten hat und möchte sich an Leicester rächen. Er soll hingerichtet werden. Burleigh pflichtet ihr bei und versucht ihren Vorsatz gegen etwaige Versuche Leicesters, sie noch umzustimmen, zu stärken. Als Leicester sich anmelden lässt, kommen Elisabeth, wie Burleigh befürchtet hatte, Zweifel. Sie lässt ihn ein.

(IV/6)
Leicester tritt mit großem Selbstbewusstsein auf. Er dringt vergeblich darauf, dass Burleigh sich entferne. Er behauptet, er habe Maria ausforschen wollen. Burleigh zeigt sich weiterhin skeptisch. Leicester berichtet nun von dem doppelten Spiel Mortimers, von seiner Verhaftung und seinem Selbstmord. Dies sind für Elisabeth und Burleigh neue Informationen. Ein Wachoffizier bestätigt, dass Mortimer nicht von Leicester umgebracht wurde, wie Burleigh argwöhnt, sondern sich selbst erdolcht hat. Leicester spricht sich nun selbst für die Vollstreckung des Todesurteils an Maria aus. Elisabeth bestimmt, dass er über die Vollstreckung wachen solle.

(IV/7)
Kent teilt Elisabeth und Leicester mit, das Volk habe von papistischen Attentätern in der Stadt gehört und dränge auf die Hinrichtung Maria Stuarts.

(IV/8)
Burleigh und Davison bringen den ausgefertigten Vollstreckungsbefehl. Elisabeth äußert Furcht davor, dass dasselbe Volk, das jetzt auf die Hinrichtung drängt, sie später für dieselbe Hinrichtung tadeln könnte.

(IV/9)
Shrewsbury mahnt die Königin, sich vom Volk nicht drängen zu lassen. Mehr als die lebendige habe sie die tote Maria Stuart zu fürchten, in der das Volk vor allem die Angehörige des Königshauses sehen, ja die es rächen werde. Durch die Missachtung des königlichen Rangs Marias, der sie vor der Hinrichtung bewahren sollte, werde Elisabeth zur Tyrannin werden. Elisabeth äußert sich verzagt. Sie habe ein weiches Herz und sei zum Regieren nicht gemacht. Wenn das Volk Maria zur Königin wünschte, und sie sich zurückziehen könnte, wäre sie zufrieden. Burleigh hält weiter im Sinne Englands und im Sinne der protestantischen Konfession dagegen. Elisabeth entlässt ihre Ratgeber, um sich mit sich zu beraten.

(IV/10)
Elisabeth unterschreibt nach längerer Überlegung den Vollstreckungsbefehl. Ihr bislang tugendhaftes Regiment mache ihr diesen Schritt nun schwer. Zu diesem tugendhaften Regiment habe sie sich genötigt gesehen, um den Makel ihrer fürstlichen Geburt zu kompensieren. Von der Beseitigung der verhassten Maria verspricht sie sich die Befreiung von diesem Zwang zur Kompensation.

(IV/11)
Davison, den sie herbeigerufen hat, berichtet, dass Shrewsbury den Aufruhr gestillt habe. Elisabeth übergibt Davison den unterschriebenen Hinrichtungsbefehl, ohne deutlich zu erklären, ob sie wünsche, dass er von Davison noch zurückgehalten oder zur Ausführung weitergegeben werde. Davison versucht vergeblich, einen eindeutigen Befehl von ihr zu erhalten.

(IV/12)
Burleigh kommt hinzu, von ihm wünscht Davison aus dem Staatsamt entlassen zu werden. Burleigh sieht den unterschriebenen Vollstreckungsbefehl und nimmt ihn gleich zur sofortigen Ausführung an sich.

Analyse

Die spiegelsymmetrische Anlage des Dramas zeigt sich vor allem in den Entsprechungen zwischen dem zweiten und dem vierten Akt.

Leicesters verräterisches Manöver gelingt, und zwar hauptsächlich wegen des Informationsvorsprunges, den er im zweiten Akt (II/8), als er noch in der Partei Marias war, gegenüber Burleigh und der Königin gewinnen konnte. Erst dieser Trumpf – dass er von dem Mordauftrag an Mortimer weiß und von dessen doppeltem Spiel, und dass Burleigh von dem Mordauftrag nichts weiß – verschafft ihm in der Auseinandersetzung mit Burleigh und der Königin die Oberhand (vgl. die Regieanweisung V. 2970). Burleigh reagiert darauf instinktsicher, wenn er vermutet, Leicester habe für diese Stärkung seiner Position selbst in unlauterer Weise Sorge getragen (V. 3015), doch attackiert er ihn an der falschen Stelle. Tatsächlich war Leicester, als er Mortimer verhaften ließ, das Risiko eingegangen, dass dieser gegen ihn aussagen könnte – er hatte sich wohl auf seine größere Glaubwürdigkeit verlassen. Dass Mortimer stirbt, kommt ihm gelegen, doch seiner Ermordung kann er nicht überführt werden. Während im zweiten Akt in der Auseinandersetzung Mortimers und Leicesters Marias Schicksal mitverhandelt wurde, spielt jetzt für Maria das Schicksal dieser Figuren kaum noch eine Rolle. Ob Leicester davonkommt oder nicht, ist wichtig hauptsächlich für Leicester.

Im zweiten Akt war, wenn sich die Königin zur Abwägung der mit ihren Beratern behandelten Frage zweimal zurückzog (V. 1455-1459, 1568-1571), ein Entscheidungsmonolog vorbereitet worden, zu dem es dann, weil Paulet hinzukam und weil sie das heimliche Zwiegespräch mit Mortimer suchte, doch nicht gekommen war. Den Monolog hält stattdessen Mortimer, der seine Position eher befestigt als festlegt. Im vierten Akt nun wird eingelöst, was im zweiten Akt vorbereitet worden war. Dadurch, dass in IV/9 Shrewsbury noch einmal für Maria Partei ergreift und Burleigh zur Gegenrede zwingt, entsteht eine der Staatsratsszene aus dem zweiten Akt (II/3) ähnliche Konstellation, die Elisabeth in dem bekannten Muster beendet (V. 3185-3189). Jetzt aber folgt der Monolog – folgt ihre Entscheidung.

Elisabeth selbst ist für das retardierende Moment im vierten Akt maßgeblich verantwortlich. In unmittelbarer Empörung über den gefunden Brief Marias an Leicester betritt sie in IV/5 die Bühne, und es scheint so, als ob nach dem Moment des Innehaltens anlässlich Mortimers Selbstmord die Dynamik des Aktbeginns wieder aufgenommen würde. Auch Elisabeth nimmt die neue Meinung über Leicester zum Anlass, die Begegnung mit Maria im dritten Akt zu thematisieren (V. 2821-2831), die so in IV/1 und IV/5 denselben unmittelbaren Bezugspunkt bildet. Und Elisabeth drängt wie Burleigh aus ihrer Erregung heraus auf einen schnellen Vollzug des Todesurteils (V. 2844 f.: »O sie bezahle mirs mit ihrem Blut! | – Sagt! Ist das Urteil abgefaßt?«).

Nachgiebig und schwach zeigt sie sich zuerst, als sie gegen den dringenden Rat Burleighs Leicester zu sich lässt, durch ihn aber erfährt sie von dem Verrat Mortimers, und diese zwar geringere Demütigung erhöht in ihr noch einmal das Verlangen, sich an Maria zu rächen (V. 3018 f.). Auch Leicester muss jetzt, um seine Position zu untermauern, die Hinrichtung beschleunigen. So steht am Schluss der sechsten Szene wieder das Leitmotiv des Akts: »Tragt Sorge, | Daß der Befehl gleich ausgefertigt werde.« (V. 3049 f.)

Erst als sie fürchtet, das wegen des Attentats wütende Volk könne sie zur Hinrichtung nötigen, beginnt Elisabeth zu zweifeln und die aus der doppelten Demütigung gewonnene Energie verpufft (IV/7-8). Shrewsbury fordert Aufschub und schürt in ihr die Furcht vor einer Meinungsänderung im Volk nach der erfolgten Hinrichtung. In ihrer Antwort imaginiert Elisabeth ihren Rücktritt vom Königsamt. Das Volk solle zwischen ihr und Maria wählen – dasselbe Volk, das gerade mit einem Aufstand droht, sollte Maria nicht rasch beseitigt werden. Ihre Unfähigkeit, das Todesurteil zu vollziehen, führt sie auf ihr weiches Herz zurück.

Der Monolog der zehnten Szene soll Aufschluss über ihre wahren Beweggründe geben.

Sie beschreibt sich in ihrem Amt doppelt unter Druck gesetzt. Von außen – damit sind die außenpolitischen Bedrohungen durch den Katholizismus, durch Spanien und jetzt auch Frankreich gemeint – und von innen aufgrund ihrer prekären dynastischen Stellung. Ihre bisherige Strategie, sich gegen diese Bedrohungen zur Wehr zu setzen, sei gewesen, sich durch ein besonders tugendhaftes, gerechtes Regiment die Gunst des Volks zu sichern. In der Volksgunst sieht sie die einzige Versicherung ihrer Macht (V. 3212 f.).

Aus dieser Selbstbeschreibung wird das Motiv ihres bisherigen Zögerns ersichtlich. Die Hinrichtung Maria Stuarts sieht sie trotz der juristischen Legitimation als Gewalttat an, die das Bild der tugendhaften, gerechten Königin, um das sie bisher bemüht war, gefährden würde. Wenn ihre Macht von der Volksgunst abhängig ist, und diese Volksgunst von ihrer vorgeblichen Tugend, bedeutete Maria Stuart hinzurichten also die Gefährdung der eigenen Machtbasis.

Dass die Gewalttat unvermeidlich ist, rührt aus einem Kurzschluss der äußeren und der inneren Bedrohung in Marias Person. Alle ihre Versuche, nach innen die Anfechtbarkeit ihres Thronanspruchs vergessen zu machen, müssen scheitern, wenn der Makel ihrer Geburt von außen in der Person Marias und ihrem Thronanspruch dauerhaft bloßgelegt wird (V. 3225-3227).

Dazu kommt nun die erotisch-persönliche Ebene. Sowohl das Verhältnis zu ihrem Geliebten Leicester wie das geplante Ehebündnis mit Frankreich sind wegen Maria zerstört worden. Hier hatte sich Elisabeth offenbar erhofft, für die Mühen ihres Amts Entschädigung zu finden. Erst auf dieser Ebene kommt Maria auch als handelnde Person ins Spiel (V. 3234 f.: »Sie entreißt mir den Geliebten, mir den Geliebten, | Den Bräutgam raubt sie mir!«). Auf der politischen Ebene war sie von den äußeren Feinden lediglich benutzt worden.

Die Erinnerung an die persönliche Demütigung aus der Begegnung im dritten Akt dient ihr am Schluss des Monologs dazu, die letzten Zweifel hinter sich zu lassen – und assoziiert kompositorisch diese beiden Schlüsselmomente des Dramas.

Von den zwei Möglichkeiten, wie Maria zu Tode kommen könnte, schien zu Beginn des vierten Akts die heimliche Ermordung ausgeschlossen zu sein. Tatsächlich gleicht sich die andere Möglichkeit, die ordnungsgemäße Hinrichtung, dieser ausgeschlossenen Möglichkeit aber an. Elisabeth wünschte die heimliche Ermordung, um selbst nicht für den Tod der Kontrahentin verantwortlich gemacht werden zu müssen. Zur Distanzierung von ihrem eigenen Entschluss findet sie nun, nachdem sie den Vollstreckungsbefehl unterzeichnet hat, mit dem Instinkt der höfisch versierten Machtpolitikerin ein anderes Mittel, wenn sie die Verantwortung Davison aufbürdet. Sie hat sich damit eine Rückzugsposition selbst für einen Fall geschaffen, den sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht voraussehen kann, der aber eintritt – dass die juristische Legitimation wegen neuer Zeugenaussagen entfällt (V/13-15).

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.