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Maria Stuart

I, 1-4

Zusammenfassung

Maria Stuart ist, seit sie von Schottland nach England geflohen ist, englische Gefangene. Momentan wird sie auf dem Schloss Fotheringhay von Amias Paulet bewacht. Ihre Haft dauert bereits lange an. Vor einem Monat wurde ihr wegen der entdeckten Verschwörung Parrys und Babingtons der Prozess gemacht. Sie erwartet ihr Urteil.

(I/1)
Vom oberen Stockwerk ist Schmuck in den Garten geworfen worden. Dies nimmt Paulet zum Anlass einer erneuten Durchsuchung in Marias Gefängnis. Marias Amme Hanna Kennedy stellt sich der Durchsuchung vergeblich entgegen. Sie verteidigt ihre Herrin, Paulet klagt sie an. Dabei kommen bereits die wichtigsten Stationen ihres Lebens zur Sprache: ihre Kindheit am französischen Hof; die früh erlangte, schottische Königswürde, die politischen und persönlichen Wirren in Schottland, so der Mord an ihrem Gatten Darnley und die Ehelichung seines Mörders Bothwell; ihr Verlust der schottischen Königswürde und ihre Flucht nach England; die in England um ihretwillen begonnenen, gescheiterten Verschwörungen, an denen sie mitgewirkt haben soll. Paulet findet Papiere und Reste ihres königlichen Brautgeschmeides. Er fürchtet, dass sie trotz aller Vorsichtsmaßnahmen aus der Haft entfliehen und sich mit Verbündeten verständigen könnte.

(I/2)
Maria kommt hinzu. Über den Verlust ihres Schmuckes geht sie souverän hinweg. Sie behauptet, die gefundenen Papiere Paulet ohnehin übergeben zu wollen. Es handelt sich unter anderem um einen Brief an die englische Königin Elisabeth, in dem sie um eine Unterredung mit ihr bittet. Neben der Bestellung dieses Briefes erbittet sie einen katholischen Priester und die Gelegenheit, ihr Testament zu verfassen. Sie sorgt sich um das Schicksal ihrer ehemaligen Bedienten und bittet Paulet, als dieser gehen will, um Informationen über den Ausgang ihres schon einen Monat zurückliegenden Prozesses. Er macht negative Andeutungen. Maria äußert Furcht davor, ermordet zu werden.

(I/3)
Paulets Neffe Mortimer tritt kurz auf, um seinen Onkel zu holen. Dabei wird deutlich, welche Abneigung Maria ihm entgegenbringt und welch falsches Bild Paulet von ihm hat: Er sei aus Frankreich ohne Gesinnungswandel zurückgekehrt.

(I/4)
Mit Kennedy spricht Maria anlässlich des Jahrestages der Ermordung Darnleys über ihre Schuld und Reue. Kennedy versucht, sie aufzumuntern, muss bei der Schilderung der Vergangenheit aber selbst eingestehen, wie entsetzlich die Eheschließung mit dem Mörder ihres Gatten gewesen sei. Nur dass sie damals von der Liebe wie besessen gewesen sei, könne sie entschuldigen. Sie betont, dass diese Verbrechen in dem laufenden englischen Prozess nicht verhandelt würden.

Analyse

Den ersten Szenen kommt im klassizistischen Drama, das auf einen separaten Prolog verzichtet, eine doppelte dramaturgische Funktion zu. In ihnen müssen einerseits die für das Verständnis der Handlung notwendigen Informationen vermittelt werden; und andererseits sind gerade sie für die Bindung der Aufmerksamkeit des Publikums und für die Erregung seines Interesses entscheidend.

Schiller gelingt es, beiden Anforderungen mustergültig zu genügen. Die Haft Marias währt bereits lange Jahre, sie ist eintönig und ereignisarm. Wie kann dieser Zustand, als Ausgangssituation der Heldin, vorgestellt werden, ohne dass die Ödnis der Haft auf der Bühne zur Langeweile wird? Es ist der für das weitere Geschehen unbedeutende Zwischenfall des vom oberen Stock her in den Garten geworfenen Schmuckes, der für die nötige Dynamisierung sorgt. Paulet sieht sich gezwungen, gegen das letzte Eigentum der Gefangenen Gewalt zu üben und die Amme Kennedy wehrt sich. Wenn der Vorhang sich hebt, ist Streit auf der Bühne. Der Vorfall wird zur plausiblen Gelegenheit, die wichtigsten Punkte der Anklage gegen Maria und ihre Verteidigung noch einmal vorzubringen.

Der verzögerte Auftritt Marias erlaubt ihre doppelte Vorstellung. Kennedy beklagt den Kontrast ihrer würdelosen Haft und ihres königlichen Ranges, sie sieht in der Entwendung des letzten königlichen Schmuckes eine weitere Entwürdigung. Wird der Zuschauer auf dieser Grundlage zur Teilnahme an dem Leiden der Hauptfigur bewegt, muss er sie, wenn sie auftritt, erst recht bewundern: denn sie tut die Beleidigung als Äußerlichkeit ab, sie findet ihre Würde offenbar anders begründet (V. 154-156). Weiter deutet sie, was sie erlitten hatte, die Entwendung ihrer Papiere, in ihre eigene Tat um: den Brief an Elisabeth habe sie Paulet ohnehin übergeben wollen. Sie nimmt die Anwesenheit Paulets zum Anlass, weitere Bitten vorzutragen, die sie als souveräne Gestalterin ihrer Situation ausweisen. Der Aufregung, die in der ersten Szene das Stück effektvoll in Gang gesetzt hatte, stellt sie sich ruhig gegenüber und zeigt sich verwundbar erst bei einem anderen, wichtigeren Punkt: wenn sie um Nachricht vom Ausgang des Prozesses bittet und Furcht vor einer heimlichen Ermordung äußert. Nach dem aus dem Fenster geworfenen Schmuck wird nicht weiter gefragt. Es bleibt unklar, ob Maria dafür verantwortlich ist.

Ein weiteres Hilfsmittel zur Vertiefung der Vorgeschichte erscheint etwas gesuchter: Zufällig ist gerade der Jahrestag der Ermordung Darnleys. Der Widerwille gegen den kurz aufgetretenen Mortimer verbindet sich in Maria mit der Erinnerung an jenen Teil ihres Lebens, mit dem sie sich, trotz kirchlicher Vergebung, nicht versöhnen kann. Schiller überlässt die Rekapitulation ihrer Vergehen Kennedy, die den Wunsch hat, Maria zu trösten, und dennoch nicht anders kann, als die Schwere der Schuld zu bestätigen. Die Amme errichtet in der Vorgeschichte Marias jene Trennlinie, die auch weiterhin verbindlich bleiben wird: In Schottland hat Maria gefehlt, von ihrer Flucht nach England an aber ist ihr Gewissen rein. Wichtig ist außerdem, dass Kennedy die Leidenschaften, die Maria in Schottland ausgelebt hat, als dämonischen, äußeren Einfluss auffasst, der mit dem Kern ihrer Persönlichkeit nichts zu tun hat. Allenfalls Leichtsinn sei ihr anzulasten (V. 358-371).

Bis zur vierten Szene sind also folgende Handlungsaspekte exponiert worden:
- Maria wartet in Haft auf das Urteil in einem vor einem Monat gegen sie wegen Mitwirkung an einer Verschwörung geführten Prozess.
- Es gibt zwei Möglichkeiten, abseits des Gerichtsverfahrens eine Änderung ihres Zustandes zu erwirken: für die Gegenpartei die einer heimlichen Ermordung; für Maria die einer direkten Unterredung mit ihrer Kontrahentin Elisabeth. Während Maria die erste Möglichkeit fürchtet, unternimmt sie zur Umsetzung der zweiten Möglichkeit einen ersten Schritt.
- Maria bereut ihre Verstrickungen am schottischen Hof, die zu ihrer Flucht nach England geführt haben. Die kirchliche Absolution beruhigt ihr Gewissen nicht. Von ihrer Flucht an hat sie sich aber nichts mehr zuschulden kommen lassen. Nur von ihrem Aufenthalt in England handelt der Prozess, die Anschuldigungen sind falsch. Sie kann sich in dieser Sache guten Gewissens verteidigen.

Gestreift werden bereits im ersten Auftritt alle sechs wichtigen Ebenen der Auseinandersetzung zwischen Elisabeth und Maria: (1) die moralische, wenn Paulet die Lasterhaftigkeit und Eitelkeit Marias anklagt; (2) die innenpolitische, wenn er Marias Festhalten am Anspruch auf den englischen Thron beklagt; (3) die konfessionspolitische, wenn er ihr unterstellt, England katholisch machen zu wollen; (4) die außenpolitische, wenn er ihre französischen Verbindungen schmäht; (5) die juristische, wenn Kennedy meint, in England könne sie nicht gerichtet werden; (6) und die geschlechtsspezifische, wenn Paulet über seine Schwierigkeiten klagt, als Gefangenenwärter gegen weibliche List und Tücke anzukommen.

Bemerkenswert ist schließlich der rasche Wechsel der Stimmungen und der Haltungen der Hauptfigur. Maria tritt würdevoll auf und behandelt Paulet durchaus im Bewusstsein ihres königlichen Ranges. Dann aber, als er gehen will, bittet sie flehentlich um Nachricht wegen des Prozesses und gibt ihre Furcht vor einem Meuchelmord zu erkennen. Dann wieder, allein mit Kennedy der Ermordung Darnleys gedenkend, zeigt sie sich reuevoll, schweigsam und zerknirscht.

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.