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Maria Stuart

I, 5-8

Zusammenfassung

(I/5-6)
Mortimer sucht Gelegenheit zu einer Unterredung mit Maria, bevor, wie er weiß, sein Onkel und Burleigh ihr das erwartete Gerichtsurteil verkünden können. Mit einem Beglaubigungsschreiben des Kardinals von Lothringen, einem Onkel Marias, überzeugt er sie von seinem Parteiwechsel. Er schildert umständlich seine Konversion in Italien. Er sei von den französischen, katholischen Unterstützern Marias ausgesandt, sie gewaltsam zu befreien, die Verschwörung stünde bereit. Dies sei das Mittel, sie vor der Vollstreckung des Todesurteils, von dem er ihr Mitteilung macht, zu bewahren. Maria zeigt sich gegenüber der gewaltsamen Befreiung skeptisch und bindet Mortimer, indem sie ihn mit einem Schreiben an Leicester betraut, in ihren eigenen Plan ein, ohne ihn ihm zu erklären.

(I/7)
Burleigh bringt Maria die Nachricht vom Ausgang des Prozesses. Maria bestreitet aus verschiedenen Gründen die Legitimität des Urteils.

(I/8)
Burleigh, beeindruckt von der Widerstandskraft Marias, versucht Paulet zur Ermordung Marias zu bewegen. Dies sei der unausgesprochene Wille der Königin. Paulet weist den Auftrag zurück.

Analyse

Mortimer ist die einzige von Schiller frei erfundene Figur, zusammengesetzt allerdings aus Einzelheiten der historischen Realität: Babington, der 1586 die Verschwörung zur Befreiung Marias anführte, war in sie verliebt, und Parry, der schon 1585 hingerichtet wurde, zum Katholizismus konvertiert und von katholischen Priestern zur Ermordung Marias nach England entsandt worden. Beide werden im Drama durchaus erwähnt.

Bisher hatte das Warten auf ein Handeln der Partei Elisabeths den zeitlichen Horizont bestimmt: das Warten auf das Gerichtsurteil und, neu hinzugekommen, das Warten auf eine Antwort auf die Bitte Marias um eine Audienz. Mortimer beschleunigt die Handlung, indem er die Verkündung des Todesurteils vorwegnimmt und Maria in den Plan zu ihrer gewaltsamen Befreiung einweiht. Die Vehemenz, mit der er auftritt, speist sich einerseits aus seiner persönlichen Hingabe an seine Mission, die sich mit der Hingabe an die katholische Sinnenwelt der Gegenreformation und mit der Hingabe an die erotische Anziehungskraft Marias in auffälliger Weise deckt. Andererseits handelt er im Auftrag einer politischen Partei, die mit der Befreiung Marias die Absicht verbindet, die englische Regierung zu stürzen und die Reformation auf der britischen Insel rückgängig zu machen: »Auferstehen würde Englands ganze Jugend, | Kein Schwert in seiner Scheide müßig bleiben, | Und die Empörung mit gigantischem Haupt | Durch diese Friedensinsel schreiten, sähe | Der Brite seine Königin!« (V. 556-560) Es handelt sich um eine breit angelegte, kontinentaleuropäische Verschwörung, die es auf einen offenen, gewaltsamen Konflikt ankommen ließe, und zu deren blindem Werkzeug der schwärmende Jüngling sich leicht hat machen lassen. Einerseits ist in ihm der subjektive, gefühlsgeleitete starke Antrieb betont, andererseits seine Instrumentalisierung durch die katholische Partei.

Durch seine Darstellung des politischen Konflikts wird deutlich, wie eng der Handlungsspielraum Elisabeths letztlich ist: selbst, wenn sie in Maria als Person Vertrauen fasste, stellte diese für sie eine tödliche Bedrohung dar, weil Frankreich, Spanien und die Jesuiten sie auch gegen ihren Willen für ihre Zwecke zu gebrauchen nicht zurückschreckten. Die Erfolgsaussichten für Marias Plan, Elisabeth in einer Unterredung für sich zu gewinnen, sind deshalb gering.

Sie, Maria, stimmt in die politische und konfessionspolitische Befreiungsrhetorik Mortimers übrigens nicht ein und rät ihm zur Flucht. Sie bleibt ihrem Plan treu und instrumentalisiert Mortimer nun ihrerseits, indem sie ihn ohne weitere Erläuterungen mit einer Nachricht an Leicester betraut.

Burleigh, der das Urteil bringt, kann sie, da sie von ihrer Verurteilung bereits weiß, gefasster entgegentreten – sie verwickelt ihn gleich in heftigen Streit. Ihre Argumentation zielt darauf ab, dem Urteil und seinem Zustandekommen die Legitimität abzusprechen und die eigentliche Ebene der Auseinandersetzung bloßzulegen. Ihre Argumente haben Gewicht: Das Gericht bestehe nicht aus Ebenbürtigen, es sei für sie, als eine Ausländerin, nicht zuständig, die Richter seien befangen – sie leite nicht Gerechtigkeit, sondern allein das Interesse des Staates, die Staatsräson, und gegen Schotten hegten sie grundsätzliche Vorurteile. Nach Abwickelung dieses ersten Argumentationsstranges verliest Burleigh endlich das Urteil und wird abermals von Maria unterbrochen: Das Gesetz, auf dessen Grundlage sie verurteilt wird, sei eigens wegen ihr geschaffen, somit die notwendige Trennung von Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung nicht gewahrt worden. Als Maria beklagt, das jedem Angeklagten zustehende Recht einer Gegenüberstellung der Belastungszeugen sei ihr verweigert worden, weicht Burleigh aus. Er wechselt von der streng juristischen auf die politische Konfliktebene, wenn er ihr Mitwirken in der kontinentaleuropäischen katholischen Partei als Klagegrund anführt. Maria geht nach anfänglichem Protest darauf ein. Das Unrecht, das ihr in ihrer Verhaftung angetan worden sei, gäbe ihr das Recht, zur Selbstverteidigung Verbündete zu suchen – wenn sie es auch in Wirklichkeit nicht getan habe. Sie sieht sich dem englischen Recht nicht unterworfen, sondern in einer Konfrontation, wie sie zwischen Staaten auf allein machtpolitischer Grundlage besteht. Die Personalisierung der Konfrontation steht erst am Schluss und ermöglicht die moralische Zuspitzung. Das Gerichtsverfahren kann als Heuchelei Elisabeth zugeschrieben werden, der es nun obliege, die eigentliche Konfliktebene offenzulegen. Maria macht sich das Pathos des moralisch integren Unterlegenen zu eigen, der auf hoffnungslosem Posten offen die Verfehlungen seiner Richter zu benennen sich nicht scheuen muss und als einzige Forderung aufrechterhält, dass der Grund für die erlittene Gewalt offen ausgesprochen werde. Im Zuge dieser Zuspitzung versäumt sie es, darzulegen, wie eine Lösung des politischen und konfessionellen Konfliktes aussehen könnte, die ihr Überleben, ihre Freiheit vorsähe. Der Reserve, mit der sie den Plänen von Mortimers Auftraggebern gegenübersteht, entspricht mithin keine eigene politische Initiative.

Beeindruckt von Marias Mut, gibt Burleigh ihren Befürchtungen nach ihrem Abgang im Zwiegespräch mit Paulet Recht: Er möchte wirklich die öffentliche Hinrichtung vermeiden und Paulet mit dem heimlichen Mord beauftragen. Dass dieser ablehnt, bedeutet nicht, dass nicht ein anderer dafür gefunden werden könnte. Paulet bestätigt außerdem die juristische Argumentation Marias, wenn er befürchtet, die Institution des Rechts könne wegen ihres offenbaren Missbrauchs zu machtpolitischen Zwecken Schaden nehmen.
- Am Ende des ersten Akts steht das Gerichtsurteil fest.
- Es zu umgehen oder seine Vollstreckung abzuwehren, laufen zwei Unternehmen parallel. (1) Der gewaltsamen, durch Mortimer betriebenen Befreiung weissagt Maria einen schlechten Ausgang, sie selbst engagiert sich dabei nicht. (2) Zur Beförderung ihres eigenen Plans hat sie durch Mortimer aber unerwartet Gelegenheit bekommen: Sie kann Leicester darin einspannen.
- Das Bestreben der Gegenseite, durch eine heimliche Ermordung die politische Öffentlichkeit zu meiden, die eine Hinrichtung erzeugen würde, ist offen zutage getreten, der erste Versuch, einen Mörder zu beauftragen, aber gescheitert. Hier kommt es nun darauf an, wer als nächstes mit dem Auftrag betraut wird.
- Zwischen Burleigh und Maria ist es zu einer ersten, direkten Konfrontation beider Parteien gekommen, allerdings ohne handlungsentscheidende Bedeutung. Maria hat die Unrechtmäßigkeit ihres Prozesses und ihrer Verurteilung darlegen können und die Offenlegung der eigentlichen Konfliktebene gefordert. Diese läge außerhalb des Rechts.
- Die politische Konfliktebene ist deutlich geworden, und mit ihr letztlich die Ausweglosigkeit von Marias Situation. Da sie selbst von der katholischen, französisch-spanischen Partei instrumentalisiert zu werden droht, um die englische Regierung zu stürzen und den Protestantismus in England wieder abzuschaffen, bleibt Elisabeth und ihrer Partei kaum eine Wahl. Maria bietet auf dieser Ebene, obwohl sie sich den katholischen Plänen gegenüber reserviert zeigt, keinen Kompromiss an.

Rhetorischer Höhepunkt des Akts ist zweifellos Marias Verteidigungsrede gegenüber Burleigh. Die entsprechende siebte Szene endet denn auch mit einem doppelten Paarreim – der Akt selbst, im achten Auftritt, nur mit einem einfachen.

Die Breite der Schilderung Mortimers findet typographisch durch die einzige Absatzbildung im Stück Ausdruck (V. 417 f., 424 f.).

Veröffentlicht am 18. April 2023. Zuletzt aktualisiert am 18. April 2023.